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Archiv "Gesundheit und Krankheit in ihren verschiedenen Aspekten" (22.05.1980)

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Aufsätze -Notizen

Heft 21 vom 22. Mai 1980

Gesundheit und Krankheit

in ihren verschiedenen Aspekten

Rudolf Gross

Unser ärztliches Handeln wird — bewußt oder unbewußt — ent- scheidend bestimmt von unse- ren Vorstellungen über Gesund- heit und Krankheit ... Jede Art von Kommunikation zwischen Ärzten, Kostenträgern, Rechts- pflegern ist nur auf der Grundla- ge einheitlicher und gemeinsa- mer Begriffe möglich. Alles an- dere führt zum Turmbau von Babel.

(19

An anderer Stelle habe ich die drei bis heute angebotenen Gruppen von Lösungen ausführlich behandelt (20), so daß ich mich hier auf ihre Aufzählungen beschränken kann:

C) Im logischen Sinn durch willkür- lich gewählte, semantisch korrekte Definitionen;

C) In der Medizin-Philosophie durch die Kennzeichnung als Grundkate- gorien, die einer weiteren Auflösung oder Erklärung nicht zugänglich sind;

® In der praktischen Medizin und der Rechtsmedizin durch einen still- schweigenden Consensus omnium über Grundbegriffe, die zum Bei- spiel der Gesetzgeber niemals defi- niert hat, aber laufend durch Ge-

setze, Verordnungen und derglei- chen in Einzelheiten ausführt. Dies alles gilt übrigens keineswegs nur für das Recht und auch nicht nur für die europäischen Länder. Der ameri- kanische Mediziner und Medizin- theoretiker Murphy (37) hat sich die Mühe gemacht, jeweils sechs füh- rende anatomische und physiologi- sche Textbücher seines Landes durchzusehen; er fand in keinem ei- ne Definition der Normalität oder auch nur einen Ansatz dazu.

Einheitliche Begriffe und die damit verbundenen Definitionen sind aber unerläßlich:

0 Für diagnostische und therapeu- tische Maßnahmen, das heißt für die einheitliche Behandlung der Kranken;

© Für die Kommunikation mit Kolle- gen, Versicherungen, Rechtsvertre- tern;

®

Als bewußte oder unbewußte Grundlage einer jeweils eigenen Me- dizintheorie, in der verständlicher- weise die Vorstellungen über Ge- sundheit und Krankheit entschei- dend sind (7, 18, 41, 45 u. a.).

Dabei geht es nicht so sehr um wahr oder falsch im wissenschaftlichen Sinn, sondern um die Eignung für den praktischen Gebrauch, also um Nützlichkeit oder Unbrauchbarkeit (19).

*) Die in Klammern stehenden Ziffern bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis des Sonderdrucks.

Einige definitorische

Schwierigkeiten und Grenzfälle Vermutlich gibt es keine alles dek- kenden und allen Fachrichtungen nützlichen Begriffe der Gesundheit, der Normalität oder der Krankheit.

Jedenfalls habe ich bis heute keine solche gefunden. Gottschick (16)*) kommt sogar (allerdings nach einer Anzahl ziemlich einfacher Defi- nitionsversuche) zu der Schlußfol- gerung: „Wenn aber die Erfahrung und das Vermögen der Begriffsbil- dung nicht ausreichen, um die Be- griffe Gesundheit und Krankheit den strengen formal-logischen Anforde- rungen entsprechend zu definieren, können sie auch kaum irgendwel- chen konkreten Zwecken im Erfah- rungsbereich dienen .. ."

(2)

Krank (patholo -

gisch) Darstellung 1

Gesund (normal)

Ohne Mit

Krankheitswert Zwischenbereich Konstitutionelle Anomalien Erworbene Anomalien

Grenzfälle und Extremvarianten

Gerade im Licht der Brauchbarkeit für die praktische Medizin sind noch zwei Bemerkungen erforderlich (Darstellung 1): Gesundheit und Krankheit sind keine Alternativen, sie sind keine dichotom voneinan- der abgrenzbaren Begriffe, wie das heute leider noch in vielen Arbeiten

— auch aus dem Bereich der Labora- toriumsmedizin — unterstellt wird.

Wenn überhaupt irgendwo, so gilt hier das berühmte Wort Carl Fried- rich von Weizsäckers (49): „Trennen ist eine dem menschlichen Geist notwendige Operation; aber alle blo- ße Trennung ist künstlich. Das Dis- krete ist nur gedacht; Kontinuität ist ein Merkmal der Wirklichkeit ...".

