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Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD)1945-1949

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Apollon Davidson, Irina Filatova, The Russians and the Anglo-Boer War 1899-1902, Cape Town, Pretoria, Johannesburg: Human & Rousseau 1998, 287 S. [ISBN 0-7987-3804-1]

Eine kaum zu überblickende Anzahl von wissenschaftlichen Konferenzen, aber auch eher nationalistischen oder militaristischen Charakter tragende Veranstal- tungen, Gedenkmeetings, Reisen an historische Orte, eine Vielzahl von Büchern und filmische Dokumentationen sind aus Anlaß des 100. Jahrestages dem Buren- krieg, der auch als Anglo-Boer War oder South African War bekannt ist, gewid- met. Im August 1998 fand dazu schon die erste geschichtswissenschaftliche Ta- gung von Bedeutung in Pretoria statt.

Die beiden in Südafrika lebenden russischen Historiker Davidson und Filato- va legen zur Thematik eine recht umfangreiche Monographie vor. Teilergebnisse hieraus hatten sie in den vergangenen Jahren auf Konferenzen in Südafrika und Europa bereits vorgetragen und in Fachzeitschriften zur Diskussion gestellt.

Abgesehen von einer ausführlichen Untersuchung der Exil-Russin Elizaveta Kandyba-Foxcroft (Russia and the Anglo-Boer War, 1899-1902, Roodepoort 1981) sowie einer bereits 1949 in der Sowjetunion verteidigten Dissertation (Alexander L. Vitukhnovsky, Rossiia i anglo-burskaia voina, Leningrad 1949) ist die vorlie- gende die erste tiefgreifende Darstellung der diplomatischen und vor allem mi- litärischen Unterstützung des russischen Zarenreiches für die Buren in ihrem zwei- ten Unabhängigkeitskampf gegen die Briten. Die Unterstützung einer ganzen Rei- he von europäischen Mächten sowie den USA, bestand vor allem in der Entsendung von Freiwilligen, die auf Seiten der burischen Kommandos kämpften. Die russi- sche Unterstützung zeichnete sich zudem besonders durch die Bereitstellung von Sanitätern aus.

Die meisten historischen Quellen über den Krieg sind erst nach dem Zusam- menbruch der Sowjetunion zugänglich geworden. Aber auch in Südafrika wurden sie zusammengetragen und ausgewertet. Das ist ein großes Verdienst der beiden Autoren. Die Breite ihrer Untersuchungen ist beachtlich. Sie reicht von der teil- weisen (wenn auch relativ geringen) Unterstützung der Buren durch Russen, die vor allem auf familiäre Beziehungen zurückzuführen sind, über die militärge- schichtlichen Aspekte des Einsatzes bzw. des organisatorischen Aufbaus der rus- sischen Freiwilligenverbände unter dem »russischen Buren-Anführer« Yevgeny Maximov bis hin zur Analyse der Ursachen für die breite burenfreundliche Stim- mung in dei; russischen Öffentlichkeit. Die Studie zeigt insofern, wie geschichts- wissenschaftliche Untersuchungen von anderen internationalen Freiwilligen-Ver- bänden im Burenkrieg aussehen können. Mit Ausnahme der Dissertation des öster- reichischen Militärhistorikers Erwin Schmidl (Österreicher im Burenkrieg, 1899-1902, Wien 1980) sind die Aktivitäten anderer europäischer Freiwilligenver- bände in jüngster Zeit nicht untersucht worden. Dies obwohl Portugiesen, Nie- derländer, Amerikaner, Franzosen, Italiener, Skandinavier und nicht zuletzt Deut- sche sich den Buren in ihrem Kampf gegen die Engländer zur Seite gestellt und oftmals eigene Corps gebildet hatten. In Deutschland sind zwar in den letzten Jah- ren die diplomatischen Hintergründe der vorangegangenen Transvaalkrise (Ha- rald Rosenbach, Das Deutsche Reich, Großbritannien und der Transvaal, 1896-1902, Göttingen 1993), die Rolle der Presse in der Vorbereitung des Krieges (Ulrich van der Heyden, Politisches Kalkül oder doppeltes Spiel?, in: Peter Heine und Ulrich

Militärgeschichtliche Mitteilungen 58 (1999), S. 147-219 © Militärgeschichtliches Forschimgsamt, Potsdam

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van der Heyden, Studien zur Geschichte des deutschen Kolonialismus in Afrika, Pfaffenweiler 1995, S. 309-330) und vor allem die Burenagitation in den Nieder- landen, in Frankreich und in Deutschland (Ulrich Kroll, Die internationale Buren- Agitation 1899-1902, Münster 1973) untersucht worden, jedoch fehlen noch solch umfassende Untersuchungen, wie sie nunmehr für die russischen Freiwilligen vor- liegen. Denn hier werden nicht nur die diplomatischen Prozesse und die öffentli- che Meinung in den europäischen Ländern dargestellt, sondern im Zusammen- hang mit den Ereignissen auf dem Kriegsschauplatz analysiert.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile, die von einem Prolog und einem Epilog um- schlossen werden. Der erste Teil des Buches wendet sich in neun Kapiteln neben der Darstellung von einigen Schlachten der Analyse des Anteils der russischen Freiwilligen zu und untersucht deren soziale Zusammensetzung sowie deren Mo- tive. Die acht Kapitel des zweiten Teiles beschäftigen sich mit der Darstellung und Widerspiegelung des Krieges in den russischen Medien, mit den unterschiedlichen Haltungen der verschiedenen politischen Gruppierungen im Zarenreich, mit den diplomatischen Aktivitäten Rußlands sowie der Rezeption des Krieges vor allem in der russischen Literatur. Das damals sehr populäre Lied »Transvaal, Transvaal, My Country« wurde bereits zum Ende der Sowjetzeiten wiederbelebt, als man in Moskau versuchte, den lange unterbrochenen Kontakt nach Südafrika erneut her- zustellen.

Im Prolog weisen die Autoren auf die Tatsache hin, daß die Bewertung des Bu- renkrieges in den letzten Jahrzehnten eine neue Richtung bekommen hat. In der Tat ist man von der vereinfachten Vorstellung eines »Krieges des weißen Mannes« ab- gekommen. Seit Peter Warwicks Buch über die Einbindung der afrikanischen Be- völkerung in diese kriegerische Auseinandersetzung (Black People and the South African War, 1899-1902, Cambridge 1983) wird in der Historiographie zunehmend auch die Bedeutung der nicht-weißen Bevölkerungsgruppen in dem Krieg unter- sucht. Leider sagt das vorliegende Buch hierüber wenig aus.

Dennoch kann das Werk von Davidson und Filatova, wie anfangs schon be- tont, als Vorbild für ähnliche Darstellungen gelten. Das betrifft nicht nur die Akri- bie, mit der die Untersuchung und die Einbettung des Stoffes in den historischen Kontext vorgenommen wird, sondern gilt auch für die Detailversessenheit, die zu- weilen allerdings den Anschein von Provinzialismus nur schwerlich widerlegen kann.

Insgesamt betrachtet liegt mit dem Buch ein großartiger Beitrag zur Aufarbei- tung bislang wenig beachteter Seiten des Südafrikanischen Krieges sowie des rus- sisch-südafrikanisch-britischen Verhältnisses im Übergang vom 19. zum 20. Jahr- hundert vor.

Ulrich van der Heyden

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd 3: Von der >Deut*

sehen Doppelrevolution< bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München: Beck 1995,1515 S„ DM 118,— [ISBN 3-406-32263-8]

Mit dem nunmehr dritten Band der zwei Jahrhunderte umfassenden deutschen

»Gesellschaftsgeschichte« des Bielefelder Historikers Hans-Ulrich Wehler liegt — neben zahlreichen kleineren zusammenfassenden Darstellungen — jetzt die drit-

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te voluminöse »Geschichte des Kaiserreichs« von einem der ganz Großen unserer Zunft vor. Dies ist ein außerordentlich erfreuliches Ereignis, denn Wehler ist schließ- lich einer derjenigen, die in den 1960er und 70er Jahren die »verstaubte«, hinter der allgemeinen Forschung hinterherhinkende bundesdeutsche Geschichtswis- senschaft gerade durch ihre theoriegeleitete Beschäftigung mit der Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts herausgefordert und »modernisiert« haben. Man- che These war dabei zweifellos eher eine stimulierende Provokation als eine auf fundierten Forschungsergebnissen beruhende plausible Erklärung für vergangene Ereignisse und Entwicklungen. Dennoch: der Streit darüber war — jenseits aller Polemik — insgesamt erfrischend und förderlich. Mit um so größerer Spannung wurde daher diese große Synthese erwartet, konnte sie doch — mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Wehlers ersten, die Wissenschaft provozierenden Werken — darüber Aufschluß geben, inwieweit der Autor an seinen damaligen Thesen festhielt bzw. sie unter dem Eindruck des Fortschritts der Forschung mo- difizierte oder auch ganz in Frage stellte. Die Antwort darauf, dies sei hier vor- weggenommen, ist einfach: Wehler ist sich, bei allen Differenzierungen im einzel- nen, grundsätzlich treu geblieben, und dies erscheint zumindest dem Rezensenten auch gut so.

Dieses Werk ist beeindruckend, nicht zuletzt auch aufgrund des gesellschafts- geschichtlichen Ansatzes, mit dem Wehler das Thema »angeht« und durch den er sich in vielfacher Hinsicht von Thomas Nipperdey und Wolfgang J. Mommsen, den beiden anderen großen Interpreten, unterscheidet. Betrachtet man zunächst die »Komposition«, dann zeigt sich, daß Darstellung und strukturelle Analyse kaum einen Aspekt der Entwicklung zwischen 1849 und 1914 auslassen: Ob man sich nun für Industrialisierung und Urbanisierung, die Herausbildung von Klas- sen und Schichten, Parteien oder kulturelles Leben, die Revolution von oben oder den Bismarckschen Sozialimperialismus, die wilhelminische Ära und die »Julikri- se« interessiert — Wehler gibt, gestützt auf jahrzehntelange eigene Forschungen und eine meisterhafte Beherrschung der kaum noch übersehbaren Literatur einen kompakten, teilweise faszinierenden Überblick, ohne dabei einerseits, wie bei der Behandlung der Außenpolitik, mit — teilweise unnötig überspitzter — Kritik an Kontrahenten zu sparen, ohne andererseits aber auch — das Fallenlassen der The- se vom »organisierten Kapitalismus« ist dafür ein gutes Beispiel — auf Korrektu- ren bisher vertretener eigener Ansichten zu verzichten.

