• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Begutachtung von Asylbewerbern: Zwischen Staatsraison und Patientenwohl" (09.06.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Begutachtung von Asylbewerbern: Zwischen Staatsraison und Patientenwohl" (09.06.2000)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

lughafen Frankfurt am Main.

Äußerlich unterscheidet nichts das Gebäude 182 von zahllosen anderen Verwaltungseinheiten im Transit-Bereich. Niemand erkennt, dass auf zwei Etagen des ehemaligen Frachtgebäudes zuweilen bis zu 200 Menschen untergebracht sind, die das so genannte Flughafenverfahren durchlaufen. Sie sind entweder aus ei- nem sicheren Herkunftsland oder oh- ne gültigen Pass am Flughafen angekommen und haben um Asyl gebeten. Seit dem Asyl- kompromiss von 1993 müssen diese Menschen am Flughafen bleiben, bis darüber entschie- den wird, ob ihr Asylantrag be- rechtigt ist, sie mithin in die Bundesrepublik einreisen dür- fen, oder sie zurückgewiesen werden.

Eine Metalltür führt in ein enges Treppenhaus, an dessen Ende man durch eine weitere Metalltür in die so genannte Schleuse gelangt. Ein Beamter des Bundesgrenzschutzes kon- trolliert hinter Panzerglas je- den Besucher. Erst danach öff- net er die dritte Metalltür, den Zugang zur Flüchlingseinrichtung. Über ver- winkelte Flure und ein vergittertes Treppenhaus führt der Weg in den Be- reich, in dem die Flüchtlinge unterge- bracht sind. Der kahle, große Aufent- haltsraum hat nur ein Fenster, auch im Sommer brennt den ganzen Tag das Neonlicht. An diesem Tag halten sich 46 Flüchtlinge im Gebäude 182 auf, das für 70 Personen ausgerichtet ist.

An einem Tisch sitzt eine junge Irake- rin. Sie wirkt apathisch. Um sie herum laufen drei ihrer vier kleinen Kinder.

Für sie gibt es keine Spielecke, nur wenige Spielsachen und keine Mög- lichkeit, nach draußen zu gehen. Des-

halb umkreisen sie neugierig die Be- sucher. Die älteste Tochter sitzt still am Tisch. Seit einiger Zeit isst sie kaum noch. Die Familie ist bereits seit zwei Monaten in der gefängnisartigen Einrichtung. Sie soll zurückgewiesen werden, hat aber noch immer keine gültigen Ausreisepapiere.

Das Asylverfahrensgesetz sieht vor, dass das Flughafenverfahren in- nerhalb von 19 Tagen abgeschlossen

sein soll. Häufig ist es jedoch schwie- rig und langwierig, den ohne gültige Papiere eingereisten Flüchtlingen über ihre Botschaften oder Konsulate Ersatzpapiere zu beschaffen.

Es gibt nichts zu tun – außer warten und bangen

Die Luft in dem Raum, der auch als Esssaal dient, ist durchsetzt mit dem Geruch von Kerosin. Das Fen- ster ist vergittert und lässt sich – wie alle anderen auch – nur einen Spalt breit öffnen. Zwei Flüchtlings-Jungen aus Ruanda sitzen vor dem einzigen

Fernseher. Die Sprache verstehen sie nicht. An einer Tischtennisplatte ver- suchen sich zwei junge Männer im Spiel. Eine junge Frau bügelt ihren Sari. Einige, die sich miteinander ver- ständigen können, unterhalten sich.

Ansonsten gibt es nichts zu tun. Nur warten, grübeln, hoffen, bangen.

„Die Zahl derer, die länger als 19 Tage hier sind, ist rapide gestiegen“, sagt Javad Adineh. Er ist der stellver- tretende Leiter des Flughafen- Sozialdienstes, der die Flücht- linge betreut. Träger sind der Evangelische Regionalverband und die Caritas, finanziert wird die Einrichtung vom Land Hes- sen. Adineh und seine Mitar- beiter haben die Erfahrung ge- macht, dass sich der Gesund- heitszustand der Menschen, die länger als 19 Tage in der Einrichtung leben, verschlech- tert. „Es ist die Monate an- dauernde Situation zwischen Hoffnung und Verzweiflung, die die Leute krank macht“, sagt Adineh. Viele der Flücht- linge hätten Angst vor einer Rückkehr in ihren Heimat- staat. Sie seien durch das lange War- ten frustriert, viele würden lustlos, de- pressiv oder aggressiv. Schwierig sei die Situation auch für die Kinder.

