• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Hornhauttransplantationen: Überwindung des Engpasses" (26.05.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Hornhauttransplantationen: Überwindung des Engpasses" (26.05.2000)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A-1452 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 21, 26. Mai 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

ast 4 000 Hornhauttransplanta- tionen (Keratoplastiken) wur- den im Jahr 1997 in der Bun- desrepublik Deutschland vorgenom- men. Die Wartezeit für eine solche Transplantation beträgt mittlerweile in den meisten Kliniken bei Verwen- dung nicht HLA-gematchter Trans- plantate etwa ein Jahr; für zunehmend häufig benötigte optimal HLA-ge- matchte Transplantate ist sie noch deutlich länger.

Funktionsfähige Transplantate

Bei vielen Indikationen zur Kera- toplastik darf auch ohne systemische und mit nur kurzfristiger lokaler Im- munsuppression mittelfristig mit na- hezu 90 Prozent klaren, funktionsfähi- gen Transplantaten gerechnet wer- den. In Anbetracht dieser guten Pro- gnose ist der Korneatransplantat- engpass ein nicht zu akzeptierender Missstand. Das gilt besonders im Hinblick auf die Tatsache, dass anders als bei Nieren-

oder Multiorgan- spendern die Kor- nea manchmal auch noch 72 Stunden nach dem Tod des Spenders entnommen und mit Erfolg trans- plantiert werden kann und deshalb unvergleichlich mehr potenzielle

Spender für eine Hornhautspende zur Verfügung stehen als für eine Spende großer Organe.

Drei Gründe können für den Korneatransplantatengpass angeführt werden:

– Ärztinnen und Ärzte denken nach wie vor viel zu selten an die Mög-

lichkeit einer Korneaspende, sodass der überwiegende Anteil der An- gehörigen von Verstorbenen gar nicht mit der Frage nach einer Korneaspen- de konfrontiert wird. Es ist auch kaum bekannt, dass nur relativ wenige Kon- traindikationen für eine Korneaspen- de existieren, beispielsweise virale Er- krankungen wie

Aids, Hepatitis B/C oder neuro- logische Erkran- kungen wie die Alzheimer- und Creutzfeldt-Ja- kob-Erkrankung.

Darüber hinaus wissen ebenfalls zu wenige, dass es für die Kornea- spende auch keine

prinzipielle Altersbeschränkung gibt.

Auch sehr alte Verstorbene kommen durchaus als Korneaspender in Be- tracht, sofern die Hornhaut noch ge- sund und klar ist.

— Die Mehrzahl der Kornea- transplanteure führt zur Korneatrans- plantatgewinnung noch immer Ent- nahmen des kom- pletten Bulbus durch, was An- gehörige von Ver- storbenen, die nach der Kor- neaspende ge- fragt werden, häu- fig abschreckt und auch bei den nach der Zustimmung fragenden Ärzten die Hemmschwelle, die Angehörigen anzusprechen, eher erhöht. Die Alternativmethode einer Transplantatgewinnung durch primäre Entnahme nur einer Hornhaut-Sklera- Scheibe mit 14 bis 15 Millimetern Durchmesser unter Belassung des Augapfels ist bislang in noch viel zu

wenigen Korneatransplantationszen- tren Standard (Abbildungen 1–4).

˜ Auf potenzielle Spender in rechtsmedizinischen Abteilungen, die überwiegend außerhalb der Kliniken sterben, konnte in der Vergangen- heit überwiegend deshalb nicht zurückgegriffen werden, weil de- ren Angehörige aus Datenschutz- gründen nicht zu ermitteln waren.