Betrachtet man Wehlers Analyse anhand einiger Beispiele, mehr ist aufgrund des großen Umfangs in einer kurzen Buchbesprechung gar nicht möglich, dann zeigen allein die einleitenden Passagen über aie Spezifika der deutschen Doppel- revolution, daß der Autor an der sein Lebenswerk kennzeichnenden These vom deutschen »Sonderweg« festhält. Verantwortlich für diesen Eigenweg war seiner Meinung nach nicht das Scheitern der Revolution von 1848/49, sondern die kri- senhafte Überlappung komplizierter Entwicklungsprobleme wie der Entfaltung des Industriekapitalismus und des endgültigen Vordringens der »marktbedingten Klassen«, aber auch der Herausbildung eines einheitlichen nationalen Machtstaats in der Mitte Europas. Die daraus resultierende Modernisierungskrise betrachtet er dennoch nicht als Einbahnstraße in die Katastrophe, zumal gerade auch aus Sicht der nunmehr »besser« beurteilten Liberalen vieles entwicklungsfähig schien. Daß alle Reformanläufe letztlich jedoch gescheitert sind, war nach Wehlers Auffassung eine schwere Belastung für die Zukunft. Daß es dazu kommen konnte, lag seiner Meinung nach einerseits an der Aufwertung des Adels, der politischen Zweitran-

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gigkeit des Bürgertums, der Isolierung der marxistischen Arbeiterbewegung und der Härte der Klassengegensätze, andererseits, und darauf legt er das Schwerge- wicht, dem politischen Herrschaftssystem und der dieses tragenden sozialen Kräf- tekonstellation. Viele, gerade auch jüngere Historiker, werden Wehler daher man- gelnde »Lernfähigkeit« vorwerfen, da sie die ganze Debatte über den »Sonderweg«

für überflüssig halten. Doch davon kann, allein von der Sache her, keine Rede sein.

Darüber hinaus zeigt gerade Wehlers Diskussion der »Feudalisierungsthese«, die in der »Sonderwegsdebatte« eine große Rolle spielte, daß er sich um plausible, dif- ferenzierende Erklärungen bemüht. Angestoßen durch die intensive Bürgertums- forschung der 1980er Jahre spricht er nicht mehr pauschal von der »Feudalisie- rung« des Bürgertums; auch von einem »Defizit an Bürgerlichkeit« ist angesichts des unbestreitbaren Durchbruchs bürgerlicher Wertvorstellungen in Wirtschaft, Recht und Kultur keine Rede mehr. Eine »extrem anpassungsbereite Staatsorien- tiertheit, eine starre Fixierung auf die starke, bürokratisierte Monarchie bis hin zu einer ideologisierten Staatsobödienz« (S. 765) sind für ihn aber ein unverkennba- res Kennzeichen geringen, von Bismarcks »charismatischer Herrschaft« freilich auch gezielt gebrochenen Selbstbewußtseins und, insofern, eine Erklärung für den deutschen »Sonderweg«.

Die »Meßlatte« ist, so kann man resümierend feststellen, also weiterhin die Ent- wicklung in Westeuropa. Dies mag man unter Hinweis auf die dort zeitversetzt auftretenden Probleme grundsätzlich kritisieren oder gar als unhistorisch abtun;

Wehlers Behauptung, daß der liberal-demokratische Parlamentarismus, so wenig auch dieser gegen Fehlentwicklungen gefeit ist, mit seiner elastischsten Verfassung

»am ehesten imstande ist, aus eigenen Fehlern zu lernen und sie auf friedlichem Weg aus eigener Kraft zu korrigieren« (S. 1294), ist unter dem Eindruck vergan- gener und gegenwärtiger Entwicklungen dennoch nur schwer zu widerlegen. Weh- lers »Kaiserreich« wird daher auch weiterhin die Forschung anregen, selbst wenn es aufgrund der vielen Zahlen, Statistiken und »trockenen« strukturgeschichtli- chen Kapitel gelegentlich eine etwas »schwere« Lektüre ist.

, Michael Epkenhans

Christoph fahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deut- schen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998,419 S. (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 123), DM 78,—

[ISBN 3-525-35786-9]

Diese Studie, in der eine außerordentlich vielschichtige Problematik in bestechen- der Weise vorgestellt und analysiert wird, nähert sich im Titel Goldhagens »Ganz gewöhnliche[n] Deutschefn] oder auch Brownings »Ordinary Men«. Allerdings stehen hier nicht die Täter im Dienste einer rassistischen Ideologie, ihre Vollstrecker im Mittelpunkt des Interesses, die Untersuchung konzentriert sich vielmehr auf eine Gruppe von unangepaßten, in ihrem Verhalten von der »Norm« abweichen- den, ganz gewöhnlichen Soldaten — den Deserteuren des deutschen und briti- schen Heeres im Ersten Weltkrieg.

Generell ist die Desertion in den letzten Jahren mehrfach Gegenstand historischer Untersuchungen gewesen (vgl. zum Beispiel Michael Sikora, Disziplin und Deser- tion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996,

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und den Sammelband Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, hrsg. von Ulrich Bröckling und Michael Sikora, Göt- tingen 1998) und auch in der deutschen Öffentlichkeit ist das Thema mit Blick auf die Endphase des Zweiten Weltkrieges erörtert worden. So unterschiedlich die Motive und Zielsetzungen der Akteure in diesem Diskurs auch gewesen sein mögen und auch weiterhin sein werden, gemeinsam ist ihnen die Erkenntnis, daß die Beschäf- tigung mit dem Phänomen der Desertion zu einem in mancherlei Hinsicht klarer konturierten Bild der jeweiligen zivilen und militärischen Gesellschaft führt. Diese Perspektive steigert die Erwartungen an die zu besprechende Studie, zumal der Ver- fasser den Vergleich der entsprechenden Verhältnisse im deutschen und britischen Heer zum zentralen Aspekt seiner Arbeit gemacht hat. Man braucht nur an die häu- fig erwähnte, gänzlich unterschiedliche Handhabung der Todesstrafe in beiden Ar- meen erinnern, um die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes zu erah- nen.

In der Einleitung befaßt sich der Verfasser u.a. mit den Voraussetzungen des Vergleichs. Beide Armeen hatten sich im 19. Jahrhundert gegensätzlich entwickelt.

Auf der einen Seite das »volkstümliche«, alle Schichten der Gesellschaft erfassen- de Wehrpflichtigen-Heer des Kaiserreiches, geführt von einem prestigeträchtigen und -süchtigen, die Nation repräsentierenden Offizierkorps. Auf der anderen Sei- te eine zahlenmäßig bescheidene Berufsarmee, deren Ansehen und gesellschaftli- che Akzeptanz mehr als gering war, kommandiert von einem Offizierkorps aus den gesellschaftlich führenden Schichten, das eine mit Nichtachtung verbundene Klassenschranke von den Mannschaften trennte. Die Frage erhebt sich, inwieweit diese ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen Ausmaß und Umgang mit dem Phänomen der Desertion bestimmten.

Weiterhin macht der Verfasser mit Recht darauf aufmerksam, daß die aus- schließliche Betonung des Prinzips von Befehl und Gehorsam, die Reduktion der Strukturelemente einer Armee auf das Bild einer »totalen« Institution der histori- schen Realität nicht entspricht. Auf keinen Fall entspricht dieses Bild in seiner Aus- schließlichkeit der Realität der Massenheere im industrialisierten Volkskrieg, in dem sich die beiden Armeen vier Jahre lang gegenüberstanden. Für die Reaktion auf die Desertion sowie für die Deserteure selbst sind damit die generellen Vor- aussetzungen bezeichnet, deren Auswirkungen und Veränderungen während des Krieges der Autor in den einzelnen Kapiteln seiner Studie nachgeht.

Die Quellenbasis, auf die er sich dabei stützen kann, ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Für die deutsche Seite ist Jahr nach dem weitgehenden Verlust der preußischen Akten auf die bundesstaatlichen Reste der Überlieferung angewiesen, wobei er sich generell auf die Auswertung der fast vollständig erhaltenen bayeri- schen Militärakten konzentriert. Da diese bundesstaatlichen Akten die politische Linie und die Maßnahmen des preußischen Kriegsministeriums reflektieren, ge- lingt es dem Verfasser, durch behutsame Interpretationen und Berechnungen ein durchaus überzeugendes Gesamtbild der deutschen Verhältnisse zu zeichnen. Für die britische Seite stand Jahr vor der Schwierigkeit, daß »die britischen Gerichts- akten sehr viel weniger aussagekräftig sind als die bayerischen«, zumal nur »die- jenigen der vollstreckten Todesurteile« sich erhalten haben. Allerdings bilden die Berichte verschiedener Parlamentsausschüsse und die Memoiren der beteiligten Soldaten einen gewissen Ausgleich, so daß der Verfasser trotz dieser Einschrän- kungen in der Lage ist, auch für Britannien die generellen Aspekte des Phänomens Desertion überzeugend darzulegen.

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In einem ersten Kapitel skizziert Jahr die Entwicklung der Militärgerichtsbar- keit und in einem zweiten Schritt die Sozialstruktur der beiden Armeen mit ihren Implikationen. Dabei gelangt er zu der Feststellung, daß sich in dem reformorien- tierten Militärstrafgesetzbuch von 1872 und der weniger innovativen Militärstraf- prozeßordnung von 1898 das für das Kaiserreich typische »direkte Nebeneinan- der relativ moderner und relativ rückständiger Verhältnisse« zeige (S. 46). Die mi- litärgerichtliche Spruchpraxis, nicht unwesentlich bestimmt durch das Wirken der etatisierten Militärjuristen, habe sich durch eine relative Milde der ausgesproche- nen Strafen ausgezeichnet. Ganz anders dagegen die Verhältnisse im britischen Heer: Zur Kodifizierung des Militärstrafrechts kam es erst zu Beginn der 80er Jah- re des 19. Jahrhunderts und ein besonderes Militärjuristenkorps existierte nicht.