„Die Einrichtung ist nicht kindge- recht, und die Kinder wissen gar nicht, warum sie hier sind“, sagt Adineh.

Zudem seien die Eltern aufgrund ih- rer psychischen Situation häufig nicht in der Lage, sich angemessen mit ihren Kindern zu beschäftigen: „Die haben ihre eigenen Sorgen und wissen nicht, wie es weitergehen soll.“

Seit einem halben Jahr betreut ein Allgemeinarzt dreimal die Woche für zwei Stunden die Flüchtlinge.

Finanziert wird die medizinische

Zwischen Staatsraison und Patientenwohl

In Gutachten zu Krankheiten, zur Reise- und Flugfähigkeit von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Abzuschiebenden ist ärztlicher Sachverstand gefragt. Ärzte laufen dabei Gefahr, sich politisch instrumentalisieren zu lassen.

F

Begutachtung

von Asylbewerbern

(2)

Grundversorgung vom Land Hessen.

Wenn es nötig erscheint, werden die Flüchtlinge – in Begleitung von Beamten des Bundesgrenzschutzes – an niedergelassene Fachärzte oder ins Krankenhaus überwiesen. Aber, schränkt Adineh ein, das Problem der Lebensumstände lasse sich nicht me- dizinisch lösen.

Wie groß der psychische Druck auf die Menschen in Gebäude 182 ist, lässt die Statistik ahnen. Allein in den vergangenen drei Jahren gab es 18 Suizidversuche. Erst im Mai dieses Jahres hat sich eine Frau, die angab, aus Algerien zu stammen, aus Angst vor ihrer drohenden Zu-

rückweisung im Dusch- raum erhängt. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits acht Monate in der Einrichtung ver- bracht. Ihr Asylbegehren war abgewiesen worden.

Um die psychische Be- treuung der Flüchtlinge zu verbessern, fordert Adineh von der Landes- regierung, der Einrich- tung einmal wöchentlich einen Psychiater zur Ver- fügung zu stellen.

Zumindest räumlich soll sich die Situation der Flüchtlinge entspannen.

Im Herbst 2001 soll ein Gebäude der ehemaligen US-Air-Base auf dem Frankfurter Flughafen hergerichtet sein, das über einen direkten Zugang ins Freie und einen Spiel- platz verfügt. Zudem sind spezielle Wohnein-

heiten für Familien, allein reisende Frauen, allein reisende Minderjährige und abgelehnte Asylbewerber vorge- sehen. Obwohl Gebäude 182 als Pro- visorium gedacht war, haben dort im letzten Jahr rund 1 500 Menschen das Flughafenverfahren durchlaufen. 30 Prozent von ihnen wurden abgelehnt.

Von der schwierigen Lebenssitua- tion im Transit sprechen auch die Ärz- te, die am Frankfurter Flughafen ar- beiten und einspringen, wenn der All- gemeinarzt nicht zur Verfügung steht.

Was medizinisch nötig sei, könne in akuten Fällen bislang geleistet wer- den, sagt einer der Ärzte. Psycholo-

gisch könne man die Menschen jedoch nicht betreuen. Mit Blick auf den Selbstmord der Algerierin fügt er hin- zu: „Man kann nicht jemanden ein hal- bes Jahr in dieser Einrichtung lassen.“

