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Archiv "Bewertung von Risikofaktoren in der Prävention: Wie man grobe Fehler vermeiden kann" (24.01.1997)

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An Ratschlägen zur Präven- tion der koronaren Herzkrankheit herrscht derzeit kein Mangel. Werbe- broschüren, die Fachpresse, Fortbil- dungsveranstaltungen, aber auch Ex- pertengremien liefern derzeit fast täg- lich Interpretationen, wie man der häufigsten vorzeitigen Todesursache der Industriestaaten vorbeugen kann.

Doch Vielfalt ist kein Garant für Er- folg: Von den wissenschaftlichen

„Blitzlichtern“ zu Cholesterin und Blutdruck, zu Diabetes, Übergewicht und Rauchen, zu Medikamenten oder Lebensstil kommt bei den Patienten kaum etwas an. Nach den Erfahrun- gen der Europäischen Kardiologi- schen Gesellschaft werden in Europa selbst von Patienten mit symptomati- scher KHK nur zwischen 20 und 50 Prozent von ihren Ärzten konsequent nach dem Stand des Wissens beraten und behandelt.

Vor diesem Hintergrund sind die Schlußfolgerungen, die die Vertreter der „International Task Force for Pre- vention of Coronary Heart Disease“

aus den in den letzten zwei Jahren präsentierten Studien zur KHK- Prävention mit den HMG-CoA-Re- ductase-Hemmern (Statinen) ziehen, eine angenehme Abwechslung. Denn während die Diskussion um die Studi- en „4 S“, „WOS“ und „CARE“ oft den Eindruck macht, als sei erst mit den Medikamenten die LDL-Sen- kung entdeckt worden, zogen die Präventionsmediziner der „Task Force“, deren Ziel es ist, international einheitliche Empfehlungen zu ent- wickeln, auf einem Berliner Treffen einen ganz anderen Schluß: es gibt derzeit keinen Grund, die geltenden Empfehlungen zur Prävention der KHK zu ändern.

Das Kernproblem ist vielmehr, den schon seit Jahren existierenden

Richtlinien auch zur Akzeptanz in der Ärzteschaft zu verhelfen. Fatalerwei- se drohen die jüngsten Schlagzeilen zum Cholesterin aber gerade das Kon- zept in den Hintergrund zu drängen, das in der Lage ist, einen Weg durch den Dschungel der Studien, Risiko- faktoren und Meinungen zu weisen.

So sprachen sich die meisten Re- ferenten der „Task Force“ dafür aus, die geltenden Zielwerte für LDL- Cholesterin in der primären und se- kundären Prävention beizubehalten.

Diese Zielwerte fußten bislang vor al- lem auf epidemiologischen Beobach- tungen. Doch eine der Erkenntnisse der neuen Lipidsenker-Studien sei, wie Prof. T. Petersen von der Univer- sität Oslo, der Leiter der 1994 abge- schlossenen 4-S-Studie, in Berlin sag- te, „daß die Effekte der Medikamente weitgehend dem entsprechen, was die epidemiologischen Daten vorherge- sagt haben“.

Den Boden erreicht?

Auch für Prof. Rory Collins von der Universität Oxford ist „die wich- tigste Neuigkeit der Studien nicht, wie groß der Nutzen einer LDL-Absen- kung ist, sondern daß dieser Nutzen sich bereits nach etwa einem Jahr ab- zuzeichnen beginnt“. Wichtig sei aber auch, betonte Collins, daß die Stu- dienergebnisse den weitverbreitete- ten Vorbehalt entkräftet hätten, daß niedrige Cholesterinspiegel das Risi- ko für Unfälle, Mord und Selbstmord begünstigten.

Das gilt insbesondere für die im letzten Jahr abgeschlossene CARE- Studie. In ihr wurde Pravastatin an 2 081 Überlebenden eines (ersten) Herzinfarkts erprobt, deren LDL- Cholesterinwerte zu Beginn der fünf- jährigen Studie zwischen 115 und ma- ximal 174 mg/dl lagen – also in etwa dem Durchschnitt der Bevölkerung entsprachen. Während in der Prava-

statin-Gruppe das Fünfjahresrisiko für ein erneutes KHK-Ereignis im Vergleich zur Plazebogruppe von 13,2 auf 10,2 Prozent fiel, gab es keine Zu- nahme nichtkardiovaskulärer Krank- heiten oder Todesfälle.