Nach den Er- fahrungen in der LIONS Horn- hautbank NRW sollte eine Über- windung des Kor- neatransplantat- engpasses gelin- gen, wenn eine Lösung dieser drei Hauptprobleme bewerkstelligt wird. Von 1995 bis 1997 wurden innerhalb der Medizinischen Einrichtungen der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf durchschnitt- lich 364 Hornhauttransplantate pro Jahr entnommen und in der LIONS Hornhautbank NRW kultiviert. Die Zustimmungsquote (Anzahl der Zu- stimmungen von Angehörigen zur Korneaentnahme/Anzahl der mit Spenderangehörigen geführten Ge- spräche) lag beispielsweise 1996 bei 34 Prozent. Hauptgrund für diese gute Zustimmungsquote ist eine sehr hohe Motivation der Mehrzahl der mittler- weile über die Korneaspende gut in- formierten Ärzte aller Abteilungen der Heinrich-Heine-Universität, das Thema Korneaspende bei den An- gehörigen von Verstorbenen ohne Scheu konsequent anzusprechen. Das gilt in besonderem Maße für die inten- sivmedizinischen Abteilungen der Universitätsklinik, wo von einzelnen, besonders engagierten Ärzten Zu- stimmungsquoten von fast 80 Prozent erreicht werden. Fundament dieser

Hornhauttransplantationen

Überwindung des Engpasses

Die Erfahrungen in der LIONS Hornhautbank Nordrhein-Westfalen unter besonderer Berücksichtigung des Transplantationsgesetzes

F

Abbildung 1: Zirkuläres Absetzen der Bindehaut am Limbus unter sterilen Bedingungen

Abbildung 2: Trepanation mittels 14 Millimeter Trepan Fotos: Universität Düsseldorf

Thomas Reinhard

Rainer Sundmacher

(2)

hohen Zustimmungsquote ist die Ent- nahme von Spenderhornhäuten aus- schließlichdurch korneosklerale Prä- paration, was vielen Angehörigen die Zustimmung hierzu im Vergleich zur Enukleation sehr er-

leichtert. Eine Schulung zumindest eines Teils der augenärztlichen Mitar- beiter in dieser Entnah- metechnik ist innerhalb weniger Monate zu be- wältigen. Retinales Pig- mentepithel für eine HLA-Typisierung steht dann zwar nicht zur Ver- fügung, ist aber mittler- weile methodisch auch nicht mehr unbedingt er- forderlich, da auch aus Spenderblut, das bis zu

72 Stunden nach dem Tod entnom- men wurde, serologisch und/oder mo- lekulargenetisch sowohl HLA Klasse I als auch Klasse II typisiert werden kann.

Wartezeit: Weniger als drei Monate

Nach In-Kraft-Treten des Trans- plantationsgesetzes (TPG) am 1. De- zember 1997 konnte die LIONS Hornhautbank NRW ihre bis dato schon guten Leistungszahlen weiter verbessern. Das gelang vor allem, weil das TPG jetzt erstmals die Auskunfts- pflicht von Ärzten und Behörden ge- genüber dem eine Organentnahme beabsichtigenden Arzt oder gegen- über der von der Koordinierungsstel- le beauftragten Person eindeutig re- gelt. Zu den Behörden zählt beispiels- weise auch die Staatsanwaltschaft, in deren Verfügungsgewalt sich die Ver- storbenen in rechtsmedizinischen Ab- teilungen bis zur Freigabe befinden und die vor In-Kraft-Treten des TPG aus Datenschutzgründen keine Aus- kunft über die Angehörigen dieser Toten geben durfte. Diese Auskünfte können nicht nur, sondern müssen jetzt auf Nachfrage gegeben werden.

So konnte 1998 nach Einholen des Einverständnisses der Angehörigen erstmalig auf Korneaspender der rechtsmedizinischen Abteilung der Heinrich-Heine-Universität zurück- gegriffen werden: Dort wurden in nur

diesem einen Jahr 168 Korneatrans- plantate entnommen. Die Einwilli- gungsgespräche mit den Angehörigen der Verstorbenen wurden von Mitar- beitern der Hornhautbank geführt,

wobei die Zustimmungsquote bei 57 Prozent lag.

1998 wurden in der LIONS Horn- hautbank 536 Transplantate nur aus dem Bereich der Medizinischen Ein- richtungen der Heinrich-Heine-Uni- versität kultiviert. Das entspricht ei- ner Steigerung gegenüber 1997 von 38 Prozent (Grafik). Von diesen Trans- plantaten wurden 277 in der Au- genklinik der Heinrich-Heine-Uni- versität transplantiert, weitere 46 wur- den an Augenkliniken außerhalb der Heinrich-Heine-Universität abgege- ben, entweder unter Vermittlung von Eurotransplant/Bio Implant Services (Leiden, Niederlande) oder in Notfäl- len auch direkt, beispielsweise bei Hornhautulzera mit Perforation. Die restlichen Transplantate erfüllten die international festgelegten, sehr stren-

gen Qualitätsanforderungen, bei- spielsweise im Hinblick auf Morpho- logie und Dichte des Transplantat- endothels, nicht. Die Wartezeit für ein nicht HLA-gematchtes Transplan- tat zur Normalrisiko- keratoplastik beträgt des- halb in der Augenkli- nik der Heinrich-Heine- Universität mittlerweile weniger als drei Monate.