Die Militärgerichtsbarkeit lag im wesentlichen in den Händen der außerordentlich standesbewußten Offiziere, die kaum Kontakt zu den sich aus den Unterschichten rekrutierenden Mannschaften hatten. In der militärgerichtlichen Spruchpraxis herr- schte der Abschreckungsgedanke vor, sie war gekennzeichnet durch »sehr hohe Strafen [...], die durch systematisches Begnadigen< herabgesetzt wurden« (S. 55).

Rechtssicherheit war nicht gegeben. Es erhebt sich die Frage, wie diese doch sehr unterschiedlichen Rechtssysteme auf die Realitäten des Weltkrieges reagierten, ins- besondere wie sie mit dem Straftatbestand der Desertion umgingen.

Um die Rahmenbedingungen zu erfassen, unter denen sich die Desertion im Weltkrieg abspielte, skizziert Jahr sodann die Organisationsstruktur der beiden Armeen und ihre Veränderungen sowie die Phasen des Kriegsverlaufs an der West- front, auf die er sich aus verständlichen Gründen konsequent beschränkt. In einem weiteren Schritt analysiert er für die deutsche Seite die rechtlichen Regelungen zum Straftatbestand der Desertion und der unerlaubten Entfernung. Die Deserti- on war an den Nachweis der Absicht gebunden — ein Nachweis, der nur außer- ordentlich schwer zu erbringen war. Aus diesem Grunde war für die unerlaubte Entfernung eine Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis vorgesehen. Interessant ist, daß die Strafen für die beiden Delikte unmittelbar vor Ausbruch des Krieges und mitten im Krieg — im April 1917 — nicht unerheblich herabgesetzt wurden. Für das Verfahren selbst hebt der Verfasser die dominierende Figur des Gerichtsherrn, den Ausschluß der Unteroffiziere und Mannschaften von der Richterbank, aber auch die der zivilen Gerichtsbarkeit entsprechende Stellung des Verteidigers her- vor. Er kommt zu dem Ergebnis, daß das materielle Strafrecht »die Rechtsstaat- lichkeit betonte« während im Prozeßrecht »der autoritäre Charakter des politisch- gesellschaftlichen Systems« (S. 88) zum Ausdruck kam. Auf der britischen Seite war die »juristische Regelungsdichte« sehr viel geringer, die »Verfahren insgesamt

>pragmatischer< im Sinne der Militärführung«, die über einen »wesentlich größe- ren Ermessensspielraum bei der Urteilsfindung und der Strafbemessung« verfüg- te (S. 92). Der Gedanke der Abschreckung beanspruchte Priorität und die »Unab- hängigkeit der juristischen Entscheidungsfindung« war noch weniger gewährlei- stet als auf der deutschen Seite (S. 92).

Die Militärjustiz hatte es mit dem einzelnen Soldaten zu tun, dessen Alltag im Stellungskrieg bestimmt wurde durch die Gefährdung des Lebens, die Primitivität der Lebensverhältnisse, die Repression der militärischen Hierarchie sowie durch die Freiräume, die sich in den Nischen einer Massenorganisation boten. Von ihm wurde bedingungsloser Gehorsam, aber auch eigenständiges Handeln im Sinne der Befehle gefordert. Nicht nur die drillmäßig eingeübte Disziplin, sondern auch die Einsicht in die Notwendigkeit militärischer Anforderungen sollten ihn leiten.

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Und er hatte einem Offizier zu gehorchen, der seine unbegrenzte Befehlsgewalt mit der Fürsorgepflicht für die Untergebenen zu vereinen hatte. Diese widerstrei- tenden Prinzipien im personalen Beziehungsgeflecht der Truppe mußten zu Kon- flikten führen — im Extremfall zur Desertion.

In einem umfangreichen Kapitel schildert Jahr die vielfältigen Formen der De- sertion und versucht, ein Bild der Motive der Deserteure zu entwerfen. Es ist nicht überraschend, daß sich bezüglich der Formen zwischen den beiden Armeen kaum Unterschiede zeigen. Sehr bemerkenswert ist allerdings das Verhalten der briti- schen Administration gegenüber der pazifistischen Organisation »No Conscrip- tion Fellowship«, vor allem aber gegenüber den ca. 16 500 Kriegsdienstverweige- rern, denen ein waffenloser »Alternativdienst« offen stand und von 90 Prozent auch akzeptiert wurde (S. 126 f.). Vergleichbares läßt sich von der deutschen Seite nicht berichten. Die Vielzahl der in den Gerichtsverfahren vorgebrachten Motive und die statistische Auswertung bestimmter Umstände der Desertion lassen es nicht zu, ein Profil »des« Deserteurs zu zeichnen. Die Individuen standen den Re- präsentanten einer Massenorganisation gegenüber, deren Führung ihre totale Ver- fügungsmacht über den einzelnen Soldaten, ihren Anspruch, eine totale Instituti- on zu sein, nicht glaubte aufgeben zu können. Dabei weist der Autor mit einer Viel- zahl von sehr aufschlußreichen, durch die Quellensituation jedoch beeinträchtig- ten statistischen Berechnungen nach, daß die Desertion rein zahlenmäßig zu keinem Zeitpunkt eine akute Bedrohung der beiden Armeen darstellte (S. 155,175 f.). In- teressant ist die Beobachtung, daß die Zahl der Kriegsgerichtsverfahren wegen De- sertion in der britischen Armee im Winter 1914/15 proportional am höchsten war (S. 169). Bei der deutschen Armee zeigt sich eine signifikante Steigerung der De- sertionsrate um die Jahreswende 1916/17 (S. 150) — eine Zeitspanne, die auch in anderen Bereichen als eine Wende des Krieges erscheint. Jahr ist der Meinung, daß für die »wirklich umfassende Auflösung der Kommandoautorität« auf deutscher Seite der 5. Oktober 1918, die Bitte um Waffenstillstand, entscheidend gewesen ist (S. 166). Wenn die Betonving auf »umfassend« liegt, wäre wohl an den 9./10. No- vember zu denken. Doch dieser schleichende, über Monate sich hinziehende Pro- zeß entzieht sich der Eingrenzung durch ein Datum.

Die Militärführungen beider Seiten waren natürlich bestrebt, der Desertion und allen Formen der »unerlaubten Entfernung« durch ein möglichst dichtes Netz der Kontrollen und gegebenenfalls von Repressionen vorzubeugen. Allerdings konn- te die Wirkung dieser Maßnahmen nur begrenzt sein, denn keine noch so nach- drückliche Kontrolle konnte alle Schlupflöcher schließen, und je schärfer die Re- pression, desto stärker der Drang, sich diesem Zwangssystem auf welche Art und Weise auch immer zu entziehen. Die Strafjustiz stand vor der Situation, sich den Interessen der Militärführung unterzuordnen oder aber die Eigenständigkeit und die Gesetzestreue einer fairen Militärjustiz aufrechtzuerhalten. Auf britischer Sei- te stand die Dominanz der Militärführung und der Gedanke der Abschreckung, de- ren äußerste Konsequenz die Todesstrafe war, ganz im Vordergrund. Der Verfas- ser zitiert eine aufschlußreiche Weisung des Oberbefehlshabers der 1. Armee, Haig, aus dem Januar 1915, mit der — entgegen der gesetzlichen Regelung — dem der Desertion Beschuldigten die Beweislast auferlegt wurde (S. 207). Die Folge waren 349 vollstreckte Todesurteile (S. 214), davon 269 wegen Desertion gegenüber 18 auf deutscher Seite (S. 18,234). Inder zweiten Kriegshälfte machte sich dann über die Subalternoffiziere zunehmend der Einfluß der »citizen army« geltend und führ- te zu einer Milderung der Spruchpraxis der Gerichte. Wie sehr die generelle Pro-

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blematik auch im deutschen Militärjustizwesen virulent war, zeigt Jahr an Hand von Zitaten der Protagonisten einer gesetzestreuen bzw. einer allein der Disziplin- wahrung verpflichteten Rechtssprechung (S. 193 f.). Doch während des Krieges blieb die Praxis der Kriegsgerichte erstaunlich »zivilisiert«, ein fairer Prozeß war keine Illusion, von der Milderung der Strafen war schon die Rede. Aber auch die Mäßigung in der Strafzumessung bewahrte die deutsche Militärjustiz nicht vor dem Dilemma, daß Haftstrafen angesichts der Verhältnisse an der Front für die Delinquenten ihre abschreckende Wirkung verloren hatten. Strafaufschub und Mi- litärgefangenenkompanien waren Auswege, die weder die Militärführung noch die Militärjustiz befriedigen konnten.

Welche Formen die Repressionspolitik der Armeeführung annehmen konnte, sobald nationalistische Vorurteile hinzutraten, zeigt Jahr in einem ausführlichen Kapitel über die »Stiefkinder des Vaterlandes«, die Elsaß-Lothringer im deutschen Heer. Der Verfasser macht darauf aufmerksam, daß nach der Kriminalstatistik für das deutsche Heer die Desertionsrate seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts kontinuierlich abgenommen hatte und sich den »Normalwerten« im übrigen Reich annäherte. Zabern und das Verhalten in der Eröffnungsphase des Krieges machten aber deutlich, daß die Militärführung die Bewohner der Reichslande nach wie vor als wenig vertrauenswürdige, dem »Erbfeind« gegenüber aufgeschlossene Bürger und Soldaten, als »unsichere Kantonisten« betrachtete. Und so entwickelte die mi- litärische Hierarchie auf allen Ebenen von Anfang an ein Netz von immer schär- feren Repressionsmaßnahmen. Und die Maßnahmen wurden abgestützt und ge- fördert durch eine entsprechende Wahrnehmung der Realität. So wurden — als im August 1914 mehrere Hundert Soldaten zweier Regimenter in französische Ge- fangenschaft gerieten — nur die 200 Elsässer wahrgenommen, die auch darunter waren, und diese wurden sofort als Deserteure, als Überläufer bezeichnet (S. 257).