Mit einer unangenehmen Aus- nahme: Bei zwölf der 290 mit Prava- statin behandelten Frauen wurde während der CARE-Studie Brust- krebs diagnostiziert, in der Plazebo- gruppe gab es nur einen Fall. Prof.

Frank Sacks (Harvard Medical School, Boston), der Leiter der Studie, glaubt jedoch nicht, daß das Medika- ment die Ursache dieser Häufung ist.

Sein bestes Argument ist eine weitere, allerdings noch nicht abgeschlossene Pravastatin-Studie, in der mehr als 1 500 Frauen seit vier Jahren täglich das Medikament nehmen. Laut Sacks gibt es in dieser Gruppe bislang keine Häufung von Brustkrebs.

Längere Diskussionen löste in Berlin auch eine zweite Teilanalyse der CARE-Daten aus. Nach den Ergeb- nissen, so erläuterte Sacks, brachte die Pravastatin-Therapie keinen Nutzen bei den Patienten, deren LDL-Wert unter 125 mg/dl lag. Sacks folgert dar- aus: „Es scheint, daß eine weitere LDL-Absenkung bei Ausgangswerten unter 125 mg/dl nicht erforderlich ist.“

Das würde aber bedeuten, daß der derzeit international geltende LDL- Zielwert für die sekundäre Prävention von 100 mg/dl nach oben korrigiert werden müßte. Da Sacks’ Schlußfolge- rung allerdings auf einer relativ klei- nen Zahl von Patienten beruht, plä- dierten die meisten Experten für eine Beibehaltung des bisherigen ehrgeizi- gen Zielwertes von 100 mg/dl, bis wei- tere Studienergebnisse vorliegen.

Einig waren sich die Referenten auch in einem weiteren Punkt: Die Empfehlungen zum Risikofaktor Cho- lesterin werden nur dann zu einer Ver- besserung der Prävention führen, wenn sie nicht isoliert bleiben, sondern in den Gesamtzusammenhang der KHK-Prävention eingebettet werden.

Während Studien als wichtiges Werk- zeug einer „Evidence Based Medi- cine“ die Vielfalt der Patienten auf ei- nen Risikofaktor reduzieren müssen, um überhaupt sinnvolle Aussagen lie- fern zu können, hat der Arzt in der täg- lichen Praxis genau die entgegenge- setzte Aufgabe: wenn er einem Patien-

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P O L I T I K MEDIZINREPORT

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Bewertung von Risikofaktoren in der Prävention

Wie man grobe Fehler vermeiden kann

4 S: Scandinavian Simvastatin Survival Study WOS: West of Scotland Coronary Prevention

Study

CARE: Cholesterol and Recurrent Events Trial

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ten gerecht werden will, muß er ein ganzes Bündel von Risikofaktoren im Zusammenhang beurteilen.

Im Hintergrund der Interventi- onsstudien ist in den letzten Jahren ein wissenschaftliches Konzept der KHK-Prävention gereift, das die Einzelfaktoren in diesen Zusammen- hang einbettet. Bevölkerungsstudien wie die „Prospektive kardiovaskuläre Münster-Studie“ (PROCAM) oder die amerikanische Framingham-Un- tersuchung haben gezeigt, daß einzel- ne Risikofaktoren eines Patienten nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern sich gegenseitig verstärken.

Und eine der wichtigsten Erkenntnis- se ist die Mathematik dieser Verstär- kung: Die Risikofaktoren der KHK addieren sich nicht, sondern sie multi- plizieren sich.

Gerade am Beispiel Cholesterin wird klar, wie wichtig diese Gesamt- sicht für die Beurteilung eines Patien- ten ist. Nach Lage der Daten, so Col-

lins, läßt sich durch eine Absenkung des LDL-Cholesterins von 200 auf 150 mg/dl das Herzinfarktrisiko lang- fristig halbieren. Was dieser Gewinn wirklich wert ist, hängt aber nicht al- leine vom Cholesterinwert, sondern von der Kombination seiner anderen Risikofaktoren ab.