Für ein optimal HLA-ge- matchtes Transplantat zur Hochrisikokerato- plastik hingegen ist die Wartezeit aber noch im- mer sehr lang, manchmal mehrere Jahre.

Unter Berücksichti- gung der Tatsache, dass 1998 in der LIONS Hornhautbank NRW 536 konservierte Korneatransplantate ausschließlich von Organspendern aus den eigenen Kliniken stammten (!), kann der Kor- neatransplantatengpass mit Leichtig- keit überwunden werden, wenn die Organspenderwerbung auf umliegen- de Kliniken ausgedehnt wird. Diese Möglichkeit wird vom TPG gestützt, erfordert aber natürlich einen erheb- lich höheren personellen Aufwand.

Der LIONS Hornhautbank NRW ste- hen derzeit nur eine Halbtagsstelle für eine Schreibkraft sowie als ärztlicher Mitarbeiter nur ein Arzt im Prakti- kum zur Verfügung. Damit muss der- zeit noch auf unentgeltliche Unter- stützung weiterer Klinikmitarbeiter in deren Freizeit zurückgegriffen wer- den, um die wichtigsten Aufgaben der Hornhautbank zu erledigen. In Urlaubszeiten oder bei Krankheit kommt es deshalb immer wieder zu großen Engpässen, und eine Ausdeh- nung der Organspenderwerbung auf umliegende Kliniken ist daher mit dem derzeitigen viel zu kleinen Per- sonalschlüssel in keiner Weise zu bewerkstelligen. Eine verbesserte personelle Ausstattung nicht nur der LIONS Hornhautbank NRW, sondern aller derzeitig im Aufbau begriffenen größeren Hornhautbanken der Bun- desrepublik Deutschland (derzeit et- wa zehn) ist deshalb unbedingte Vor- aussetzung für die Überwindung des Korneatransplantatengpasses!

Bis zum 1. Dezember 1997 war eine Transplantatabgabe durch eine A-1454 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 21, 26. Mai 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

✒ Abbildung 3: Entfernen der Korneoskleralscheibe mittels Kolibri-Pinzette

Abbildung 4: Aufsetzen einer harten 18-Millimeter-Kon- taktlinse, die stabil auf dem Spenderauge verbleibt✔

Einwerbung von Korneatransplantaten in der Heinrich-Heine-Universität seit 1995

600 500 400 300 200 100 0

364 339 388

536

Transplantatentnahmen (n)

1995 1996 1997 1998 Grafik

(3)

Hornhautbank an Operateure au- ßerhalb des eigenen ärztlichen Ver- antwortungsbereichs im Hinblick auf haftungsrechtliche Konsequenzen praktisch unmöglich, da damals Horn- hauttransplanate noch als Arzneimit- tel eingestuft wurden. Durch Einstu- fung von Korneatransplantaten in

§ 21 des TPG als „Organe“ und nicht mehr als „Arzneimittel“ besteht jetzt erstmalig die Möglichkeit, auf einer soliden juristischen und praxisge- rechten Basis Korneatransplantate auch an Kliniken außerhalb der eige- nen abzugeben. Das war der LIONS Hornhautbank NRW 1998 zum Wohle von 46 Patienten möglich und betraf in erster Linie HLA-typisierte Trans- plantate, die künftig im Hinblick auf weitere Verbesserungen der Trans- plantatprognose nach Keratoplastik wahrscheinlich zunehmend häufiger verwendet werden.