Die Diskriminierung war so durchdringend und umfassend, daß die generell in der Armee aufrechterhaltenen rechtlichen Normen für die Minderheit der elsaß-loth- ringischen Soldaten außer Kraft gesetzt waren. Mit dieser Repressionspolitik wur- den im Zeichen eines engen deutschen Nationalismus die bis 1913/14 durchaus erfolgreichen integrativen Kräfte vollkommen desavouiert.

Um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum es im Zweiten Weltkrieg in den beiden Armeen zu einer völligen Umkehrung der militärgerichtlichen Praxis (ca. 15 000 vollstreckte Todesurteile in der Wehrmacht gegenüber vier auf briti- scher Seite; (S. 324, 332) gekommen ist, skizziert der Verfasser die entsprechende politische Entwicklung in der Zwischenkriegszeit. Dabei kann er nachweisen, daß die Militärführung in Großbritannien bis in den Zweiten Weltkrieg hinein an ihrer Überzeugung von der abschreckenden Funktion der Militärjustiz und der von ihr ausgesprochenen Strafen, insbesondere der Todesstrafe, festgehalten hat. Es war das Parlament, die politische und gesellschaftliche Repräsentanz der Nation, die in ei- nem mehr als ein Jahrzehnt andauernden Prozeß der Armee die Reform des Mi- litärgerichtswesens verordnete und über ihre Durchführung wachte. Auf deutscher Seite ist die Entwicklung gekennzeichnet durch Brüche. Während des Krieges war der Reichstag — unter Einschluß der konservativen Kräfte und im Konsens mit dem preußischen Kriegsministerium — in der Lage, Strafmilderungen durchzu- setzen. Die Auswirkungen des verlorenen Krieges veränderten die politische Land- schaft radikal, ein Umstand, der gerade im Vergleich mit Großbritannien vom Ver- fasser kaum berücksichtigt wird. Die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit im Sommer 1920 war ein später Erfolg der Weimarer Koalition, deren politische Basis

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bereits brüchig geworden war. Mit der Wiedereinführung der Militärgerichtsbar- keit im Mai 1933 und der darauf folgenden Entwicklung setzte sich eine »radika- lisierte Abschreckungsideologie« kombiniert mit der »sozialdarwinistischen Ka- tegorie der >Ausmerze<« auch gegenüber den Volksgenossen in Uniform durch (S. 324). Die bis 1918 erkennbare rechtsstaatliche Tradition auch im Militärjustiz- wesen wurde unter tätiger Mithilfe der Militärjuristen in ihr Gegenteil verkehrt.

Möglich wurde dieser Traditionsbruch, weil Rechtsstaatlichkeit nur in einer sie ge- staltenden und jederzeit stützenden Gesellschaft denkbar ist.

Christoph Jahr hat mit seiner Untersuchung nicht nur ein quellengesättigtes Bild der Desertion im Ersten Weltkrieg gezeichnet, in seiner Interpretation hat er auch den komplexen Hintergrund dieses militärischen Straftatbestandes durch- leuchtet. Darüber hinaus hat er durch den Wechsel der Perspektiven sich Fra- gestellungen eröffnet, die zu einer überzeugenden und umfassenden Interpretati- on der politisch-ideologischen, militärischen und gesellschaftlichen Faktoren führ- ten, die im Umgang mit der Desertion eine Rolle spielten. Es ist ihm damit gleich- falls gelungen, erneut nachzuweisen, daß die intelligente, moderne Aspekte aufgreifende Bearbeitung eines militärgeschichtlichen Themas auch für die allge- meine Historie von beträchtlichem Erkenntniswert sein kann.

Wilhelm Deist

Helmut Altrichter, Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1997,604 S., DM 78,— [ISBN 3-506-70303-X]

Ausführlich und umsichtig verfolgt Altrichter den Verlauf des russischen Revolu- tionsjahrs 1917 und legt damit ein Buch vor, das nicht nur die fast unübersehbare internationale Forschungsliteratur berücksichtigt, sondern auch auf eigenen ar- chivischen Untersuchungen basiert. Er schildert Hintergründe und Ereignisse zwi- schen Februarrevolution und Oktoberaufstand, der als »Großer Oktober« eine der wichtigsten Zäsuren des zwanzigsten Jahrhunderts darstellen sollte.

Die zentrale Aussage steht, gleichsam als Prolog, in den ersten Sätzen der Ein- leitung: »Am Anfang war nicht Lenin. Am Anfang war die Krise« — die Krise, in die das Zarenreich während des Ersten Weltkriegs geraten war: die militärisch aus- sichtslose Lage der riesigen russischen Armee, die meuternden und desertieren- den Soldaten, die Streiks der Industriearbeiter, die Neuaufteilung des Bodens durch die Bauern. Vor diesem Hintergrund stürzte die alte Ordnung, entstanden neben der Provisorischen Regierung überall im Lande Räte der Arbeiter, Bauern und Sol- daten. Nachdrücklich reflektiert der Autor dabei, wie es sich für einen Historiker gehört, die überkommenen Klassenbegriffe, wobei vor allem das bäuerliche Element in den Vordergrund rückt: Die Übergänge im damaligen Rußland waren fließend, Bauern wurden zu Soldaten und Arbeitern, aus Soldaten und Arbeitern konnten jederzeit wieder Bauern werden.

In dieser Situation erschien die Partei der Bol'seviki — seit Lenins Rückkehr aus dem Schweizer Exil im April 1917 unter dessen Führung — als einzige politi- sche Kraft in Rußland, die dazu in der Lage war, den weithin unkontrolliert ver- laufenden Auflösungserscheinungen im Lande Rechnung zu tragen, ihr eigenes Programm darauf abzustellen und schließlich die Macht zu übernehmen. Nach-

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dem dann die wichtigsten Forderungen der Aufständischen erfüllt waren — Aus- stieg aus dem Weltkrieg, Aufteilung der Güter, Arbeiterkontrolle in den Fabriken

— verloren die Aktionen der Massen ihre ursprüngliche Stoßkraft. Nun konnten die Bol'seviki mit der Verwirklichung ureigener Vorstellungen beginnen, dem Auf- bau »eines straff zentralisierten, zwangsverwalteten Wohlfahrtsstaates«, wie er durch die von ihnen getragenen revolutionären Losungen ebenfalls zu begründen war. Soweit Altrichters Befund zur Oktoberrevolution — überzeugend vorgetra- gen, umfassend belegt, aber insgesamt nicht ganz neu.

Die Stärke des Buches erscheint in anderer Hinsicht: Wie der Autor hervorhebt, hat er sein Manuskript noch in sowjetischer Zeit begonnen, aber erst nach dem Zerfall der Sowjetunion abgeschlossen. Auf diese Weise kann er die erste umfas- sende Darstellung der russischen Revolution seit dem Niedergang der kommuni- stischen Herrschaft in Rußland vorlegen. Erst jetzt ist das Jahr 1917 wirklich »hi- storisch« geworden, wird ein Vergleich mit anderen europäischen Revolutionen aus der Distanz möglich. Zugleich zeigt sich, daß viele der alten Probleme Ruß- lands durch die Herrschaft der Bol'seviki nicht gelöst wurden, daß sie unverän- dert wieder hervortreten. »Ein Land auf der Suche nach sich selbst« — der Unter- titel des Buches kann auch für die heutige Lage in Rußland gelten, und letztlich ebenso für die Identitätsfrage mancher linken Bewegungen außerhalb: Reflektiert werden von Altrichter auch die Rückwirkungen von Räteherrschaft und Okto- berrevolution auf das politische Bewußtsein in den westlichen Demokratien vor und nach dem Ende der Sowjetunion.

Pointierter als in früheren Abhandlungen ist es daher dem Autor möglich, auf die Unterlegenen des Jahres 1917 einzugehen, damalige Alternativen zu erörtern und deren — vorläufiges — Scheitern zu begründen. Insbesondere der bürgerlichen Opposition gegen die sich etablierende Parteiherrschaft widmet Altrichter seine Aufmerksamkeit. Nach wie vor stehen deren Forderungen nach rechtsstaatlichen Grundlagen, über die sich die Bol'seviki nach 1917 hinwegsetzten, in Rußland auf der Tagesordnung.

Ein umfangreicher Abschnitt des Buches ist dem Entstehen des Nationalbe- wußtseins und den revolutionären Ereignissen bei den kleineren »Randvölkern« des russischen Kaiserreichs gewidmet, deren Forderungen nach staatlicher Unabhän- gigkeit — zunächst vielfach überlagert von klassenkämpferischen Losungen — nach dem russischen Bürgerkrieg weithin verstummten, seit der Auflösung der Sowjetunion jedoch anscheinend nahtlos wieder aufgenommen wurden.

Auf diese Weise ist eine beeindruckende Darstellung entstanden, in deren Mit- telpunkt das Jahr 1917 steht, die aber ebenso die gesamte Sowjetzeit und das heu- tige Rußland im Blick hat. Zahlreiche Abbildungen lockern den Band auf. Eine klar aufgebaute Gliederung und ein sorgfältig gearbeiteter Index erlauben auch demje- nigen Leser einen raschen Zugang, der vor einer vollständigen Lektüre des um- fangreichen Werkes zurückschreckt.