Extremvarianten können die Lei- stungsfähigkeit und Anpassungsfä- higkeit des Trägers mehr oder min- der beeinträchtigen; dann haben sie Krankheitswert im Sinne der noch zu gebenden Definitionen. Sie brau- chen aber überhaupt keinen Einfluß

Darstellung 2: Vegetative Dy- stonie und Hyperthyreose

Normal:

Ausgeglichenes vegetatives System

Sympathicotone vegetative Dystonie

Grenzwertig:

„B-Typ" nach von Bergmann leichte Hyperthyreose

Pathologisch:

Fakultative Hyperthyreose Vollbild Morbus Basedow

auf die Arbeits- und Genußfähigkeit zu haben, dann liegen bedeutungs- lose Anomalien im Sinne des Wortes

„Anomalös = Ungleich, nicht mit dem Durchschnitt übereinstim- mend" vor (19).

Dabei müssen wir allerdings in Be- tracht ziehen, daß die meisten Funk- tionen und Stoffwechselparameter auf Vita-maxima-Bedingungen ein- gestellt sind. Klinische Störungen, zum Beispiel Blutungen oder eine Claudicatio intermittens, stellen sich gewöhnlich erst dann ein, wenn 20 bis 40 Prozent der beim Gesunden maximal möglichen Leistung unter- schritten werden. Gerade in diesem Licht gewinnen sinnvolle Kombina- tionen von Laborparametern oder

Belastungstests ihre diagnostische Bedeutung und zugleich (wenn ge- zielt angewandt) ihre Rechtferti- gung.

Dazu einige klinische Beispiele:

Wie die Darstellung 2 zeigt, gibt es fließende Übergänge von den meist parasympathikoton bestimmten, sattsam bekannten vegetativen Dys- tonien über einen hohen Sympathi- kotonus (zum Beispiel als leichter Hypertonus oder als hyperkineti- sches Herz-Syndrom) über die soge- nannten B-Typen nach von Berg- mann bis zu fakultativen Hyperthy- reosen (34) oder manifestem Mor- bus Basedow. Was ist von einer al- leinpersistierenden Hyperbilirubin- ämie nach Hepatitis, von einer iso- lierten Proteinurie nach Glomerulo- nephritis zu halten? Sie haben nach allen bisherigen Kenntnissen in die- ser Form keinen Einfluß auf Lebens- erwartung und Leistungsfähigkeit des Probanden.

Gesundheit und Krankheit

Umgekehrt: Wie sind die so häufi- gen Defektheilungen nach aplasti- schen Syndromen zu bewerten? Un- ter Dauerbehandlung mit Anabolika, Kortikosteroiden und anderen hal- ten sie sich über Jahre mit Erythro- zytenzahlen von 3 bis 4 Millionen, mit Granulozytenwerten von 1000 oder 1500, mit Thrombozytenzahlen von 60 000 oder 100 000 — also durchweg oberhalb der kritischen Grenzen. Sie sind nicht gesund, aber sie stehen im Beruf oder in der Berufsausbildung, ja sie treiben so- gar Sport. Wie steht es aber in sol- chen Fällen bei jungen Mädchen zum Beispiel mit der Ehe?

Das sind die Probleme unserer Sprechstunde, nicht die Besucher mit eindeutig pathologischen Befun- den, nicht die Besucher, an denen auch eine gründliche Untersuchung nichts Krankhaftes entdecken läßt.

In einigen neueren anglo-amerikani- schen Arbeiten wird auch der Begriff der .Non-Diseaseeingeführt, den nur Streß, Emotionen oder Frustationen, aber auch falsche Labordaten in die Sprechstunden führen (24, 47). Hier würde ich sagen: Behandlungsbe- dürftigkeit kann bestehen, aber die- se Fälle gehören in unserer Defi- nition auf die Seite der Gesunden, nicht auf die Seite der Kranken. Da- gegen erscheint mir die Differenzie- rung zwischen lllness und Disease (2, 10) recht fruchtbar. Die nicht ganz treffende deutsche Überset- zung wäre vielleicht sinngemäß Lei- den und Erkrankung.

Daneben umfaßt Illnessalle jene Lei- denszustände, die mehr subjektiv empfunden werden, zur Behandlung führen und der Umgebung unge- wohnte Reaktionen verständlich ma- chen, aber als solche kein Korrelat in meßbaren Störungen erkennen lassen.

Nach diesen Vorstellungen braucht im Sinne unserer Ausführungen Dis- ease nicht zu einer Störung des Be- findens oder des Kontaktes mit der Umgebung zu führen, doch gibt es einerseits fließende Übergänge, an- dererseits nicht ganz einheitliche Begriffe (10).