„Bei Abschiebungen

wirken wir nicht mehr mit“

Am Frankfurter Flughafen kom- men nicht nur täglich Asylbewerber an. Über Frankfurt läuft ein großer Teil der Abschiebungen von abge- lehnten Asylbewerbern. Auch dabei wird vielfach auf ärztlichen Sachver-

stand zurückgegriffen, sei es, um die Reise- oder Flugfähigkeit des Abzu- schiebenden zu beurteilen oder ihn ärztlich begleiten zu lassen. „Im Rah- men von Abschiebungen wirken wir nicht mehr mit“, betont einer der Flughafen-Ärzte. Er verweist auf den Fall von Kola Bankole. Die Abschie- bung des Nigerianers war bereits mehrfach an dessen Gegenwehr ge- scheitert. Der Bundesgrenzschutz (BGS) hatte daher bei einem erneu- ten Abschiebungsversuch im August 1994 einen Arzt als Begleitung ange- fordert, „um Schaden von Bankole abzuwenden“, wie sich ein Flughafen-

arzt erinnert. Dieser hatte es offenbar als medizinisch indiziert angesehen, Bankole, der völlig außer sich ge- wesen sei, ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Aufgrund seiner hefti- gen Gegenwehr hätten zeitweilig bis zu sieben Beamte des Bundesgrenz- schutzes versucht, den Mann gewalt- sam zu bändigen, berichtet der Arzt.

Bankole starb. Die Liste demokrati- scher Ärztinnen und Ärzte in der Lan- desärztekammer Hessen hatte damals das Vorgehen des Arztes heftig kriti- siert. Sie sah darin eine Verletzung der Berufsordnung, weil die medizinische Maßnahme offenbar der Erleichte- rung der Abschiebung und nicht dem Wohl des Patienten diente. Beim folgenden Prozess fand sich der beteiligte Arzt allein auf der Anklage- bank. Das Verfahren ge- gen ihn wurde jedoch eingestellt.

Vor dem Hinter- grund dieses Falles ha- ben die Ärzte am Flugha- fen beschlossen, nicht mehr mit dem Bundes- grenzschutz zu kooperie- ren, auch nicht in Fragen der Reise- oder Flug- tauglichkeit. „Wir kön- nen uns nicht zum Sün- denbock des Staates ma- chen lassen, und wir sind auch nicht dazu da, Leute transportfähig zu sprit- zen“, sagt einer der Ärz- te. „Im Fall von Bankole hat sich der Arzt von den Behörden missbrauchen lassen, ohne es zu sehen.“

Lasse man sich darauf ein, sich im Auftrag staatlicher Stellen an Ab- schiebungen zu beteiligen, werde man zum Reibekissen zwischen Asylbe- werber und Behörden. „Da steht man schnell zwischen Staatsraison und ärztlicher Ethik“, sagt sein Kollege.

Seine Lösung: „Ich beantworte nur ärztliche Fragen. Wir sind neutral.

Wir wollen uns von keiner Seite in- strumentalisieren lassen.“ In dieser Haltung fühlt er sich durch einen Be- schluss des 102. Deutschen Ärztetages bestätigt. Die Delegierten hatten 1999 in Cottbus befunden, dass Abschiebe- hilfe durch Ärzte in Form von Flugbe- Abgelehnte Asylbewerber, die nicht freiwillig ausreisen, werden zwangsweise abgeschoben.

(3)

gleitung, zwangsweiser Verabrei- chung von Psychopharmaka oder Ausstellung einer Reisefähigkeits- bescheinigung mit den ethischen Grundsätzen der ärztlichen Berufs- ordnung nicht vereinbar sind. In der Begründung heißt es unter anderem, dass bei Widerstand des Abzuschie- benden bisweilen Fesselungen in atembehindernden Stellungen vorge- nommen würden, die allein in den USA in 86 Fällen zum Erstickungstod

geführt hätten. Solchen inhumanen Abschiebemethoden liege eine Asyl- praxis zugrunde, die vielen Asylbe- werbern nicht gerecht werde.

Dass vor dem Hintergrund der verschärften Asylgesetzgebung Pro- bleme der Politik verstärkt auf die Ärzteschaft abgeladen werden, kon- statiert auch der Menschenrechtsbe- auftragte der Landesärztekammer Hessen, Dr. med. Ernst Girth: „Bei der Begutachtung übernehmen Ärzte häufig eine Feigenblattfunktion für die Politik.“ Besonders brisant seien eingeschränkte Fragestellungen wie die nach der Flugtauglichkeit. Bei der Beurteilung müsse der Arzt neben der Schwere der Erkrankung die Behand- lungsmöglichkeit im aufnehmenden Land berücksichtigen. Das besagen auch die Grundsätze, die die Lan- desärztekammer Hessen den Ärzten für die Prüfung der Transportfähig-

keit von Abzuschiebenden an die Hand gegeben hat. Schwierig ist es jedoch, diese durchzusetzen, da die betroffenen Ärzte, meist Angehörige des Bundesgrenzschutzes oder Amts- ärzte, nicht dem Disziplinarrecht der Kammer unterstehen.