Manfred v. Boetticher

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Stefan Rinke, >Der letzte freie Kontinente Deutsche Lateinamerikapolitik im Zeichen transnationaler Beziehungen, 1918-1933. 2 Teilbde, Stuttgart: Heinz 1996, 836 S. (= Historamericana, 1), DM 98,— [ISBN 3-88099-670-9]

Es ist das Verdienst des Autors, mit seiner vorgelegten Dissertation über die deut- sche Lateinamerikapolitik während der Weimarer Republik eine Forschungslücke zu schließen. In den letzten zwei Jahrzehnten fand die deutsche Expansionspoli- tik nach Lateinamerika zwar für die Periode der kaiserlichen »Weltpolitik« wie auch der nationalsozialistischen Außenpolitik vermehrt Beachtung, dies galt je- doch nicht für die Jahre von 1918 bis 1933. Welch immense, über das engere The- ma hinausgehende internationale Bedeutung die Fragestellung hat, ergibt sich schon aus der Tatsache, daß die deutsche Lateinamerikapolitik seit den 1890er Jah- ren immer einen neuralgischen Punkt der deutsch-amerikanischen Beziehungen darstellte und für den Eintritt der USA in beide Weltkriege von herausragender Bedeutung war. Was aber geschah in den Jahren zwischen 1918 und 1933? Gab es im deutschen Verhalten gegenüber den mittel- und südamerikanischen Staaten Brüche, oder überwog die Kontinuität? Rinke gibt auf diese Fragen eine differen- zierte Antwort, indem er auf die Verschränkung von langfristigen Trends mit den durch die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg bedingten Neuansätzen hin- weist. Hierbei arbeitet er mit dem Konzept der transnationalen Beziehungen und rückt das komplexe Interaktionsgeflecht von staatlichen und nichtstaatlichen Ak- teuren ins Zentrum des Forschungsinteresses. Die Erkenntnis, daß die deutsch-la- teinamerikanischen Beziehungen zwischen 1918 und 1933 »wesentlich von gesell- schaftlichen Gruppen mitbestimmt oder dominiert wurden« (S. 35), ist für die Ana- lyse zentral. Neben den offiziellen Regierungskontakten erfahren die Aktivitäten von Einzelpersönlichkeiten, Wirtschaftsverbänden, Unternehmen, Deutschtums- organisationen, Kirchen, Presseorganen usw. und ihre Einflußnahme auf die Poli- tik eine adäquate Berücksichtigung. Gleichzeitig werden nicht nur die innerdeut- schen Vorgänge, sondern auch ihre Konsequenzen für Lateinamerika untersucht.

Der Autor löst sich zusätzlich von der bilateralen Betrachtungsweise, weil sich nur so die grenzüberschreitenden Aktivitäten vieler transnationaler Akteure erfassen lassen und weil, wie er betont, Lateinamerika von den deutschen Betrachtern im wesentlichen als Einheit gesehen wurde.

Die Untersuchung gliedert sich in vier große Themenbereiche: die Wirt- schaftsbeziehungen, die offiziellen Kontakte der Regierungen, die Rolle der Aus- landsdeutschen und schließlich die besondere Funktion deutscher Militärberater und Luftfahrtunternehmen. Der Dominanz ökonomischer Interessen in der deut- schen Lateinamerikapolitik entspricht es, daß die Wiederanknüpfung der Wirt- schaftsbeziehungen nach dem scharfen Einschnitt während des Ersten Weltkrie- ges vorrangig die Aufmerksamkeit aller interessierten Kräfte auf sich zog. Wenn auch die immer noch beträchtlichen deutschen Kapitalinvestitionen und die langjährige Tätigkeit deutscher Handelshäuser, Schiffahrtslinien und Banken in Lateinamerika hier gute Anknüpfungspunkte darstellten, so standen dem doch zunächst noch die »schwarzen Listen«, diverse Bestimmungen des Versailler Ver- trags, die deutsche Hyperinflation, die allgemeine Schwächung der Kaufkraft und die im Krieg erstarkte amerikanische Konkurrenz als erhebliche Hindernisse im Wege. Das deutsche Kapital wandte sich erneut dem Bankgeschäft und Investi- tionen im Rohstoffsektor zu, während die deutsche Industrie im Anlagengeschäft Fuß fassen, die deutsche Schiffahrt sich ab 1919 wieder etablieren und der Handel

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Marktanteile zurückgewinnen konnte. Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1929 setzte diesem positiven Aufwärtstrend jedoch ein jähes Ende.

Fragen des europäischen Mächtesystems standen für die Außenpolitik der Wei- marer Republik im Mittelpunkt des Interesses. Die in Lateinamerika weit verbrei- tete Unzufriedenheit mit dem in Versailles geschaffenen Staatensystem, ließ die deutsche Regierung bei ihren Revisionsbestrebungen auf Schützenhilfe aus La- teinamerika hoffen. Insbesondere für die deutsche Politik im Völkerbund spielte die Hoffnung auf Unterstützung durch die lateinamerikanischen Stimmen eine wichtige Rolle. Ein weiterer Anknüpfungspunkt für politische Gemeinsamkeiten war die beiderseitige reservierte Haltung gegenüber der Monroedoktrin und dem Panamerikanismus. Bei dem Werben u m Lateinamerika trat neben dem traditio- nellen »Flagge zeigen« deutscher Kriegsschiffe ab Ende der 1920er Jahre verstärkt der Einsatz der deutschen Luftfahrt ins Blickfeld. In diesem Zusammenhang wid- met Rinke der Repräsentationsreise des ehemaligen Reichskanzlers Hans Luther durch Lateinamerika viel Aufmerksamkeit. Gleichzeitig blieb man in Berlin je- doch sorgfältig bestrebt, nicht das Mißtrauen der USA zu erwecken, u m ein Wie- deraufleben des Schlagworts von der »deutschen Gefahr« zu vermeiden. Ande- rerseits scheuten sich einige lateinamerikanische Regierungen wie etwa Kolum- bien und Mexiko nicht, ihr gutes Verhältnis zu Deutschland gegen die USA aus- zuspielen, um den eigenen Handlungsspielraum zu erhöhen.

Den außenwirtschaftlichen Beziehungen wurde von deutscher Seite hohe Pri- orität zugemessen, was angesichts der großen Bedeutung des ökonomischen Aus- tausche für die deutsche Wirtschaft nicht überraschen kann. Im Mittelpunkt stand das Bemühen zur Durchsetzung der uneingeschränkten Meistbegünstigung in La- temamerika. Diese Entwicklung erreichte unter Außenminister Gustav Stresemann ihren Höhepunkt, brach jedoch nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und dem Durchbruch des Agrarprotektionismus in Deutschland abrupt ab. Schwer- wiegende Konflikte mit den Exportagrarstaaten Argentinien und Chile waren die Folge. Die deutsche Wirtschaftspolitik gegenüber den lateinamerikanischen Staa- ten erschöpfte sich seitdem vor allem im Aushandeln von Kompensationsge- schäften.

Die Pflege der Beziehungen zu dem sogenannten Auslandsdeutschtum bilde- te den zweiten tragenden Pfeiler der deutschen Lateinamerikapolitik in der Wei- marer Zeit. Auch hier sind Kontinuitätsstränge unübersehbar. Der deutsch-völki- sche Gedanke, daß die zahlreichen, insbesondere in Südamerika lebenden Deut- schen und Deutschstämmigen dem deutschen »Volkstum« nicht verloren gehen dürften und dem »Größeren Deutschland« durch die intensive Pflege deutscher Kulturwerte erhalten bleiben müßten, stammte aus der Vorkriegszeit. Das starke Ansteigen der deutschen Auswanderung nach Südamerika in den 1920er Jahren gab diesem Gedanken in den Kreisen der nationalen Rechten eine neue Dringlichkeit.

Rinke weist hier überzeugend auf die vielfältige, teilweise enge Zusammenarbeit zwischen deutscher Regierung, deutsch-nationalen Pressure-groups, Kirchen, Wirt- schaftsinteressen, rechter Presse und den Vereinen der Auslandsdeutschen hin, oh- ne deren Berücksichtigung jede Analyse dieses Aspekts der deutschen Latein- amerikapolitik unzulänglich bleiben muß. Die Einschaltung transnationaler Akteure erlaubte es der amtlichen Politik, im Hintergrund zu bleiben und so das Mißtrau- en des Auslandes zu beschwichtigen. Im Mittelpunkt der Deutschtumsbestrebun- gen standen die von deutscher Seite finanziell unterstützten deutschen Auslands- schulen in Lateinamerika. Die bedeutendsten unter ihnen wurden als »Propagan-

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daschulen« geführt. Wichtig waren jedoch auch Neuansätze wie institutionalisierte Wissenschaftsbeziehungen, Vortragsreisen prominenter Persönlichkeiten und Stu- dentenaustausch sowie die mit öffentlichen Mitteln unterstützte Verbreitung deut- scher Bücher, Filme, Kunst, Musik und Theater. Mit gezielter Pressepolitik sollte zu- sätzlich nicht nur unter den Auslandsdeutschen, sondern in der ganzen latein- amerikanischen Öffentlichkeit eine prodeutsche Einstellung gefördert werden. An- gesichts der politischen und militärischen Ohnmacht der jungen deutschen Republik erhielt die propagandistische »Waffe« zur Widerlegung der alliierten Kriegs- schuldthesen und zur Unterstützung der eigenen Revisionbestrebungen hinsicht- lich des Versailler Vertrages auch in Lateinamerika erhöhtes Gewicht. Doch die hochgespannten Erwartungen erfüllten sich schon deshalb nicht, weil nur gerin- ge finanzielle Mittel zur Verwirklichung zur Verfügung standen. Nach dem verlo- renen Krieg hatten sich außerdem die Vorbehalte gegenüber deutscher Kultur- propaganda erheblich verstärkt, und das nationale Selbstbewußtsein der Latein- amerikaner war gewachsen. Der lateinamerikanische Nativismus forderte energisch die Assimilierung der deutschen Einwanderer. Da letztere und ihre Vereine kei- nen ethnisch ausgerichteten, monolithischen Block bildeten, sondern zersplittert und uneinig waren, entwickelte sich das Auslandsdeutschtum in keinem der la- teinamerikanischen Staaten zu einem wirklich einflußreichen politischen Macht- faktor. Die Auseinandersetzungen unter den Auslandsdeutschen spiegelte die po- litische Zerrissenheit der Weimarer Republik wider, wobei die Kräfte der monar- chisch gesonnenen, antidemokratisch-nationalistischen Rechten eindeutig die Ober- hand hatten. Trotz des nachweisbaren Trends nach Rechts unter den Auslandsdeutschen in Lateinamerika breitete sich der Nationalsozialismus unter ihnen erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme von 1933 und der Gründung der »Auslandsorganisation« in größerem Umfang aus.