1398 Heft 21 vom 22. Mai 1980

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(3)

0 Zu den Krankheiten

Damit sind wir schon mitten in der Definition der Krankheit. Stimmt die Formulierung „Krankheit, das ist ein so vielgestaltiger Begriff unserer Existenz, daß vor dessen Definition nur die Versicherungsjuristen und die Medizinsoziologen nicht zurück- schrecken . . .".

Ich meine bei aller Anerkennung der Problematik, daß der Autor (14) es sich damit etwas zu leicht gemacht hat. Wie ich schon einleitend beton- te, wird unser ärztliches Handeln — bewußt oder unbewußt — entschei- dend bestimmt von unseren Vorstel- lungen über Gesundheit und Krank- heit. Auch ohne den Rückgriff auf die moderne Linguistik sei wieder- holt, daß jede Art von Kommunika- tion zwischen Ärzten, Kostenträ- gern, Rechtspflegern nur auf der Grundlage einheitlicher und ge- meinsamer Begriffe möglich ist.

Alles andere führt zum Turmbau von Babel!

Wie immer, ist der historische Zu- gang, das heißt der kurze Nachvoll- zug langer Entwicklungsperioden, der einfachste. Ich habe statt der zum Teil ausgezeichneten medizin- historischen Übersichten (1, 12, 23, 28, 40, 44, 45, 46) versucht, in einer stark vereinfachten und ziemlich summarischen Tabelle nach Riese (40) die wichtigsten Entwicklungen zusammenzufassen (Darstellung 3).

Die Tabelle soll nur zwei Momente verdeutlichen:

C) Daß es eine gewisse Entwicklung von Vorstellung zu Vorstellung mit ihrer unvermeidlichen Einseitigkeit gegeben hat;

0

Daß im Grunde alle früheren Kon- zepte in den heutigen Vorstellungen fortbestehen.

Betrachten wir etwa die Vorstellung Senecas über die Krankheit (43), so fehlt seiner Trias „Metus mortis, do- lor corporis, intermissio volupta- tum" nur noch das moderne Labora- torium.

Die heutige Krankheitsvorstellung läßt sich über die Mathematik und Logik aus der Kasuistik ableiten (Darstellung 4). Mit anderen Worten:

Der Einzelfall gehört zu einer Klasse von Erscheinungen. Diese lassen sich taxonomisch (Darstellung 5) zu Gruppen, in diesem Fall zu Krank- heitseinheiten zusammenfassen.

Good und Card haben, die moderne Taxonomie überspitzend, sogar die Krankheit als nichts anderes defi- niert denn eine Wolke (Cluster) pri- mitiver Ereignisse im Körper des Pa- tienten (15).

Hier sei zunächst eine einfache eige- ne Definition des Krankheitsbegrif- fes gegeben (Darstellung 6), sozusa- gen eine Art von Raster für die feine- ren Analysen.

Damit ergibt sich von selbst auch die Abtrennung der Krankheiten von den Syndromen (Darstellung 7), die entweder verschiedene oder unbe- kannte Ursachen haben, oder über deren Ursache wir, das heißt die Me- dizin als Ganzes oder wir persönlich am Krankenbett, noch nichts Siche- res wissen. Damit sind Syndrome der weitere und unverbindlichere Ausdruck.

Ich stimme damit ziemlich genau mit dem verdienstvollen Vertreter des Syndrombegriffes, Prof. Leiber (30, 32), überein. Er hat treffend die Syn- drome als Krankheiten im Warte- stand bezeichnet. Der Wartestand bezieht sich auf die Medizin als Wis- senschaft ebenso wie auf den einzel- nen Fall in unserer Ordination.

Wir haben uns nach diesen Grund- begriffen mit einigen Einwänden auseinanderzusetzen und werden dabei vielleicht zu einer zugleich umfassenderen und genaueren Defi- nition der Krankheiten kommen. In Darstellung 4 waren wir von der Ka- suistik, also vom einzelnen Kranken ausgegangen. Kranke sind eine Rea- lität. Sind Krankheiten Realitäten oder Fiktionen? (29). Hier kommt ein Streit zum Ausdruck, der bis auf Hip- pokrates und die Schule von Kos einerseits, Platon und die Schule von Knidos andererseits zurück- reicht. Der französische Kliniker

Differenzierung des Krank- heitsbegriffes*)

Präexistente Anlagen (Stoa) Kosmologisches Konzept (Platon)

Frühe Anthropologie (Hippo- krates)

Naturgeschichtliche Konzep- tion (Baglivi)

Physiologische Konzeption (Galen)

Anatomische Konzeption (Ve- sal, Morgagni u. a.)