Um die medizinischen Belange der Abzuschiebenden kümmern sich derzeit in Frankfurt zwei Allge- meinärzte des Bundesgrenzschutzes.

Bei bis zu 12 000 „Rückführungen“

jährlich sind die Ärzte täglich im Ein- satz, um „unklare Gesundheitszustän- de“ zu klären. Blieben trotz medizi- nischer Untersuchung Zweifel, werde der Betroffene nicht abgeschoben, be- tont Dr. med. Klaus Merle, einer der beiden BGS-Ärzte. Auch wenn durch eine vorzeitige Abschiebung beispiels- weise nach einem Beinbruch bleiben- de Schäden drohten, bleibe der Pati- ent zunächst hier. „Das hat schon häu- fig zu Kontroversen mit dem Auslän- deramt geführt“, so Merle.

Es wird niemand

„flugfähig gespritzt“

Auch die Abschiebung chronisch Kranker wie Hepatitis-C- oder HIV- Infizierter werde abgelehnt. „Die Er- krankung wird durch die Rückfüh- rung nicht schlechter, aber es besteht

eine Gefahr für die begleitenden Be- amten“, lautet die Begründung. Psy- chisch Kranke oder Menschen, die an Krampfanfällen litten, würden auf dem Flug stets von einem approbier- ten Arzt begleitet, der kundig sei im Umgang mit Psychopharmaka. Der- zeit greift der Bundesgrenzschutz auf drei Ärzte zurück, die gegen ein Ho- norar die Flugbegleitung überneh- men. Merle betont, dass in keinem Fall Medikamente verabreicht wür- den, um eine Abschie- bung zu ermöglichen.

Pro Asyl bestätigt, es gebe derzeit „keine be- legten Fälle, in denen Leute flugfähig ge- spritzt werden“.

Die Beurteilung der Reisefähigkeit be- schränkt sich Merle zu- folge auf die Diagnose.

Lägen weder physische noch psychische Krank- heiten vor, „dann kann er fliegen“. „Wir schie- ßen aber nicht übers Ziel hinaus“, betont er.

Im Zweifel entscheide man sich für den Ver- bleib des Asylbewer- bers. Es bleiben die ethischen Bedenken ei- nes Teils seiner ärztli- chen Kollegen, die kri- tisieren, dass sich die Beurteilung der Reisefähigkeit häufig auf die Frage reduziert: „Überlebt er den Flug?“ Dazu Merle: Das Gericht entscheide in einem rechtstaatlichen Verfahren, wann eine Abschiebung anstehe. „Ein Arzt sollte sich nicht an- maßen, die richterliche Gewalt infra- ge zu stellen. Ich werde nicht gefragt, ob das hier richtig oder falsch ist. Das ist nicht mein Job.“ Dem Arzt müsse es jedoch möglich sein, in angemesse- ner Weise seine Diagnose zu stellen.

Wie umstritten ärztliche Gutach- tertätigkeit in einem brisanten politi- schen Umfeld sein kann, zeigt sich derzeit in Berlin. Dort werfen sich der Polizeiärztliche Dienst und niederge- lassene Fachärzte beziehungsweise Mitarbeiter der Behandlungszentren für Folteropfer gegenseitig vor, Gefäl- ligkeitsgutachten zu erstellen. Dabei geht es um 800 der rund 10 000 noch in Berlin lebenden Flüchtlinge aus Bos- Am Frankfurter Flughafen kommt es immer wieder zu Demonstrationen gegen die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber.

(4)

nien und Herzegowina. Ihnen haben niedergelassene Fachärzte eine post- traumatische Belastungsstörung be- scheinigt, die einer Abschiebung ent- gegensteht.