Vor 1914 hatten deutsche Militärberater und deutsche Rüstungsindustrie die Professionalisierung der lateinamerikanischen Streitkräfte und die Modernisie- rung ihrer Waffensysteme maßgebend mitgestaltet. Án diese Formen der »Mi- litärdiplomatie« und des Auslandsgeschäfts konnte nach 1918 angeknüpft wer- den. Die zahlenmäßige Beschränkung der Reichswehr machte den Dienst im Aus- land für viele deutsche Offiziere attraktiv, und das Rüstungsgeschäft gestaltete sich auf dem lateinamerikanischen Markt bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise besonders lukrativ. Allerdings traf man hier auf eine starke und erfolgreiche fran- zösische und amerikanische Konkurrenz. Da der Versailler Vertrag Deutschland die Entsendung von Militärmissionen und den Waffenexport ausdrücklich verbot, spielten sich derartige Tätigkeiten meist in konspirativem Rahmen ab. Deutsche Rüstungsexporte wurden über europäische und lateinamerikanische Deckfirmen abgewickelt. Erfolge gab es vor allem in Argentinien und Chile, die deutsche Of- fiziere als sogenarunte Informantes oder Instrukteure einstellten und u.a. ihre Luft- waffe mit in Schweden zu Bombern umgerüsteten Junkers-Flugzeugen aufrüste- ten. Deutsche Instrukteure waren in den 1932 zwischen Bolivien und Paraguay ausgebrochenen Chaco-Krieg verwickelt. Rinke untersucht in diesem Zusammen- hang das Engagement der deutschen Regierung, wobei er konträre Standpunkte her- auskristallisiert: Während das Auswärtige Amt aus Sorge vor internationalen Ver- wicklungen derartigen Aktivitäten ambivalent gegenüberstand, beteiligte sich das Reichswehrministerium gezielt an ihrem Zustandekommen. Eine einheitliche, in- nerhalb der Regierung abgestimmte deutsche Militärpolitik in Lateinamerika ha- be es deshalb, so lautet Rinkes Fazit, nicht gegeben.

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Auch bei der Behandlung der deutschen Luftfahrtaktivitäten in Lateinameri- ka interessieren Rinke in erster Linie die Interaktionen zwischen deutscher Regie- rung und transnationalen Akteuren. Ausführlich schildert er Entstehung und Aus- breitung der von deutscher Seite kontrollierten Fluggesellschaften in Lateinamerika, die sich auf die amtliche deutsche Unterstützung verlassen konnten. Die nominell brasilianische Condor wurde sogar von der deutschen Regierung subventioniert.

Jedoch erwiesen sich zunächst die französische, vor allem aber die kapitalkräftige amerikanische Konkurrenz als ernsthafte Hindernisse. Noch störender wirkte der zunehmend spürbare ^Widerstand der Washingtoner Regierung, die den Aufbau europäischer Fluglinien in ganz Lateinamerika als Bedrohung ansah. Die Einrich- tung einer deutschen transozeanischen Fluglinie, die seit der Gründung der Deut- schen Luft Hansa 1926 zum Ziel der offiziellen deutschen Luftfahrtpolitik gewor- den war, konnte in den Jahren 1930 bis 1933 verwirklicht werden. Wirtschaftliche Überlegungen, vor allem aber das Streben nach informellem Einfluß in La- teinamerika waren Triebfedern der deutschen Aktivitäten. Luftfahrttechnische Pio- nierleistungen hoben das deutsche Prestige bei Regierungen und Öffentlichkeit in Lateinamerika. Insgesamt war damit bis 1933 die Basis für die nationalsozialistische Luftfahrtpolitik gegenüber dem lateinamerikanischen Kontinent geschaffen. Gleich- zeitig hatten aber auch die USA ihre geo-strategisch begründete Opposition gegen jede Beherrschung der lateinamerikanischen Luftfahrt durch europäische und ins- besondere deutsche Unternehmen ausdrücklich und öffentlich formuliert und mit der hohen Subventionierung eigener amerikanischer Fluggesellschaften in Mittel- und Südamerika geeignete Gegenmaßnahmen zur Abwehr des deutschen Vor- dringens ergriffen. Rinke breitet hier wichtige Erkenntnisse aus, die als Voraus- setzung für ein adäquates Verständnis der amerikanischen Außenpolitik gegen- über dem nationalsozialistischen Deutschland ganz unverzichtbar erscheinen.

Das zweibändige Werk überschreitet den herkömmlichen Rahmen einer Dis- sertation. Basis ist ein immenses, größtenteils zum ersten Mal erschlossenes Quel- lenmaterial und eine souveräne Beherrschung der Literatur. Die Analyse zeichnet sich aus durch einen gut lesbaren, anschaulichen Stil und klare, überzeugende Hy- pothesen, auf die präzise, sachliche und differenzierte Antworten gegeben wer- den. Tabellen und Abbildungen veranschaulichen viele Sachverhalte. Das Buch ist ein wertvoller Beitrag, um nicht nur den engeren Themenbereich der deutschen Lateinamerikapolitik für die Jahre von 1918 bis 1933 ins Blickfeld zu rücken, son- dern darüber hinaus die globalen Dimensionen der deutschen Außenbeziehungen schärfer als bisher auch für die Zeit der Weimarer Republik zu akzentuieren.

Ragnhild Fiebig-von Hase

Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1998,368 S., DM 88,— [ISBN 3-506-74827-0]

Immanuel Kant hat in seiner Schrift »Der Streit der Fakultäten« eine Frage gestreift, welche im 20. Jahrhundert die Propheten der um universale Geltung und vorbe- haltlose Anerkennung ringenden totalitären Weltanschauungen umgetrieben hat, ob nämlich eine Geschichte a priori möglich sei. Die Antwort des Königsberger Philosophen ist bekannt: »Wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht

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und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt«. Diese Antwort Kants verpflich- tet die Historiker, das Verhältnis von Ideologie und Herrschaftsausübung, von Theorie und Praxis totalitärer Systeme einer ebenso sorgfältigen wie radikalen Ana- lyse zu unterziehen. Nachdem dies in den zurückliegenden Jahren für die ver- schiedenen Spielarten des Marxismus zu einem guten Teil geleistet worden ist, stand eine entsprechende Untersuchung für den Nationalsozialismus bislang aus;

ein angesichts der ins Uferlose auszuwachsen drohenden Publikationsflut n u r schwer erklärbares Phänomen. Um so verdienstvoller ist es, daß sich Frank-Lothar Kroll in seiner Erlanger Habilitationsschrift des Problems angenommen und erst- mals eine fundierte Deutung des Verhältnisses von Geschichtsdenken und politi- schem Handeln im Dritten Reich vorgelegt hat. Das Ergebnis seiner Forschungen spiegelt sich im Titel wider: Utopie als Ideologie.

Ausgehend von einem »Polyzentrismus der ideologischen Konzeptionen im Nationalsozialismus«, welcher — wie Kroll nachweisen kann — mit der von der Forschung seit längerem konstatierten »Polykratie der Herrschaftsausübung« kor- respondiert (S. 19), beleuchtet er in vergleichender Perspektive das Denken und Handeln der »politisch relevanten Ideologen bzw. der ideologisch relevanten Po- litiker« (S. 16) des Regimes: Adolf Hitler, Alfred Rosenberg, Richard Walther Dar- re, Heinrich Himmler und Joseph Goebbels. Um es vorweg zu sagen: Das Ergeb- nis ist mehr als verblüffend und dürfte die seit den großen Kontroversen der 1970er bzw. 1980er Jahre vor sich hindümpelnde, allenfalls durch Pseudo-Debatten à la Goldhagen aufgeschreckte Nationalsozialismus-Forschung ob der sich daraus er- gebenden Konsequenzen aufhorchen lassen.

Immerhin vermag Kroll überzeugend zu belegen, daß »alle Hauptideologen des Regimes [...] an die Inhalte ihrer jeweiligen Weltanschauung geglaubt und deren Rea- lisierung betrieben« haben (S. 312). Sie alle deuteten die »Machtergreifung« als Be- ginn einer »neuen Ära« der Weltgeschichte, welche den historischen Entwicklungs- prozeß abschließen sollte. Freilich unterschieden sich ihre Vorstellungen von der Zu- kunft aufgrund ihrer jeweiligen Geschichtsbilder erheblich: Für Hitler, der bekannt- lich in der Rasse den Motor der Weltgeschichte sah, hatte sich mit dem 30. Januar 1933 in dem die Menschheitsgeschichte durchziehenden arisch-jüdischen Dualis- mus die Waagschale endgültig zugunsten der Arier geneigt. Griff der »Führer« da- mit ebenso wie bei der Übernahme des dem Sozialdarwinismus entlehnten Kampf- Prinzips auf Vorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück, kann die Ver- knüpfung des »Lebensraum«-Gedankens mit dem »Mythos von der arischen Sen- dung« als originärer Baustein seiner pseudo-philosophischen Gedankenwelt gelten.

In dem — emährungspolitisch motivierten — »Raumkrieg« sah er daher die »Ur- form politischen Handelns« (S. 63). Nach dem Vorbild des Römischen Reiches ge- dachte er, Deutschland zur »Herrin des Erdballs« zu machen und seine Vorstellun- gen von der »neuen Welt« und dem »neuen Menschen« zu verwirklichen.

Während Hitler den Arier-Begriff nicht weiter hinterfragt hat, entwickelte Ro- senberg eine regelrechte »Lehre vom Urvolk«, welche in der Feststellung einer

»>nordischen< Abkunft aller historisch >maßgeblichen< Völker« gipfelte (S. 128).