Nach den Erfahrungen etwa der PROCAM-Studie kann das Zehnjah- resherzinfarktrisiko eines Menschen mit einem LDL-Wert von 200 mg/dl zwischen fünf und über 40 Prozent lie- gen. Folglich kann eine „Halbierung“

des Risikos, obwohl auf demselben ob- jektiven Meßwert beruhend und durch dieselbe Maßnahme erzielt, eine abso- lute Risikoreduktion zwischen 2,5 und 20 Prozent bedeuten – aus Sicht des Patienten und des Gesundheitswesens ein gewaltiger Unterschied (siehe auch nachfolgenden Artikel).

Das Beispiel zeigt, daß es für die Therapieentscheidung erst einmal gleichgültig sein kann, wo ein einzel-

ner Meßwert oder Laborparameter ei- nes Patienten liegt. Ob und wie inten- siv eine Präventionsmaßnahme ange- messen ist, läßt sich erst dann abschät- zen, wenn man das „Gesamt“- oder

„Globalrisiko“ des Patienten kennt, also die absolute Wahrscheinlichkeit, mit der er in den nächsten Jahren ei- nen Herzinfarkt erleidet. Und die Tat- sache, daß die verschiedenen Risiko- faktoren „multiplikativ“ in dieses

„Gesamtrisiko“ einfließen, zwingt da- zu, sich einen möglichst vollständigen Überblick über das Risikoprofil eines Patienten zu verschaffen, wenn man mit dem eigenen Urteil nicht zu weit daneben liegen will. „Wir sollten nicht mehr länger einen Meßwert, sondern den Patienten behandeln“, bringt es Prof. Gerd Assmann (Institut für Ar- terioskleroseforschung, Münster) auf den Punkt.

In diesem ganzheitlichen Kon- zept ist auch Cholesterin ein Faktor unter vielen. Allerdings hat alleine die

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Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 4, 24. Januar 1997 (21)

Optionen für die eigene Zukunft.Fünf Beispiele demonstrieren die Relation zwischen Risikofaktoren und Gesamtrisiko. Die Berechnungen beruhen auf dem

„PROCAM-Algorithmus“, der am Institut für Arterioskleroseforschung in Münster entwickelt wurde.Patient „X“ist ein 55jähriger „Durchschnittsdeutscher“: seine Risikofaktoren (Einzelwerte siehe Tabelle)sind so gewählt, daß sein Zehnjahresinfarktrisiko (rot) von zehn Prozent dem Durchschnitt seiner Altersgruppe entspricht.

Farbige, kleine Säulen: Änderungen der Höhe illustrieren, wie sich die einzelnen Risikofaktoren im Vergleich zu „X“ verändern.

„Gesünderer“ Lebensstil:Die Person ist Nichtraucher. Darüber hinaus sind im Vergleich zu „X“ die einzelnen Risikofaktoren so reduziert, wie es ohne Medikamente nur durch Lebensstiländerungen zu erreichen ist. Obwohl die Unterschiede im einzelnen moderat ausfallen, beträgt das Gesamtrisiko nur noch drei Prozent. Isolierte LDL-Absenkung:Bei einer Reduktion um 50 mg/dl liegt das Gesamtrisiko bei fünf Prozent. „Ungesünderer“ Lebensstil:Im Vergleich zu „X“ ist jeder einzelne Risikofaktor nur moderat erhöht. Das Gesamtrisiko verdoppelt sich auf 20 Prozent. Isolierte LDL-Erhöhung: Bei einer Erhöhung um 100 mg/dl liegt das Gesamtrisiko bei 40 Prozent. Bei starken Abweichungen kann ein Risikofaktor das Gesamtrisiko praktisch alleine bestimmen.

Die Arbeitsgruppe von Prof. Assmann arbeitet derzeit daran, dieses Risikofaktormodell so umzusetzen, daß es als Software auf dem Praxis-PC auch dazu eingesetzt werden kann, einem Patienten seine Optionen anschaulich zu machen. Die aktuelle Version berücksichtigt neun Risikofaktoren. Neben den sechs in der Tabelle beschriebenen sind das: Diabetes mellitus (ja/nein), Angina pectoris (ja/nein) und Familienanamnese für Herzinfarkt (ja/nein).