Ätiologische Konzeption (Kant u. a.)

Soziale Konzeption (Marx u.

a.)

Psychologische Konzeption (Freud u. a.)

Ontologische Konzeption (Sy- denham u. a.)

Biographische Konzeption (Weizsäcker u. a.)

Metaphysische Konzeption (Pascal u. a.)

*) Stark vereinfacht und modifiziert nach W. Riese

Darstellung 4: Stufen der Er- fassung von Krankheiten

A System von Krankheiten

Taxonomische Zuordnung Darstellung einer Klasse (wenigstens ein gemeinsa- mes Merkmal)

Kasuistik

Trousseau hat diesen jahrtausende- alten Disput auf die kürzestmögliche Formel reduziert: „Es gibt nur Kran- ke — es gibt nur Krankheiten" (17).

Es bedarf keiner weiteren Erörte- rung, daß die Einführung von Krank- heitsbegriffen eine Abstraktion vom Einzelfallbedeutet, unbeschadet der Einmaligkeit und Unwiederholbar- keit aller Eigenschaften, Beschwer- den, Erscheinungen eines kranken Menschen. Dies ist übrigens keine

(4)

Darstellung 5

Darstellung 6

Eine Krankheit ist

eine Gruppe in sich gleichartiger abnormer Erscheinungen, von einheitlicher und bekannter Ursache,

von anderen abgrenzbar

Darstellung 7

Ein Syndrom ist

eine Gruppe in sich gleichartiger Erscheinungen von aktuell unbekannter Ursache, oder:

von generell unbekannter Ursache, oder:

von bekannt verschiedener Ursache, von anderen nicht sicher abgrenzbar

Leistung oder Fehlleistung der me- dizinischen Nosologie: Die Einheit und die Gemeinsamkeit von Merk- malen beruht immer auf Abstraktion und nicht auf unmittelbaren und rea- len Eigenschaften (33). Wie man ab-

strahiert, hat Leiber (30, 31, 32) in nicht mehr zu übertreffender An- schaulichkeit gezeigt, indem er die Gesichtszüge normaler und kranker junger Mädchen übereinander foto- grafierte; er entfernte damit das lndi-

Gesundheit und Krankheit

viduelle und hob die jeweils gemein- samen Merkmale von Normen und konstitutionellen Störungen hervor.

Der amerikanische Medizin-Philo- soph Engelhardt (9) hat kürzlich das Problem von Realität und Fiktion wie folgt gekennzeichnet: „Krank- heiten existieren, aber weder als sol- che in sich selbst noch als eideti- sche Typen" (das heißt für mich im Husserlschen Sinn: nicht als attri- butfreie Urbilder). Krankheiten sind nach Engelhardt ein Versuch, Sym- ptomwolken, also die bereits ge- nannten Cluster, mit Ursachen für Erklärungen, Voraussage, Beherr- schung zu korrelieren (9).

Wenn wir freilich unsere derzeitigen Krankheitsbezeichnungen ansehen (Darstellung 8), von denen wir alle genügend Beispiele kennen, so sind wir noch weit von den angesproche- nen Idealen entfernt.

Es handelt sich um eine bunte Mi- schung historisch bedingter Begrif- fe, um reine Deskriptionen, bis zu pathologisch-anatomischen oder kausalen Bezeichnungen, die in vie- len Fällen schon einen unerlaubten Analogieschluß darstellen (18).

Es ist das Verdienst der WHO, ein- zelner Fachgesellschaften und For- scher, daß sie allmählich über Kom- missionen Ordnung in die Krank- heitsdefinitionen brachten und brin- gen, ferner, daß sie daraus Krank- heitsschlüssel erarbeiteten. Die be- kanntesten sind das internationale Verzeichnis (ICD) sowie der im deut- schen Sprachraum besonders ver- breitete klinische Diagnoseschlüssel (KDS) von Immich (26). Durch inter- nationale Vereinbarungen werden immer mehr Krankheiten genau be- zeichnet (definiert), die Bezeichnun- gen vereinfacht (standardisiert), ähnliche Bezeichnungen oder Syn- onyma zugeordnet (charakterisiert).

Man sollte diese Definitionen minde- stens als Grundlage benutzen und kann den drei bis fünf Grundzahlen ohne Veränderung Zahlen einer ei- genen Differenzierung oder zusätzli- che persönliche Notationen anfügen (26).