Wie die Erfahrungen der LIONS Hornhautbank NRW zeigen, hat die Ausnutzung aller Möglichkeiten des TPG zu einer deutlichen Steigerung der Korneaspenderzahlen und damit zu einer Verkleinerung der Warteliste für eine Keratoplastik an der Au- genklinik der Heinrich-Heine-Univer- sität geführt. Das TPG bietet somit ein solides und begrüßenswertes Funda- ment zur Überwindung des Kornea- transplantatengpasses in der Bundes- republik Deutschland. Das gesetzliche Fundament allein genügt dabei selbst- verständlich nicht. Hinzukommen müssen eine umfassende Information und Motivation allerfür die Kornea- spende benötigten Ärztinnen und Ärz- te, hinzukommen muss der Übergang zur Entnahme nur des Hornhauttrans- plantats, und hinzukommen muss nicht zuletzt auch endlich eine gesi- cherte finanzielle und personelle Basis der großen Hornhautbanken.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A-1452–1455 [Heft 21]

Anschrift der Verfasser

Privatdozent Dr. Thomas Reinhard Prof. Dr. Rainer Sundmacher Augenklinik

Heinrich-Heine-Universität Moorenstraße 5

40225 Düsseldorf

A-1455 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 21, 26. Mai 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE/TAGUNGSBERICHT

arf man über alles diskutie- ren? Gibt es Grenzen der Re- defreiheit? Kann man über al- les öffentlich reden, worüber man akademisch disputiert? Antworten auf diese Fragen suchten die Akade- mie für Ethik in der Medizin und das Philosophische Institut der Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf, die ge- meinsam Ende April eine Tagung in Düsseldorf zu dem Thema „Toleranz – Grenzen der Toleranz“ veranstalte- ten.

Ausgangspunkt war eine Diskus- sionsveranstaltung vor zwei Jahren in Göttingen, zu der der Mainzer Rechtsphilosoph Norbert Hoerster eingeladen war. Hoerster war durch umstrittene Stellungnahmen zu Ster- behilfe und Abtreibung bekannt ge- worden. Durch Proteste von Behin- derten war die geplante Diskussions- runde allerdings kurz nach deren Be- ginn gesprengt worden. Es folgte eine Reihe ähnlicher Vorkommnisse bei weiteren Veranstaltungen, zum Bei- spiel bei Kongressen, auf denen der australische Bioethiker Peter Singer reden sollte.

Angriffe auf die Meinungsfreiheit

Singer unterscheidet zwischen

„lebenswertem“ und „lebensunwer- tem“ Leben. Für Patienten, die für im- mer das Bewusstsein verloren haben, oder für Kinder, die ohne oder fast oh- ne Gehirn geboren sind, habe das Le- ben keinen subjektiven Wert. Es be- stehe daher, so Singer, normalerweise kein patientenbezogener Grund, die- se Menschen am Leben zu erhalten.

Singer tritt außerdem wie Hoerster

für eine aktive Euthanasie ein (dazu DÄ 16/1990 und 23/1996).

Der Göttinger Philosoph Prof.

Dr. phil. Günther Patzig hält solche Auffassungen für durchaus diskutabel und verurteilt scharf jegliche Be- schränkung der Redefreiheit. Er selbst sei zwar gegen eine „Früheu- thanasie“ Neugeborener, plädiere aber für die Freigabe der aktiven Sterbehil- fe bei Patienten, die ausdrücklich dar- um bitten und deren Leiden bei aus- sichtsloser Krankheit auf andere Wei- se nicht gelindert werden könne. Die

„fanatischen Gegner“ (Patzig) der Freigabe aktiver Euthanasie unter- stellten, dass Medizinethiker wie Hoerster eigentlich eine an nationso- zialistische Untaten gemahnende „Eu- thanasie“ anstrebten. Auf diese Weise seien die Ansichten Hoersters in be- denkenloser Weise entstellt worden.

Patzig fordert einen entschiedenen Widerstand der Wissenschaftlerge- meinschaft und der an einer freien Diskussion interessierten Öffentlich- keit gegen diese „gefährlichen Angrif- fe auf die verfassungsmäßig garantier- te Meinungsfreiheit“. Das Tabuisie- ren bestimmter Themen wie der aktiven Sterbehilfe sei, so Patzig, grundsätzlich abzulehnen.