Grafik

Der Einfluß der Risikofaktoren auf das Gesamtrisiko

Risikofaktor Variante 1 2 X 3 4

Alter 55 55 55 55 55

Sys. Blutdruck (mm HG) 130 140 140 155 140 LDL-Cholesterin (mg/dl) 140 100 150 162 250 HDL-Cholesterin (mg/dl) 48 45 45 41 45 Triglyceride (mg/dl) 90 120 120 206 120

Raucher nein ja ja ja ja

Zehnjahresrisiko 3 % 5 % 10 % 20 % 40 %

40%

20%

10%

5%

3%

1: „ Gesünderer“ Lebensstil 2: LDL-Absenkung Patient X 3: „ Ungesünderer“ Lebensstil 4: LDL-Anhebung

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Zahl der Forscher, die sich seit Jahr- zehnten mit diesem einen Risikofak- tor beschäftigen, zu einem massiven Wissensvorsprung geführt. Wegen die- ser Datenbasis ist LDL-Cholesterin in die höchste von vier „Güteklassen“

aufgerückt: es zählt neben Rauchen, Blutdruck, Linksventrikuläre Hyper- trophie und Thrombogenese zu den Faktoren, bei denen ein Nutzen der Intervention nachgewiesen ist.

Bei anderen Risikofaktoren der KHK – z. B. Diabetes, Bewegungs- mangel, HDL-Cholesterin oder Über- gewicht – fehlen entweder noch ähn- lich zuverlässige Interventionsstudi- en, oder sie sind wie Geschlecht, Alter und familiäre Vorbelastung nicht mo-

difizierbar. Längst gibt es Versuche, das Wissen über Stärke und Einfluß der bekannten Risikofaktoren in ein für den Praxisalltag geeignetes mathe- matisches Modell zu übersetzen, mit dem das Gesamtrisiko abgeschätzt werden kann. Solche Formeln erlau- ben zumindest eine grobe Zuordnung eines Patienten in Risikogruppen. Die Grafik verdeutlicht an einigen Bei- spielen, daß diese Formeln zwar nicht überschätzt werden dürfen, aber in der täglichen Praxis ein hilfreiches Werkzeug sein können.

Obwohl dieses Konzept, Ziele und Intensität der Prävention nicht an Meßwerten, sondern am Gesamtrisiko zu orientieren, schon in seiner derzeiti-

gen Version eine Reihe von Fallen um- geht, ist es sicher nicht perfekt. Sein größter Mangel ist, daß die Liste der Risikofaktoren noch Lücken aufweist.

Je nach Definition fallen zwischen zehn und 50 Prozent der Herzinfarkt- kandidaten durch das Sieb der bislang identifizierten Faktoren.

Wer das Gesamtrisikokonzept an- wendet, muß sich darauf einstellen, daß es in Zukunft um „neue“ Risiko- faktoren erweitert und ergänzt werden wird. In einer Hinsicht ist aber auch die jetzige Version eine wichtige Hilfe: Es liefert dem Arzt einen Maßstab, an dem er die Qualität der täglichen Präventionsempfehlungen beurteilen

kann. Klaus Koch

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S

chulmedizin ist eine Erfah- rungsmedizin. Im Gegensatz zu den Dogmen der „gläubigen Medizin“, deren Schulen „ewi- ge Wahrheiten“ verkünden, ist das Anspruchsdenken in der wissen- schaftlichen Medizin wesentlich ge- ringer, da bestätigende Resultate nur vorläufig gelten, so lange, bis Wider- sprüche auftreten und der bislang gel- tende Ansatz neu durchdacht werden muß. Die Möglichkeit von Irrtümern wird – zumindest von den kritischen Vertretern der wissenschaftlichen Medizin – eingeräumt.

Sie beginnt mit dem Sammeln von Erfahrungen durch In-vitro- und In-vi- vo-Versuche, durch Tierexperimente, klinisch-pharmakologische Versuche an gesunden Probanden und durch kontrollierte klinische Studien an Pati- enten. Diese wissenschaftliche Erfah- rung ist Fremderfahrung. Jeder Thera- peut ist heute darauf angewiesen, die- se Fremderfahrung zu nutzen.

Seine eigenen allgemeinen Le- benserfahrungen und seine persönli- che ärztliche Erfahrung als „die Sum- me getrübter Erinnerungen“ (2) hel- fen selten wirklich weiter, „denn man weiß, wie trügerisch . . . Erinnerungen sind, wie gerade die auffallenden, ex- zeptionellen Fälle am meisten sich ein-

prägen, wie gern die Fälle im Gehirn sich mit der Zeit verdoppeln und ver- dreifachen und wie es auf die subjek- tive Stimmung ankommt, ob man die Erfahrung häufig oder selten gemacht zu haben glaubt“ (19). Selbst der

„Konsens“ von Experten – von der Pharmaindustrie oft initiiert – kann deren Ratlosigkeit meist nur schlecht verdecken.