1400 Heft 21 vom 22. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(5)

Darstellung 9: Biomedizinischer Krankheitsbegriff*) Reduktionistisch:

Alles kann auf molekular-biologi- sche Störungen reduziert werden

(Analytisch-naturwissenschaftli- che Definition)

*) modifiziert nach Engel

Exklusionistisch:

Was nicht naturwissenschaftlich erklärbar, gehört nicht zum Krankheitsbegriff, sondern zu Störungen des psychologischen oder sozialen Bezuges

Synthetische oder psychosomati- sche Definition

Wie schwierig die Erarbeitung sol- cher Schlüssel in internationalen Kommissionen ist, zeigen am besten die malignen Lymphome. Für die Klassifikation des Morbus Hodgkin wird der sogenannte Ann-Arbor- Schlüssel heute wohl weltweit aner- kannt und benutzt. Für die Non- Hodgkin-Lymphome reisen die inter- nationalen Experten seit etwa fünf Jahren von Konferenz zu Konferenz, ohne daß bis Anfang 1980 eine allge- mein akzeptierte Einteilung entstan- den wäre.

Damit kommen wir zu zwei Aspekten der Krankheitsbezeichnungen, die schon an die Grenzen der Weltan- schauung, mindestens der ärztli- chen Grundhaltung, rühren (Darstel- lung 9):

(j) Lassen sich alle Krankheitser- scheinungen auf bekannte oder un- bekannte molekularbiologische Ur- sachen, also auf Biochemie und Bio- physik beziehen? Oder gibt es da- von gänzlich unabhängige psycho- somatische und psychosoziale Krankheitsursachen? Diese Frage spaltet nicht nur die Psychiater in zwei Parteien. Daran ändert auch der mutige Versuch von Engel (8) nichts, ein einheitliches —wie er sag- te: ein biomedizinisches — Krank- heitskonzept zu schaffen.

© Betrachten wir die Krankheits- vorstellungen als Ganzes, so können wir zur Zeit drei große Gruppen un- terscheiden (Darstellung 10):

a) Biographische Konzepte;

b) Ontologische Konzepte;

c) Operationale Konzepte.

Die biographischen Konzepte sind untrennbar an das Werk von Viktor von Weizäcker (50, 51) gebunden.

Sie werden verständlicherweise vor allem dort gepflegt und fortentwik- kelt, wo es sich vorzugsweise um psychosomatische oder somatopsy- chische Störungen handelt.

Die ontologischen Konzepte sind statisch, betrachten die Krankheit als mehr oder minder feststehend beziehungsweise eigengesetzlich verlaufend. Sie sind die Grundlage

der bereits erwähnten Krankheits- schlüssel und werden durch deren zunehmende Verbreitung sowie durch die (meist einmalige) Daten- verarbeitung in der EDV begünstigt.

Sie sind andererseits schwer verein- bar mit modernen kybernetischen Vorstellungen und mit einer Fülle von Einflüssen auf den Krankheits- ablauf, von denen ich nur einige in der Darstellung 11 zusammengefaßt habe.

Unbeschadet der biographischen Erklärungen und der ontologischen Nomenklatur möchte ich mich selbst als Anhänger eines dynamischen oder operationalen Krankheitskon- zeptes bezeichnen.

Man braucht dazu nur aus der Dar- stellung 11 die Interferenz verschie- dener Erkrankungen und Behand- lungen zu berücksichtigen. Von den Kranken der Medizinischen Univer- sitätsklinik Köln wiesen 27 Prozent eine, 11 Prozent zwei, 4 Prozent drei oder mehr Nebendiagnosen auf (21).

Wer hat bei der Therapie mit stero- idalen oder nichtsteroidalen Entzün- dungshemmern nicht schon Magen- beschwerden, ein Ulkus oder sogar eine Magen-Darm-Blutung erlebt?

Die Diagnostik muß ständig im Lich- te neuer Informationen überprüft und gegebenenfalls ergänzt oder korrigiert werden. Damit möchte ich aber keineswegs einer Diagnostik ad infinitum oder nur aus heuristi- schem Bedürfnis heraus das Wort reden. Hier gilt Feinsteins unüber- troffene Formulierung (11): „Der

Krankheitsbezeichnungen Historische

nach dem Namen von Be- schreibern

nach dem Namen von Pa- tienten

nach dem Namen von Städten Pathologisch-anatomische Bezeichnungen

Reine Deskriptionen Deskriptive Analogien Bezugnahmen auf Ursache Unbekannte Ursache = „Es- sentiell", „primär", „idiopa- thisch" u. ä.