Der Trierer Philosoph Prof. Dr.

phil. Anselm Müller vertrat dagegen die Auffassung, dass auch der Tole- ranz Grenzen gesetzt werden müss- ten. So sollte zum Beispiel ein Vor- trag über Folter unter Umständen nicht geduldet werden, da ein solcher Vortrag unter anderem zum Bösen und zur Rechtsverletzung anstiften könne. „Auf einer tieferen Ebene kann Nichtduldung hier ein Erfor- dernis moralischer Integrität sein“, sagte Müller. Sein Beispiel auf die

Brisante Fragen in der Bioethik

Totschweigen – oder

öffentlich ausdiskutieren?

Ärzte, Philosophen und Psychologen diskutierten über eine mögliche Einschränkung der Redefreiheit bei brisanten bioethischen Themen.

D

(4)

Proteste der Behinderten übertra- gend, stellte er lakonisch fest: „Die Behinderten haben völlig Recht. Wenn sie nicht gegen solche und ähnliche Veranstaltungen protestiert hätten, wären sie in ihrer Menschenwürde be- einträchtigt worden.“

Auch der Hamburger Psychologe Dr. Michael Wunder betonte, dass das Lebensrecht von Menschen nicht dis- kutierbar sein könne. Von der perma- nenten Dauerinfrageinstellung des Lebensrechtes von Menschen mit schweren Behinderungen, mit gene- tisch bedingten Erkrankungen, von Menschen, die sich im Wachkoma be- finden, oder Sterbenden gehe eine wirkliche Gefahr aus.

So habe die Permanenz dieser Debatten eine eskalierende Wirkung.

Aus einer Bundesdrucksache vom vergangenen Jahr gehe zum Beispiel eine geheime „Erfolgsstatistik“ der selektiven pränatalen Diagnostik her- vor. Die Zahl der Neugeborenen mit Spina bifida habe sich danach in den Jahren 1973 bis 1990 von 18,6 auf 7,7 je 100 000 reduziert; die Zahl der Neu- geborenen mit Down-Syndrom im gleichen Zeitraum von 13,5 auf 8,7.

Die offizielle Position der Humange- netik laute aber nach wie vor: Sie stel- le im Bereich der pränatalen Diagno- stik nur Wissen zur Verfügung, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Embryo oder ein Fetus behindert ge- boren wird oder nicht. Ob dieses Wis- sen dann in eine Abtreibung mündet, sei allein Sache der Eltern bezie- hungsweise der Frau. Dieses Verleug- nen der eigenen Wirkung kennzeich- ne heute in weiten Teilen die gesamte Biomedizin und Bioethik.

„Strafbarer Aufruf zum Mord“

Wunder fordert deshalb, dass in einer Diskussion nicht immer alles ge- sagt wird. „Genauso wie die Behaup- tung, es habe die Gaskammern von Auschwitz nicht gegeben, heute unter Strafandrohung steht, muss meiner Meinung nach juristisch geprüft wer- den, ob Singers Überlegungen zur ethischen Vertretbarkeit der Tötung nicht einen strafbaren Aufruf zum Mord enthalten.“ So wenig er die Be- hauptung der Auschwitzlüge oder den

Aufruf zum Kindermord für eine Fra- ge der Toleranz und der Redefreiheit halte, so sehr glaube er aber „dass es natürlich nicht generell um Redebe- schränkungen, Publikationsverhinde- rungen oder Diskussionsabbrüche ge- hen kann und darf“.

Auf die unterschiedlichen Arten der Verhinderung einer Diskussion brisanter medizinethischer Themen wies Prof. Dr. phil. Dieter Birnbacher, Universität Düsseldorf, hin. Sie hät- ten von Absagen von Veranstaltungen

bis zur Anwendung physischer Ge- walt gereicht. Teilweise habe es sich um öffentliche, teilweise um akademi- sche Diskussionsrunden gehandelt.

Außerdem seien auch nicht alle The- men gleichermaßen umstritten. Birn- bacher machte darauf aufmerksam, dass selektiver Schwangerschaftsab- bruch nach pränataler Diagnostik –

„also immerhin eine Form aktiver Tö- tung“ – nach geltendem Recht sogar bis zur Geburt zugelassen sei. Aktive Sterbehilfe sei zwar rechtlich verbo- ten, werde aber für bestimmte Fälle nach Umfragen von einer substanziel- len Mehrheit bejaht. Birnbacher ist der Ansicht, dass den Vertretern von Minderheitspositionen weitergehen-

de Freiheiten zugestanden werden sollten als den Vertretern der Mehr- heitsposition.