Auf Weisung des Innensenats überprüft der Polizeiärztliche Dienst seit Anfang 1999 systematisch sämtli- che vorgelegten fachärztlichen Atte- ste, die eine Traumatisierung beschei- nigen. Dabei kommen die Polizeiärzte in fast allen Fällen – bislang haben sie rund 300 begutachtet – zu einem an- deren Ergebnis als die behandelnden Ärzte.

Angelika Birck, Psychologin am Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin, hat aufgrund der großen Zahl diskrepanter Begutachtungser- gebnisse in einer Studie polizeiärztli- che Atteste mit den Stellungnahmen niedergelassener Fachärzte vergli- chen. Sie kommt zu dem Ergebnis, die polizeiärztlichen Gutachten orientier- ten sich nicht an internationalen Dia- gnose- und Qualitätsstandards, seien in ihrer Argumentation und Schluss- folgerung inkonsistent, widersprüch- lich und aus medizinischer und psy- chologischer Sicht fachlich nicht nach- vollziehbar. Die Argumente der Poli- zeiärzte machten nur in einem politi- schen Kontext Sinn, „der die Durch- setzung der Abschiebung fordert“, so die Folgerung von Birck. Die Poli- zeiärzte argumentierten entweder, die untersuchte Person sei gesund oder ihre Krankheit stehe in keinem Zu- sammenhang zu traumatischen Erleb- nissen und es bestehe kein Behand- lungsbedarf. Könne dieser nicht ge- leugnet werden, befänden die Poli- zeiärzte, die Behandlung sei auch im Herkunftsland möglich. Das bestrei- tet Birck. Rückendeckung erhält sie dabei vom Büro der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfra- gen, Marieluise Beck. Ein Mitarbeiter schrieb Birck Anfang Mai, trotz der verbesserten medizinischen Infra- struktur sei derzeit in Bosnien und Herzegowina keine sinnvolle Thera- pie von Traumatisierten möglich. Ei- ne Abschiebung traumatisierter Per- sonen komme daher regelmäßig nicht mehr in Betracht.

Birck weist zudem auf die Gefahr einer Retraumatisierung hin, sollten die kranken Flüchtlinge zwangsweise abgeschoben werden. Für viele be-

deute dies eine erneute Konfrontati- on mit ihren Peinigern. Schon das Hören des heimatlichen Dialektes könne Belastungssituationen auslö- sen, die im Extremfall zu akuter Suizi- dalität führten. „Das Risiko ist nicht zu verantworten“, so Birck.

Haben die Polizeiärzte die fachliche Qualifikation?

Zu einem ähnlich vernichtenden Urteil über die Qualität der Begut- achtungspraxis des Polizeiärztlichen Dienstes gelangte auch das Verwal- tungsgericht Berlin: „Dass die einge- setzten Ärzte die erforderliche fachli-

che Qualifikation für eine solche Be- gutachtung besitzen, kann nicht fest- gestellt werden“, heißt es in einer Ur- teilsbegründung. In allen Fällen, in denen auf richterliche Anordnung ein

„Drittgutachten“ angefertigt wurde, hat bislang der gerichtlich bestellte Sachverständige die Diagnose der niedergelassenen Fachärzte über eine Traumatisierung bestätigt. Das Ge- richt kritisierte zudem, dass bei den Untersuchungen des Polizeiärztlichen Dienstes keine professionellen Dol- metscher eingesetzt wurden. In einem Fall habe die achtjährige Tochter ei- ner Bosnierin als Übersetzerin ge- dient. Eine solche Verfahrensweise müsse „als offensichtlicher, durch nichts zu rechtfertigender ärztlicher Kunstfehler angesehen werden“.

Davon unbeeindruckt ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft wegen des Ausstellens unrichtiger Gesund-

heitszeugnisse gegen zwei niederge- lassene Ärzte, die rund 600 Flüchtlin- gen eine Traumatisierung attestiert haben. Allerdings konnte der Vorwurf der Gefälligkeitsatteste nicht belegt werden. Vielmehr wurde in bislang zehn Fällen von einem gerichtlich be- stellten Sachverständigen die ur- sprüngliche Diagnose über eine Kriegstraumatisierung bestätigt. Den- noch hat die Polizei die Praxis der Ärzte durchsucht und Patientenakten beschlagnahmt. Gegen die betroffe- nen Patienten wird ebenfalls ermittelt.