Prognostische Aussagen

diagnostische Prozeß beginnt mit der Bezeichnung von Erscheinun- gen und endet mit dem Namen von Einheiten, die für Diagnose und The- rapie als befriedigend angesehen werden können . . ."

Damit kommen wir zum letzten Ein- wand, mit dem sich eine Definition des allgemeinen Krankheitsbegriffes auseinandersetzen muß: Dem pro- blemorientierten Krankenblatt. Es soll die klassische Diagnose und da- mit den klinischen Krankheitsbegriff ersetzen. Ebenso gibt es heute schon den problemorientierten Sek-

tionsbefund anstelle der patholo- gisch-anatomischen Diagnose (21).

Weed (48), dem wir diese Konzepte

(6)

Darstellung 12:

Allgemeine Definition einer Krankheit

Eine oder mehrere Erschei- nungen, die eine Abweichung vom physiologischen Gleich- gewicht (Homoiostase) anzei- gen und durch definierte en- dogene oder exogene Noxen verursacht werden

Sie können durch den Scha- den selbst, durch Abwehr- oder Kompensations-Mecha- nismen bedingt sein.

Darstellung 13: Faktoren, die den Normalbereich beeinflussen

Alter

Geschlecht, bei

y

Menses, Schwangerschaft

Subpopulationen wie Rasse, Konstitution

Tagesrhythmik, andere biolo- gische Rhythmen

Lebensgewohnheiten Umwelteinflüsse, Milieu Medikamente, Ernährung

Nach der Grobformulierung einer Krankheitsdefinition, nach der Aus- einandersetzung mit einigen moder- nen Tendenzen möchte ich ab- schließend noch eine Krankheitsde- finition versuchen, die weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch

Darstellung 10: Gruppen von Krankheitsdefinitionen

Biographisches Konzept Ontologisches Konzept Operationales Konzept

Q

Zur Gesundheit und Normalität Wer den unteren Teil der Darstel- lung 12 betrachtet, wird sofort er- kennen, daß Normalität und Ge- sundheit nicht das gleiche bedeu- ten. Um ein Beispiel zu nennen: Die klassischen Entzündungszeichen — Calor, Rubor, Dolor, Functio laesa — sind Abwehrmechanismen, also sinnvolle Vorgänge zur Wiederher- stellung der Homoiostase.

Beim Gesunden kommen sie aber nicht vor, und für den Arzt sind sie oft die einzigen und indirekten (das heißt aus den Reaktionen des Orga-

Darstellung 11: Ursachen veränderter Krankheitsabläufe 43 Individuelle Veränderungen

Spontane Änderung der Noxe (Ursache)

Spontane Änderung der Abwehr und Adaptation Therapieinduzierte positive Änderungen

Therapieinduzierte negative Änderungen

Interferenz mehrerer Krankheiten oder Behandlungen Epidemiologische Veränderungen

Mutationen und Selektionen Einflüsse von Prävention

Einfluß der Lebensgewohnheiten

der soziologischen, ökologischen, ökonomischen Bedin- gungen

Aufsätze • Notizen

Gesundheit und Krankheit

letztlich verdanken, hat damit zwei- fellos — wie allein schon die zahlrei- che Sekundärliteratur (s. o.) beweist

— einen wertvollen Impuls gesetzt. Er hat allerdings nach der Meinung von Kennern niemals eine genaue Defi- nition seines problemorientierten Krankenblattes gegeben (22).

Aus meiner Sicht kann man aus dem problemorientierten Krankenblatt viele Handlungsanleitungen über- nehmen, etwa die Sammlung, Ord- nung, Gewichtung, Beurteilung von Krankheitserscheinungen, also so- genannte Aktionslisten (22). Die Pro- blemorientierung kann aber klare und einheitliche Krankheitsbegriffe ebensowenig verdrängen wie in der Sprache Stichworte die unersetzli- che Grammatik.

nismus abgelesenen) Zeichen dafür, daß eine Krankheit abläuft.

Um einen Schritt weiter zu gehen:

Nur die steten Abwehrreaktionen unseres Immunsystems — nach einer treffenden Definition: unseres zwei- ten Gewebes— ermöglichen uns ei- ne sonst schon lange verlorene Exi- stenz. Dies gilt nicht nur für die zahl- losen Viren, Bakterien, Pilze, Parasi- ten, für die unser Immunsystem aus früheren Kontakten die Vorausset- zung einer dauernden oder rasch anlaufenden Produktion von (meist spezifischen) Antikörpern bereithält.