Den Gegenpol zu dieser nordisch-arischen Kultur bildete in der Sicht des »Chef- ideologen« der NSDAP ausgerechnet das von Hitler bewunderte Imperium Ro- manum und — nach dessen Untergang — das römische Christentum, welches bis in die jüngste Zeit die Entfaltung der völkischen Kräfte verhindert habe und für die Zukunft eine »Abrechnung« mit den Kirchen unvermeidlich mache. Gestützt auf einen metaphysischen Relativismus, welcher eine abgestufte »Wertigkeit« der Ras-

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sen vorsah, propagierte der 1941 zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannte Rosenberg seit dem Beginn des Unternehmens »Barbarossa« eine »Re- germanisierung« von Teilen der osteuropäischen Bevölkerung — ohne damit bei Hitler Resonanz zu finden. In einem wesentlichen Punkt freilich stimmte Rosen- berg vorbehaltlos mit der Weltanschauung des Diktators überein: der Notwen- digkeit der »Vernichtung« der Juden, welche er ebenso wie dieser der »Völker- vergiftung« und des Strebens nach der Weltherrschaft beschuldigte.

Das Welt- und Geschichtsbild von Reichsbauernführer Darré wich erheblich von der Weltanschauung Hitlers bzw. Rosenbergs ab. Zwar ging auch er — wie Rosenberg — von einer nordischen Rasse als »Kulturwiege der Menschheit« aus, doch sah er sowohl andere Gründe für den im 19. Jahrhundert dem Höhepunkt zutreibenden Kulturverfall als auch andere Möglichkeiten für eine Überwindung der Gegenwartskrise. Seiner von der Biologie geprägten Geschichtsauffassung lag ein ausgeprägtes Drei-Stufen-Schema zugrunde: Dem unverdorbenen, bäuerlichen Urzustand stand die durch Niedergang und Entartung bestimmte Lebensweise der Gegenwart gegenüber, deren Sinnbild für ihn die von den Ursprüngen ent- fremdete Großstadt war. Für die Zukunft hoffte er, durch Auslese und Züchtung das Versiegen der nordisch-arischen Blutskräfte stoppen und dadurch die künfti- ge Menschheitsgeschichte biologisch auf eine höhere Stufe heben zu können.

Der Darréschen Lehre verdankte Himmler zwar entscheidende Impulse, doch stellte der Reichsführer SS selbst anderes ins Zentrum seines Denkens: die Aus- einandersetzung zwischen »Europa« und »Asien«, wobei er letzteres mit slawi- schem »Untermenschentum« gleichsetzte. Entsprechend seinen historischen Kon- struktionen bedrohte dieses seit den Hurtnen-Einfällen im 14. /15. Jahrhundert die arische Rasse. Verschärft habe sich dieser Konflikt seit dem Jahr 1917, seitdem der jüdische Bolschewismus fortwährend die slawischen Massen mit dem Ziel mobi- lisiere, das Reich zu zerstören. Den deutschen Angriff auf die Sowjetunion deute- te er daher in historischer Perspektive gleichermaßen als Präventivkrieg wie als Kreuzzug. Um für die Zukunft die völkischen Kräfte zu stärken, forcierte Himm- ler insbesondere für die SS Züchtung und Auslese, u.a. durch Einrichtungen wie den Lebensborn e.V., wodurch die germanische »Herrenrasse« auf Dauer in den Besitz des »Pokals der Weltherrschaft« gelangen würde.

Welche inneren Vorbehalte Goebbels gegenüber derartigem Rassedenken hat- te, ist der Forschung seit längerem bekannt. Weitgehend unbekannt dagegen war, daß ausgerechnet das Geschichtsmodell des Propagandaministers nicht frei von einem Hang zum Fatalismus war. Schließlich begriff er die »Machtergreifung« nicht nur als Auftakt zu einer Neuverteilung der Welt zwischen den alten und den jun- gen Nationen, sondern zugleich als Vollzug einer historischen Sendung Deutsch- lands, deren Anfänge er im Preußentum Friedrichs des Großen ausmachte. Beein- flußt von Oswald Spenglers Schrift »Preußentum und Sozialismus« erstrebte er ei- nen nationalen Sozialismus. Dieser sollte durch die von ihm propagierte Abkehr vom Internationalismus und Marxismus verwirklicht und — gleichsam in einem zweiten Schritt — durch eine militärische Niederwerfung der »plutokratischen De- mokratien« langfristig gesichert werden. Der im Sommer 1939 entfesselte Welt- krieg besaß daher für den sich selbst als »revolutionären Sozialisten« verstehen- den Goebbels zwangsläufig den Charakter eines »Völkerklassenkampfes« (S. 300).

Da er hinter dem »Monopolkapital« des Westens das internationale Finanzjuden- tum wähnte, lieferte er Hitler damit ein weiteres Argument für die Ermordung der Juden: den Antikapitalismus.

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Durch die vergleichende Betrachtungsweise und unter Rückgriff auf die me- thodischen Möglichkeiten der Ideengeschichte weist Kroll nach, daß die von der Forschung konstatierten Varianten der NS-Weltanschauung auf den unterschied- lichen Geschichtsauffassungen ihrer Protagonisten beruhten. Gemeinsam war die- sen freilich die Überzeugung, die »Machtergreifung« leite das Ende der Geschich- te ein. Um dies zu »beweisen«, betrieben Hitler, Rosenberg, Darré, Himmler und Goebbels gleichermaßen teils Geschichtsfälschung, teils griffen sie zum Mittel der Geschichtserfindung. Der Blick auf die Politik des Dritten Reiches zeigt allerdings, daß es sich bei sämtlichen Weltanschauungsvarianten nicht nur um »theoretische Wolkengebilde« handelte: »Nationalsozialistische Geschichtsdeutung war herr- schaftsstabilisierende Geschichtsideologie und gesellschaftstranszendierende Ge- schichtsutopie gleichermaßen.« (S. 312) Damit tritt nicht nur eine Parallele zwi- schen Nationalsozialismus und Marxismus bzw. Kommunismus zutage, vielmehr macht Krolls Studie die Überprüfung zahlreicher vermeintlich gesicherter Ergeb- nisse der Nationalsozialismus-Forschung zwingend. Hiervon dürfte kaum ein The- menkomplex ausgeklammert bleiben: die Außen- und Kriegspolitik ebensowenig wie die Rassen- und Judenpolitik. Nicht zuletzt an dieser vorhersehbaren Wirkung bemißt sich, daß der Studie von Frank-Lothar Kroll der Rang eines Meisterwerkes zukommt.

Manfred Nebelin

Walter Naasner, SS-Wirtschaft und SS-Verwaltung. >Das SS-Wirtschafts-Ver- waltungshauptamt und die unter seiner Dienstaufsicht stehenden wirt- schaftlichen Unternehmungen< und weitere Dokumente, Düsseldorf: Dro- ste 1998, X, 394 S. (= Schriften des Bundesarchivs, 45a), DM 98,— [ISBN 3- 7700-1603-3]

Diese Dokumentation versteht sich als direkte Fortsetzung der 1994 vom Bearbei- ter als Band 45 derselben Reihe vorgelegten Studie »Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942-1945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und das Reichsministe- rium für Bewaffnving und Munition/Reichsministerium für Rüstung und Kriegs- produktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem«, Boppard am Rhein 1994 (vgl. hierzu die Besprechung in MGM 55, 1996, S. 509-511). Wurden damals die drei — nach Meinung Naasners — wichtigsten Machtkomplexe der deutschen Rü- stungswirtschaft darstellend behandelt, so geht es dem Koblenzer Archivar nun- mehr darum, eines dieser Konglomerate durch die Edition ausgewählter Quellen näher auszuleuchten und der Forschung eine Reihe von Schlüsseldokumenten in aufbereiteter Form zur Verfügung zu stellen. Mit guten Gründen wählte Naasner hierfür das Anfang 1942 geschaffene Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS (SS- WVHA), ist ihm doch zuzustimmen, daß die beiden anderen Institutionen, mit de- nen er sich 1994 befaßt hatte, durch die Forschung hinreichend untersucht worden sind. Demgegenüber haben die weitgefächerten wirtschaftlichen Aktivitäten der SS- Führung seit der vor mehr als 25 Jahren entstandenen Studie von Enno Georg (»Die wirtschaftlichen Unternehmungen der SS«, Stuttgart 1963) kaum mehr Aufmerk- samkeit gefunden. Überblickt man die einschlägige Literatur zu diesem Thema, so zeigt sich eine merkwürdige Dichotomie: Während ein Teil der Forschung Himm-

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lers ökonomische Aspirationen ausschließlich unter dem Aspekt seiner mitunter skurril-lächerlichen Einfalle und fixen Ideen betrachtet, um nicht zu sagen abqua- lifiziert, konzentriert sich die mittlerweile zu einer eigenständigen Sub-Disziplin aus- differenzierte KZ-Forschung auf die Ausbeutung der Häftlinge und deren Arbeits- und Lebensbedingungen, auf die »Vernichtung durch Arbeit« und allenfalls noch auf die aktive Beteiligung deutscher Industriebetriebe, ohne genuin wirtschaftliche Momente angemessen zu berücksichtigen.