Ihnen wird vorgeworfen, unrichtige Gesundheitszeugnisse zu gebrauchen und damit gegen das Ausländergesetz zu verstoßen. Offenbar genügen der

Staatsanwalt- schaft die um- strittenen polizei- ärztlichen Gut- achten als Grund- lage für ein Er- mittlungsverfah- ren. „Ich halte das für ungeheu- erlich“, sagt der Rechtsanwalt der beschuldigten Ärzte. Hier wer- de nach einem Weg gesucht, Flüchtlinge zu kriminalisieren.

Damit erhöhe man den Druck auf die Betroffenen, „die Segel zu streichen“.

Die beschuldigten Ärzte sind überzeugt, dass in Berlin versucht wird, die Medizin für die Politik zu in- strumentalisieren. Den Vorwurf, dass sie rund 600 Patienten eine Traumati- sierung attestiert haben, erklären sie damit, dass es neben Institutionen wie dem Behandlungszentrum für Fol- teropfer in Berlin nur zwei Fachärzte gebe, die Serbokroatisch, die Mut- tersprache der Patienten, sprechen – Voraussetzung für eine angemessene Therapie. „Wir sind von der Flücht- lingsproblematik überrollt worden“, sagt einer der Ärzte, die in ihrem Pra- xisalltag feststellen, dass sich der Ge- sundheitszustand ihrer Patienten ver- schlechtert, je länger deren unsicherer Aufenthaltsstatus andauert. Zusätz- lich belastend, teils retraumatisie- rend, seien die Untersuchungen beim Nach ihrer Ankunft befragt ein Beamter des Bundesgrenzschutzes die Asylsuchenden.

Fotos (3): dpa

(5)

Polizeiärztlichen Dienst: „Es ist eine Schande, wie manche Patienten da be- handelt werden.“ Als Beleg dienen ih- nen Auszüge aus den Gedächtnispro- tokollen einiger Patienten. Frau T. S.

schreibt: „Als ich darüber [über die Kriegserlebnisse, d. Red.] erzählt ha- be, habe ich mich gefühlt, als ob dies gerade geschieht. Ich habe krampfar- tig geweint und um das Atmen gekämpft. . . . Nach dem Gespräch

konnte ich drei Nächte lang nicht schlafen.“ Herr C. U.: „Das Sprechen fiel mir schwer, da mein Sohn alle Ein- zelheiten [über Krankheit und Krieg, d. Red.] übersetzen musste. . . . Unser Gespräch dauerte circa 25 Minuten.“

Ein Ermittlungsverfahren gegen zwei Polizeiärztinnen, denen vorge- worfen wurde, Patientendaten an die Kriminalpolizei weitergegeben zu ha- ben, verlief ergebnislos. Der Poli- zeiärztliche Dienst sah sich gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt nicht in der Lage, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Gleichwohl hat sich mitt- lerweile die Senatsverwaltung für In- neres geäußert. „Es bestehen keine Zweifel an der Kompetenz des einge- setzten Fachpersonals“, lautet die Antwort auf die Vorwürfe, dem Poli- zeiärztlichen Dienst fehle die notwen-

dige fachliche Qualifikation bei der Begutachtung traumatisierter Flücht- linge.

Es gehe im Rahmen der Über- prüfung nicht um die Frage, ob allge- mein eine Traumatisierung vorliege, sondern darum, ob eine besonders schwer ausgeprägte posttraumati- sche Belastungsstörung bestehe, die die normale Lebensführung so ein- schränke, dass ohne Hilfe der Alltag

nicht mehr bewältigt werden könne.

Dies lasse sich in ein bis dreistündi- gen Vorspracheterminen relativ ver- lässlich feststellen. „Nur in diesen Fällen besteht überhaupt noch Ab- schiebeschutz“, so der Innensenat.

Die Wertungen des Verwaltungsge- richts teile man im Übrigen nicht.

Zudem seien diese im Rahmen von Einzelfallentscheidungen getroffen worden.