Dies gilt auch für endogene Noxen:

Aus der um den Faktor 5 bis 10 ver- mehrten Tumorrate bei Patienten, die etwa im Rahmen von Organ- Transplantationen langfristig im- munsuppressiv behandelt werden, wissen wir, daß offenbar im Normal- bereich laufend Klone maligner Zel- len entfernt oder über einen Repair- mechanismus entschärft werden, ohne daß wir davon etwas bemerken würden (38). Alle diese Funktionen gehören zum Begriff der Normalität.

Der Normalbereich wird durch eine ganze Anzahl von Faktoren beein- flußt, von denen die Darstellung 13

nur die wichtigsten zeigt. Ganz be- sonders hinweisen möchte ich auf den Einfluß des Alters (Darstellung 14). Während der jüngere Erwachse- ne durch die Integration der Lebens- prozesse und eine hohe Stabilität gekennzeichnet ist, kommt es beim Kind und beim alternden Menschen zur Dissoziation einzelner Körper- funktionen und zum Mangel an Sta- bilität. Die Abwehrreaktionen — sinn- voll, zweckmäßig und a priori nor- mal — können aber auch qualitativ den der Ausschließlichkeit erhebt

(Darstellung 12). Sie lehnt sich zum Teil an die neueste Auflage der En- cyclopaedia Brittanica (6) und an die Monographie von Morgan und En- gel (35) an.

1404 Heft 21 vom 22. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(7)

Darstellung 15: Einfluß der gewählten Trennlinie zwischen Gesun- den und Kranken auf falsch-positive und falsch-negative Zuord- nungen*)

') nach Jarry et al.

Fehlsteuerungen im Sinne der Auto- immunerkrankungen sein, können quantitativ Ausmaße annehmen, die die Funktion lebenswichtiger Orga- ne oder gar die Existenz des Trägers gefährden. In diesem Falle haben sie natürlich Krankheitswert im Sinne der Darstellung 12.

Einige wenige Beispiele: Die Hämo- lyse nach der Übertragung inkompa- tiblen Blutes, die Entwicklung einer chronisch-aggressiven Hepatitis, die Funktionssteigerung und schließlich das Versagen der Nebennierenrinde bei besonderen Belastungen, wie sie Selye so eingehend beschrieben hat.

Bekanntlich überschneiden sich die Bereiche der Gesunden und der Kranken bei den meisten Untersu- chungen, nicht nur bei den Laborda- ten (13, 17, 25). Der Idealfall der Dar- stellung 15 (25) tritt, wenn über- haupt, nur selten auf. Der Regelfall ist die mittlere Situation, die im Un- terschied zu den unteren Kurven durchaus noch eine verwertbare Trennschärfe hergibt, aber eben um den Preis einer Anzahl falsch-positi- ver und falsch-negativer Resultate.

Ich habe deshalb seit zwölf Jahren verlangt, die noch heute überwie- gende Zweiteilung pathologisch — normal stets durch eine Dreiteilung zu ersetzen (17), etwa folgenderma- ßen: sicher normal — zweifelhaft oder grenzwertig — sicher patholo- gisch.

Daß es sich dabei nicht um praxis- fremde Theorien handelt, zeigt die Darstellung 16 an rund 400 chroni- schen Lymphadenosen eigener Be- obachtung. Hier ist die Trennschärfe relativ gut. Mit anderen Worten: Von den seltenen markbeschränkten Fäl- len und von einigen lymphotropen Virusinfektionen abgesehen, kön- nen wir bei Lymphozytenzahlen un- ter 50 Prozent eine lymphatische Leukämie sicher ausschließen, über 70 Prozent annehmen — während im Grenzbereich von 50 bis 70 Prozent alles offenbleibt.

Nachdem wir den Unterschied zwi- schen normal und gesund ausrei-

chend betont haben, dürfen wir für die weitere Betrachtung die Begriffe in etwa zur Deckung bringen. Wir wollen abschließend versuchen, durch eine Anzahl mehr oder minder bekannter Definitionen zu einer Art Summenurteil über den Begriff der Normalität zu kommen:

C) Die bekannte WHO-Definition des körperlichen, seelischen und so- zialen Wohlbefindens bringt in ihr drittes Postulat politische Forderun- gen ein und ist daher für unsere Zwecke nur beschränkt brauchbar.

Sie ist eine Zielvorstellung oder so- gar eine Utopie; immerhin ist sie un- biologisch.

C) Eine etwas naive Formulierung der Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit oder Störungen. Die- se Definition verlagert das Problem lediglich auf die Definition der Krankheit und führt zum Zirkel- schluß.