Die Zulassung von Arzneimitteln beruht – nach jahrelangen Untersu- chungen – letztlich auf den Ergebnis- sen klinischer Studien der Phase III.

Zulassungsbestimmend sind in der Regel allerdings nur Surrogatkriteri- en – wie Blutdrucksenkung, Glucose- profil, Regulierung einer Dyslipo- proteinämie, diuretische Wirkung, Ejektionsfraktion, antiarrhythmische Wirkungen, Tumorresponse, Zahl der T-Helfer-Zellen oder der intraokuläre Druck. Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre haben uns aber gelehrt, daß sich diese Surrogatkriterien in der Folge – weil oft nicht tragfähig – als problematisch herausstellen können.

Denken wir an die Diskussion um die Kalzium-Antagonisten als „Herzens- brecher statt Herzensretter“ (10), an die aufschreckenden Ergebnisse der INTACT- (9), der CAST- (4), der SWORD-Studie (17) und andere.

Ganz zu schweigen vom Chaos vieler klinisch-onkologischer Studien.

Die einzig relevanten Kriterien zur Beurteilung einer Therapie lauten deshalb: Wird die Mortalität gesenkt?

Wird die Morbidität vermindert?

Wird die Lebensqualität verbessert?

Diese Probleme werden aber meist erst nach der Zulassung im Rahmen von Phase-IV-Studien (multizen- trisch, prospektiv, plazebokontrol- liert, randomisiert, doppelblind) ge- klärt. Auf diese Art von Studien be- zieht sich der neue Terminus „Evi- dence Based Medicine“, der mit „an- gewandter klinischer Studienmedi- zin“ plausibel übersetzt wird (7).

Die Tabelle enthält einige jüngere Beispiele. Der Übersichtlichkeit hal- ber wurde nur das primäre Zielkrite- rium „Mortalität“ aufgenommen; auf Nebenkriterien wurde verzichtet.

Die Quintessenz aller Veröffent- lichungen ist die sogenannte Risi- koreduktion, die sowohl in hochran- gigen wissenschaftlichen Zeitschrif- ten als auch in Firmenprospekten usw. dominiert und oft erstaunlich ho- he Werte zwischen zehn und 60 Pro- zent ergibt. Bei dieser Zahl muß man aber im Hinterkopf behalten, daß es sich um ein sehr merkwürdiges ma- thematisches Konstrukt handelt,

„Evidence Based Medicine“

Unentbehrlich, aber kritisch werten

Frank P. Meyer

(4)

nämlich um den Prozentwert eines Prozentwertes.

Am Beispiel der 4-S-Studie sei das erläutert. Deren Ergebnis war, daß eine fünfjährige Behandlung mit dem HMG-CoA-Reductase-Hemmer Simvastatin die Sterblichkeit um „3,3 Prozent“ reduziert. Gemeint ist damit der Unterschied der Mortalität zwi- schen den Patientengruppen unter Verum und unter Plazebo. Während der fünfjährigen Studie starben in der Plazebogruppe nämlich 11,5 Prozent der Patienten, in der Simvastatingrup- pe jedoch nur 8,2 Prozent (siehe Tabel- le). Diese Differenz von 3,3 Prozent wird aber dann zu einer „Risikoreduk- tion“ von 28,7 Prozent hochstilisiert, wenn man die Mortalität der Plazebo- gruppe gleich 100 Prozent setzt.

Solange auch die Originaldaten zur Verfügung stehen, kann man ge- gen diese Berechnung der Risikore- duktion keinen Vorwurf erheben. In vielen Firmenprospekten fehlen diese Originaldaten aber, und dann ist die

„Risikoreduktion“ Falschmünzerei.

Die Ehrlichkeit gegenüber dem Pati-

enten gebietet es, ihm zu sagen, wie groß sein absolutes Risiko für ein Er- eignis ist (siehe vorstehenden Arti- kel). Ihn interessiert gerade jene Dif- ferenz der Mortalität, die in der Regel nicht explizit publiziert wird, die man sich aber leicht selbst errechnen kann.

Wenn in der SAVE-Studie unter Pla- zebo 275 von 1 116 Patienten sterben, sind das 24,6 Prozent. Wenn unter Verum nur 228 von 1 115 Patienten sterben, sind das 20,4 Prozent. Daraus ergeben sich 4,2 Prozent als Differenz der Mortalität.