Die letzte Buchveröffentlichung des 1981 verstorbenen Rüstungsministers Al- bert Speer (»Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzungen mit der SS«, Stuttgart 1981) hat zwar die enorme, selbst aus der Perspektive Speers bedrohliche Expan- sion der SS-Wirtschaft in den Gesichtskreis der einschlägigen Geschichtsschrei- bung gerückt, wegen der Person Speers zugleich jedoch zu einer Art Abwehrre- aktion geführt: Da man den Ex-Minister zu Recht oder zu Unrecht apologetischer Tendenzen für verdächtig, wenn nicht für überführt hielt, wurden seine Befunde, obwohl sie dokumentarisch untermauert waren, nicht für bare Münze genommen.,

Die Bedeutung des SS-WVHA als Herr über die Lagerwelt mit ihren Hundert- tausenden Häftlingen war stets unbestritten. Weniger bekannt war und ist hinge- gen die Tatsache, daß Himmler die Lagerinsassen nicht bloß an deutsche Unter- nehmen vermietete, sondern zusätzlich als Arbeitssklaven in SS-eigenen Betrieben einsetzte. Vor diesem Hintergrund machen die intensiven Forschungen Naasners zweifellos auf eine schmerzliche Lücke aufmerksam, ohne sie freilich vollends schließen zu können. Dies liegt nicht allein an der Thematik selbst, ist diese doch charakterisiert durch ein verwirrendes Geflecht von Firmenverschachtelungen und Betriebskonstruktionen, deren Fäden allesamt beim WVHA unter Oswald Pohl und damit letztlich bei Himmler zusammenliefen und die dem Zweck dienten, das SS-Imperium vor den Eingriffen lästiger Konkurrenten und anderer Störfaktoren

— und seien es auch »nur« die Finanzämter — abzuschirmen. Es liegt — auch — an der von Naasner gewählten Form der Auswahl und Präsentation seiner Doku- mente: Den Hauptteil bildet die Edition des sogenannten Mindener Berichtes, den einige führende Vertreter des WVHA in alliierter Gefangenschaft aus dem Ge- dächtnis abgefaßt hatten. Von den rund 300 Seiten des Dokumententeils entfallen allein knapp zwei Drittel auf diese eine, auf dem Klappentext als »Insiderbericht«

bezeichnete Quelle, über deren Bedeutung sich freilich trotz der fundierten quel- lenkritischen Vorbemerkungen des Herausgebers trefflich streiten läßt, spiegelt sie doch — was auch Naasner freimütig einräumt — nicht zuletzt die massiven Ten- denzen zur Selbstverharmlosung ihrer Verfasser. Dennoch ist es zu begrüßen, daß dieses häufig zitierte Dokument hier erstmals sachkundig kommentiert und seine verschlungene Überlieferungsgeschichte aufgeklärt wird, wenn es auch fraglich bleibt, ob ihr in Anbetracht des von Naasner ausgewerteten reichen Quellenfundus ein derart zentraler Stellenwert einzuräumen ist, wie er nicht zuletzt in der als Un- tertitel des Bandes gewählten Überschrift dieser Ende 1946 verfaßten Aufzeich- nung zum Ausdruck kommt. Aus der Sicht des Bearbeiters sprach dafür wohl der Umstand, daß es keine andere Quelle gibt, welche die verschlungenen Organisa- tionsstrukturen der SS-Wirtschaft in gegliederter Form wiedergibt.

Die übrigen Dokumente entstammen zumeist dem Bestand NS 3 (SS-WVHA) des Bundesarchivs, zu einem geringeren Teil den Akten diverser Nachkriegspro- zesse. Sie sind nicht chronologisch, sondern nach Sachthemen angeordnet und sol- len die Organisation, die institutionelle Entwicklung und die Rechtsgrundlagen der SS-Wirtschaft und SS-Verwaltung vergegenwärtigen. Himmlers Imperium os-

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zillierte zwischen Staat und NSDAP, deren Gliederung die SS ja bis zum Ende blieb, so daß weder das Reichs- noch das Parteikonzernmodell einen tauglichen Inter- pretationsrahmen abgibt. Es ist freilich keine Schande für den Historiker, dieses Geflecht nicht immer durchblicken zu können, beweisen doch etliche der hier ab- gedruckten Dokumente, welche Mühe schon die direkt beteiligten »Insider« zu diesem Zweck aufwenden mußten. Ungeachtet des stets gewahrten, stark privat- wirtschaftlichen Einschlags, der in der Konstituierung der Betriebe nach dem gel- tenden Handelsrecht zum Ausdruck kam, wurde bis in die letzte Kriegsphase in- tensiv und mittels eigener Rechtsgutachten über die Rechtsnatur der SS-Unter- nehmen debattiert (vgl. z.B. die Dokumente auf S. 289-298).

Der heutige Benutzer kann sich verständlicherweise inmitten der unablässigen Umbenennungen, Umstrukturierungen und Neugründungen einer gewissen Rat- losigkeit nicht erwehren. Hinzu kommt, daß ein Teil der Dokumente, der bei- spielsweise Fragen der Finanzmittel behandelt, ohne betriebswirtschaftliche Kennt- nisse kaum verständlich ist.

Den Abschluß des Bandes bildet ein etwa 35seitiger Anhang mit Biographien führender Vertreter des WVHA, über deren Auswahl und Repräsentativität der Verfasser allerdings keine Hinweise liefert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind die Lebensläufe aus den erhaltenen SS-Personalunterlagen und den Akten der Nachkriegsprozesse sorgfältig recherchiert und behandeln auch das Schicksal ihrer Protagonisten nach 1945. Welchen Nutzen der Leser allerdings daraus zie- hen soll, daß er über bloße polizeiliche und gerichtliche Anfragen ohne Angabe des Inhalts und des weiteren Verlaufs der Verfahren informiert wird, bleibt uner- findlich. Eine Straffung der nicht immer glücklich getroffenen Auswahl an gebo- tener Information hätte dem Anhang gewiß gut getan. So wird etwa die Kranken- geschichte von Pohls Mitarbeiter Lörner (S. 345) und die Tätigkeit Kammlers als Bau- meister in den 20er Jahren des langen und breiten referiert, während der von Kamm- ler befehligte mörderische Einsatz von KZ-Häftlingen bei der Produktion der sogenannten Vergeltungswaffen in der letzten Kriegsphase mit einem Halbsatz ab- gehandelt wird (S. 338-341).

Am schmerzlichsten vermißt der Leser eine fundierte Einleitung, die ihm den Einstieg in die im Editionsteil angesprochenen komplexen Fragen erleichtern wür- de. Die wenigen Seiten in diesem Band können nur eine erste, allzu grobe Orien- tierung bieten, die für ein vertieftes Eindringen in den Gehalt der Dokumente kei- nesfalls ausreicht. Unter diesem Defizit leidet bedauerlicherweise die praktische Nutzbarkeit des ohnehin reichlich heterogenen Bandes, der im übrigen durch ein Personen- und Unternehmensregister sowie eine Auflistimg der relevanten Quel- len und Literatur tadellos erschlossen ist. In Summe kann nur empfohlen werden, dem Rat des Herausgebers Folge zu leisten und den Dokumentenband aus- schließlich in Verbindung mit seiner 1994 vorgelegten Darstellung, konkret: nach sorgfältiger Lektüre ihres umfangreichen Kapitels über die SS-Wirtschaft, zur Hand zu nehmen.

Martin Moll

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Gerhard Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter — Opfer — Strafverfolgung, München: Beck 1996, 279 S. (= Beck'sche Reihe, 1168), DM 24,— [ISBN 3-406-39268-7]

Die Ausstellung über die Wehrmachtangehörigen zur Last gelegten Verbrechen hat an allen Orten, an denen sie gezeigt wurde, Unruhe ausgelöst. Vielfacher Pro- test ist eingelegt worden, weil der Ehrenschild der Wehrmacht, wie es hieß, nicht derart beschmutzt werden dürfe. Tatsächlich ging es allerdings nicht nur um die Abwehr eines als pauschal empfundenen Angriffs, sondern es gab erneut Gruppen, die peinlich berührt waren, daß überhaupt wieder deutsche Verbrechen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs angesprochen worden sind. Es kann hier nicht dar- um gehen, diese Diskussion und die Einschätzung der gezeigten Photographien wieder aufzunehmen, sondern es ist auf die vorliegende Arbeit zu verweisen, die bisher weithin unbeachtet gebliebene, in der Strafverfolgung zumeist unberück- sichtigte oder sehr milde beurteilte Kriegsverbrechen durch Deutsche an italieni- schen Militärangehörigen und Zivilisten in drei Kapiteln behandelt: Im ersten Ka- pitel wird eine Erklärung für »das staatlich legitimierte verbrecherische Töten von Italienern nach dem 3. September 1943« gesucht; im folgenden Kapitel die Ermor- dung von sich ergebenden und kriegsgefangenen italienischen Soldaten auf Mit- telmeerinseln, auf dem Balkan und in Italien abgehandelt; das letzte Kapitel un- terrichtet über »das verordnete oder geduldete Töten von unschuldigen Kindern, Frauen und Männern jeden Alters«. An dieser Stelle ist der einzige Einwand des Rezensenten gegen dies Buch vorzutragen: Wie schon aus den zum Teil zitierten Kapitelüberschriften erkennbar wird, ist die Sprache gelegentlich umständlich und recht häufig voll wertendem Urteil bevor noch das einzelne Ereignis berichtet wor- den ist. Zu einer gleichen Einschätzung dürfte der Leser auch ohne entsprechen- de Einstimmung von selbst während der Lektüre der ungeheuerlichen Einzelta- ten kommen. Eine Ausstellung über die deutschen Verbrechen an Italienern und in Italien auf Grund der vorgelegten Arbeit — wäre dies möglich — würde erneut Wogen der Erregung hochschlagen lassen, aber vielleicht würden deutsche Itali- enbesucher gelegentlich nachdenklicher sein und sich fragen, ob private Gast- freundschaft, der sie begegnen, so ganrz selbstverständlich ist; immerhin haben selbst Faschisten 1944 über die deutschen Mordaktionen an Unschuldigen geklagt.

Der Autor dieser für ein breiteres Publikum geschriebenen Arbeit, Gerhard Schreiber, ist ehemaliger langjähriger Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen For- schungsamtes und darf der beste Kenner der deutsch-italienischen militärpoliti- schen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genannt werden. Das Thema der von ihm hier aufgezeichneten Verbrechen ist für ihn kein Neuland ge- wesen, als er den vorliegenden Text verfaßte, denn er hat u.a. bereits 1990 einen Band über die Behandlung italienischer Militärinternierter durch die Deutschen nach dem italienischen Frontwechsel 1943 vorgelegt, dessen Inhalt erschütternd ist. Nun hat sich Schreiber der generellen Haltung deutscher Truppen (Militär, SS und Polizei) gegenüber Italienern — Soldaten und Zivilisten — monographisch zugewandt. Der Verfasser vermeidet Pauschalurteile und macht sehr klar, daß die handelnden Formationen häufig nachträglich nicht mehr mit Sicherheit zu be- stimmen sind; aber ob es sich im einzelnen nun um Heer, SS oder Polizei gehan- delt hat, die gegen Italiener vorgegangen sind, es waren Deutsche; und Angehöri- ge der Wehrmacht waren ebenso in sie verstrickt wie SS und Polizei. Erschüttern- de Bilder, wie sie in der »Wehrmachtausstellung« gezeigt worden sind, legt Schrei-

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