Zweitgutachter müssen unbhängig sein

Die Kritiker des derzeit in Berlin praktizierten Verfahrens, darunter die Berliner Ärztekammer, wehren sich nicht generell gegen eine Über- prüfung von Attesten. Sie fordern je-

doch, diese auf begründete Einzelfäl- le zu beschränken. Zudem sollten die Zweitgutachter über jeden Vorwurf mangelnder Unabhängigkeit erha- ben sein und über eine fachliche Qualifikation in der Begutachtung von traumatisierten Flüchtlingen verfügen – eine Forderung, die die Delegiertenversammlung der Berli- ner Ärztekammer erst kürzlich be- kräftigt hat.

Wie deren Men- schenrechtsbeauftragter, Torsten Lucas, betont, hat die Berliner Kammer dem Polizeiärztlichen Dienst und der Innenverwaltung bereits mehrfach vergeb- lich Gespräche angebo- ten. Inzwischen hat der Innensenat gegenüber dem Deutschen Ärzte- blatt erklärt, ein Ge- spräch mit dem Präsiden- ten der Berliner Ärzte- kammer, Dr. med. Günter Jonitz, stehe umittelbar bevor.

Brigitte Brand-Wil- helmy, Psychoanalytike- rin im Psychosozialen Zentrum für ausländische Flüchtlinge in Köln, fin- det die Vorgänge in Berlin ungeheuerlich. Dass sol- ches nicht die Regel sein muss, belegt jedoch das Beispiel Köln. „Die Ko- operation mit dem Sozial- psychologischen Dienst des Gesund- heitsamtes funktioniert gut“, sagt Brand-Wilhelmy. Zudem habe das Zentrum viel Zeit und Arbeit inve- stiert, um beispielsweise im Rahmen gemeinsamer Fachtagungen die Zu- sammenarbeit mit den Behörden zu verbessern. „Es gibt immer noch genügend Probleme. Aber wir wollen Polarisierungen vermeiden. Das nützt niemandem.“

Am 27. Mai hat sich Bundesin- nenminister Otto Schily für traumati- sierte Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo einge- setzt. Er legte den Ländern nahe, den gesetzlichen Rahmen für längerfristi- ge Duldungen voll auszuschöpfen. Er hat endlich ausgesprochen, was Ärz- te- und Menschenrechtsorganisationen seit langem fordern. Heike Korzilius Auch Kinder müssen oft Wochen oder Monate in der Einrichtung des Flughafen-Sozialdienstes am Frankfurter Flughafen verbringen.

Foto: ap

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Einer Umfrage des Berufs- verbandes der Arzt-, Zahn- arzt- und Tierarzthelferinnen (BdA) zufolge hat sich die Beschäftigtenstruktur in den Arztpraxen „alarmierend ent- wickelt“:

Ein Fall für Mitchell & Markby, aus dem Eng- lischen von Edith Walter, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Glad- bach, 1997, 384 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag, 36 DM.. Die

Wertet man die rund 1000 An- fragen aus, die HIP im vergangenen Jahr beantwortet hat, läßt sich gene- rell sagen, daß sich diese Service- Einrichtung der Kassenärztlichen

Grund für diese dramati- sche Entwicklung sind die Sparbeschlüsse der Bundes- regierung: Für Rehabilitati- ons-Leistungen darf die Ren- tenversicherung nicht mehr ausgeben als

Zum anderen ist es denkbar, dass Prüfungsangst und Lerndruck die Ein- stellung der PJler dominieren. Konnten die Studenten dem früheren dritten Staatsexamen bei einer

Auch, dass die ärztlichen Aktionen schon lange und bundes- weit andauern, dass Zehntausende mitmachen, besagt für sich genom- men nicht viel.. Fast jeden Tag erhebt irgendeine

Nachdem er sich selbst röntgendurchleuch- tete, was er mit Hilfe eines gro- ßen Spiegels zuwege brachte, und nach Durchforschen ein- schlägiger Literatur, kam er auf einen

Darüber hinaus werde die freie Arztwahl der Patienten untergraben, wenn ein priva- ter Arztsuchdienst nur an die Ärzte verweise, die sich gegen Entgelt in eine