An einem letzten Beispiel, der WOS-Studie, soll gezeigt werden, wie wichtig dieser Unterschied zur Beur- teilung einer Therapie in der Praxis ist. Das Ziel der WOS-Studie war es, den Nutzen der Primärprävention mit dem Lipidsenker und Cholesterinsyn- these-Hemmer Pravastatin zu bele- gen, also die Menschen zu „heilen“, die zwar erhöhte Cholesterin-Werte haben, aber diese Werte nicht spüren und gesund sind.

Das Ergebnis der Studie war eine beeindruckend hohe Risikoreduktion

von 21,9 Prozent.

Die Letalitätsdiffe- renz zwischen der Plazebo- und der Pra- vastatin-Gruppe be- trug aber nur 0,9 Pro- zent (siehe Tabelle).

Mit anderen Worten:

Von 1 000 über fünf Jahre mit Pravastatin behandelten gesun- den Menschen (die jedoch einen auffälli- gen Laborwert auf- weisen) sterben 32, unter Plazebo sind es 41. Im Umkehr- schluß heißt das: Um in fünf Jahren neun Patienten zu retten, müssen 991 Men- schen ebensolange vergeblich mit Pra- vastatin behandelt werden.

Das ist nicht nur ein finanzielles Pro- blem (bei einer 20-mg- Dosis kostet Prava- statin für einen Pati- enten etwa 6 000 DM, ,,Rote Liste“ 1996), sondern auch ein Problem der Gesundheitserziehung und der Sicher- heitspharmakologie. Cholesterinsyn- these-Hemmer sind relativ junge Me- dikamente, über deren Nebenwirkun- gen und Interaktionen erst noch Er- fahrungen gesammelt werden müssen.

Schlußfolgerung: Evidence Based Medicine ist wichtig und unumgäng- lich für eine rationale Therapie. Sie darf aber nicht zu einem Dogma in der Medizin werden (5). Kritisches indu- strieunabhängiges, klinisch-pharma- kologisches Denken ist gefragt. Salus aegroti suprema lex!

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-146–148 [Heft 4]

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Frank P. Meyer Institut für Klinische Pharmakologie Otto-von-Guericke-Universität Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg A-148

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

(24) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 4, 24. Januar 1997 Tabelle

Evidence Based Medicine (Studienbeispiele)

Studie Plazebo Verum Mortalität Differenz Lit.

N N Plazebo Verum Mortalität Risikore-

n % n % % duktion%

CONSENSUS 126 127 66 52,4 46 36,2 16,2 30,9 16

SAVE 1116 1115 275 24,6 228 20,4 4,2 17,1 12

CCS-1 6820 6814 654 9,4 617 9,0 0,4 4,2 3

LIMIT 2 1157 1159 305 26,4 263 22,7 3,7 14,0 18

U.S. Carvedilol 398 696 31 7,8 22 3,2 4,6 59,0 11

4 S 2223 2221 256 11,5 182 8,2 3,3 28,7 14

WOS 3293 3302 135 4,1 106 3,2 0,9 21,9 15

CARE 2078 2081 196 9,4 180 8,6 0,8 8,5 13

CONSENSUS – Cooperative North Scandinavian Enalapril Survival Study (Effizienz von Enalapril bei schwerer Herzinsuffizienz)

SAVE – Survival and Ventricular Enlargement (Effizienz von Captopril bei der Reinfarktprophylaxe) CCS-1 – Chinese Cardiac Study (Effizienz von Captopril bei Verdacht auf Herzinfarkt)

LIMIT 2 – Second Leicester Intravenous Magnesium Intervention Trial (Effizienz von Magnesium bei der Rein- farktprophylaxe über 6 Wochen)

U.S. Carvedilol – U.S. Carvedilol Heart Failure Study Group (Effizienz von Carvedilol bei Herzinsuffizienz über 6 Monate)

4 S – Scandinavian Simvastatin Survival Study (Nutzen der Sekundärprävention durch Simvastatin)

WOS – West of Scotland Coronary Prevention Study (Nutzen der Primär-[Sekundär-]Prävention durch Pravastatin) CARE – Cholesterol and Recurrent Events Trial (Nutzen der Sekundärprävention durch Pravastatin)

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