Ausgewogenheit der Themenvorschläge

Er fordert dazu auf, nach dem Gebot der Schadensvermeidung vor- zugehen: „Der Schaden durch Verhin- derung freier Diskussion muss gegen Schaden durch Diskussion abgewo- gen werden.“ Diese Argumention, bei der sich Birnbacher auf die Aus- führungen des Philosophen John Stuart Mill stützt, träfen allerdings auf die Diskussion über moralische Fra- gen nur bedingt zu. Selbst eine grund- falsche Meinung könne ein Körn- chen Wahrheit enthalten, das eine Überprüfung lohne. Und ob im Zu- sammenhang von moralischen Fra- gen überhaupt von „Wahrheit“ und

„Falschheit“ gesprochen werden kön- ne, sei fraglich.

Es gehe allerdings weniger um Wahrheit oder Falschheit als viel- mehr um Gefährlichkeit. Doch auch über den Begriff des Schadens könne ebenfalls kontrovers diskutiert wer- den. „Kann etwa von einem Schaden nur bei aktivem Eingreifen gespro- chen werden oder auch bei einem Ge- schehenlassen? Ist der Tod eines schwerstbehinderten Neugeborenen durch aktives Eingreifen ein Schaden, durch passives Geschehenlassen (,Liegenlassen‘) jedoch nicht?“

Nach Auffassung von Dr. phil.

Carmen Kaminsky, Universität Düs- seldorf, ist Toleranz „die freiwillige Entscheidung, einen begründeten missbilligten Sachverhalt, Umstand oder Zustand zu erdulden“. Die Ent- scheidung zur Toleranz sei dann klug, wenn fundamentale Überzeugungen und Absichten durch das Erdulden des Missbilligten nicht gefährdet oder korrumpiert würden oder wenn die Mittel der Intoleranz moralisch nicht zur rechtfertigen seien. Wichtig sind bei Diskussionen zu umstrittenen Themen, so Kaminsky, Strategien der Konfliktbewältigung, Taktgefühl und eine Ausgewogenheit der Themen- vorschläge, um nicht zum äußersten Mittel zur Bewahrung der Redefrei- heit greifen zu müssen: dem Einsatz der Polizei. Gisela Klinkhammer A-1456 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 21, 26. Mai 2000

T H E M E N D E R Z E I T TAGUNGSBERICHT

Demonstration von Behinderten gegen die Berufung Peter Singers an die Universität Princeton Foto: ap

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

In den ersten sechs Abschnitten behandelt das Buch neben den Grundlagen der allgemeinen phar- makologischen Tumortherapie unter anderem die Epidemiologie von

In emer nordamerikanischen Multicenterstudie wurde von einer Forschungsgruppe überprüft, ob eine intensivierte Insulintherapie, vergli- chen mit einer konventionellen

In einigen noch nicht in die Metaanalyse eingeschlosse- nen Studien zeigte sich eine sehr gute analgetische Wirk- samkeit von Doxepin (z.B. Aponal LO). So fand Thomals- ke bei

Hinzukommen müssen eine umfassende Information und Motivation aller für die Kornea- spende benötigten Ärztinnen und Ärz- te, hinzukommen muss der Übergang zur Entnahme nur

Eine primäre Resektion war nicht möglich, so daß eine Chemotherapie durch- geführt wurde.. Ferner lag ein Tumorthrombus ausge- hend von den mittleren Lebervenen bis zum rechten

32,2 Prozent der aus- gewerteten Finanzierungen bezogen sich auf Gründungen von Gemeinschaftspraxen und Praxisgemeinschaften sowie den Praxisbeitritt; 0,8 Prozent der Finanzierungen

Senat des BSG fest, es sei nachvollziehbar, dass die Versorgungswerke Kindererzie- hungszeiten bisher in ihrem Leis- tungsrecht nicht eingeführt hätten, weil der Bund an sie, anders

Form enthaltene Wirkstoff wird gelöst und durch osmotischen Druck in ge- nau vorausbestimmter Ge- schwindigkeit und Menge durch eine präzise gebohr- te Öffnung gleichmäßig