® Eine griffige Formulierung ist die von Cochrane und Ellwood (4), daß Normalität die obere Grenze darstel- Heranwachsende Jüngere Erwachsene Alternde Menschen Menschen

Dissoziation der Le- Integration der Le- Dissoziation der Le- bensprozesse bensprozesse bensprozesse Mangel an Stabilität Stabilität Mangel an Stabilität

(8)

Darstellung 16 251 % Häufigkeit

20

15-

10-

5

Gesunde

11111 Pat. chron. Lymphadenose

15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100

% Lymphozyten

Darstellung 17

Statistische Verteilung

Homoiostase

fraglich

sicher „normal" sicher „anormal"

••••• . . .... . •

Bereich der steten und

„normalen" Os- zillationen

Bereich der leichten Gegenregula- tionen

Bereich der massiven Ge- genregulation

,Bereich des Ver- sagens von Ge- genregulationen oder Anarchie Unauffällige

Befunde

Leichte Störung

Kompensierte Störung

Dekompensierte Störung

Normbereich Intermediärbereich Keine Maß- Unterstützende Maßnahmen nahmen

Extrembereich Äußere Hilfe oder Tod

Gesundheit und Krankheit

nügendes Maß von Genuß- und Lei- stungsfähigkeit besitzt."

®

Gerade die letzteren Formulie- rungen führen zu dem modernen Homoiostase-Begriff und zur Kyber- netik, das heißt der optimalen Ein- stellung der Regelgrößen in sich und zwischen sich. Wir benutzten diese beiden schon bei der Defi- nition der Krankheit. Homoiostati- sche Systeme sind komplexe Mehr- fach-Regelungs-Systeme; sie besit- zen die Fähigkeit der Anpassung an Außenweltveränderungen durch Selbststabilisierung (41).

In diesem Sinn bedeuten Gesund- heit oder Normalität die Autonomie des Individuums gegenüber einer Klasse von Belastungen oder Ein- schränkungen — vor allem gegen- über denen des täglichen Lebens.

Entsprechend bedeutet Krankheit jede anhaltende und nicht sich selbst begrenzende Störung von Re- gelgrößen, wechselseitige Störun- gen von Organfunktionen und Ver- änderung der Organstruktur.

Damit ist nochmals eine Definition der Krankheit gegeben und zugleich die Brücke zum praktischen ärztli- chen Handeln gegeben (Darstellung 17): Der Normalbereich erfordert keine Behandlung. Im lntermediär- bereich mit seinen noch intakten Gegenregulationen muß es unser Behandlungsziel sein, die Rückkehr in die Homoiostase zu unterstützen, zu beschleunigen, zu sichern. Nur im Bereich des Versagens der Ge- genregulationen hängen Leben und Tod allein an der Schnelligkeit und Zweckmäßigkeit von außen kom- mender Maßnahmen.

(Nach einem Vortrag zur Eröffnung des 12. Internationalen Seminarkongresses der Bundesärztekammer in Meran am 31.

März 1980; gekürzt)

Literatur beim Verfasser Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Rudolf Gross Medizinische Universitätsklinik Köln Joseph-Stelzmann-Straße 9

5000 Köln 41 le, unterhalb der eine Behandlung

mehr schaden als nützen würde.

0

Wenig Zugewinn bringen Formu- lierungen, die die Norm im Lichte eines Idealbegriffes sehen, zum Bei- spiel: „was sinnvoll funktioniert und dies auch in Zukunft tun dürfte"

(37), oder: „alle Funktionen, die ver- ändert werden können, ohne andere Funktionen zu beeinträchtigen oder die Struktur des Körpers zu verän- dern" (27).

®

Eine elegante, aber nicht voll- ständige Formel von Leriche (39) spricht vom „Leben im Schweigen der Organe". Jeder Kliniker weiß,

daß das Bemerken eines Organs, et- wa des Herzens oder der Lungen, schon die leichteste Form einer Stö- rung darstellt.

C) Die von Büchner (3) stammende Definition der Gesundheit als eines geordneten Zusammenspiels von Funktionsabläufen hält Hans Schae- fer (45) für eine Tautologie. Sie leitet aber schon über zu den kyberneti- schen Deutungen.

Wichtig erscheint mir selbst die Verbindung von Wohlbefinden, kör- perlicher Integrität und Adaptations- fähigkeit (17). Schon Freud sagte:

„Normal ist der Mensch, der ein ge-

1406 Heft 21 vom 22. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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"Waren aus Werkstätten für Behinderte werden grundsätzlich nicht an Haustüren verkauft", teilte der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln mit. Dennoch