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Zwischenfazit: Studien(fach)wahlen – strukturiert durch

Die Reise durch die Ansätze und Erkenntnisse von Geschlechter- und Bildungs-forschung zu Studien(fach)wahlen zeigt, dass die verschiedenen Forschungsan-sätze mit spezifischen Potentialen und Grenzen einhergehen und in die damit verknüpften Mechanismen sozialer Ungleichheit unterschiedlich tief eindringen.

So lassen sich die Zahlen zum Sozialprofil der Studierenden sowie der Blick auf den kanalisierten Weg hin zur Hochschule in bildlicher Form eines ‚Bildungstrich-ters‘ und auch die Darstellung der Motive, die Studierende als maßgebliche bei ihrer Studienentscheidung angeben, auf einer eher deskriptiven Ebene verorten:

Sie beschreiben zwar, wie Studien(fach)wahlen in Deutschland zurzeit aussehen und weisen auf mögliche Ursachen hin, können aber aus ungleichheitstheoreti-scher Sicht nicht erklären, wieso die entsprechenden Entscheidungen auf diese Weise gefällt und mit welchen sozialen Logiken sie verknüpft sind.

Dazu bedarf es der Beschäftigung mit den soziologischen Erklärungsansätzen zu Bildungsentscheidungen allgemein und Studien(fach)wahlen im Speziellen, die an der Schnittstelle von Bildungs- und Geschlechterforschung zu verorten sind. Während sich die Geschlechterforschung hier vor allem für die Ursachen der fachlichen Segmentation in Schule, Hochschule und auf dem Arbeitsmarkt interessiert, liegt das Erkenntnisinteresse der Bildungsforschung schwerpunktmä-ßig auf der Erklärung von Bildungswegen – die eine Disziplin bezieht sich also vorrangig auf die Dimension von Geschlecht, die andere auf die Dimension der sozialen Herkunft bzw. der sozialen Klasse. Die sozialkonstruktivistischen und sozialpsychologischen Ansätze der Geschlechterforschung, Studien(fach)wahlen vor dem Hintergrund von doing gender-Prozessen und der Entwicklung eines (fähigkeitsbezogenen) Selbstkonzeptes zu erklären, zeigen besonders gut Aus-schlüsse von Mädchen aus technisch-naturwissenschaftlichen Fächern während der Schulzeit und Abdrängungsmechanismen von Frauen aus den entsprechen-den Berufsfeldern auf, die von spezifischen Stereotypen, Zuschreibungen und Männlichkeits- und Machtkonstruktionen geprägt sind. Auch poststrukturalis-tische Ansätze verdeutlichen pointiert, wie es im ‚Diskursfeld Technik‘ zu verletzenden und ausschließenden Adressierungen gegenüber Mädchen kommt und dass der kulturell hergestellte Ausschluss des Sozialen aus dem technischen Berufsbereich sich als implizite Vergeschlechtlichung dieses Feldes fassen lässt.

Während die soziale Herkunft in diesen Ansätzen nicht bzw. kaum berücksichtigt wird, fließt sie in die Analysen der biografietheoretischen Geschlechterforschung ein: Diese zeichnet vor dem Hintergrund des sozialisatorischen Gewordenseins der Individuen ihre Wege in verschiedene Studienfächer nach und verdeutlicht,

wie etwa eine technische Studienorientierung eingebettet ist in die Praktiken der Herkunftsfamilie, in den schulischen Werdegang und in das soziale Umfeld von jungen Frauen und Männern und wie hier Geschlecht und soziale Herkunft zusammenwirken. Dieses Zusammenwirken wird jedoch nur ungenügend struk-turell rückgebunden, wenn beispielsweise die soziale Herkunft ausschließlich auf einer vertikalen Ebene von Schichtzugehörigkeit verhandelt wird oder wenn die Wege von Frauen in Ingenieurberufe nur vor dem Hintergrund von Geschlecht analysiert werden. Hier setzt die professionssoziologische Perspektive nach Ange-lika Wetterer (Wetterer 2002) an, die die Gleichzeitigkeit der hierarchisierenden Konstruktion von Beruf und Geschlecht zum Strukturmoment erklärt, durch den Männern und Frauen systematisch verschiedene soziale Positionen zugewiesen werden. Zugleich wird der Status eines Berufsfeldes durch das dortige Geschlech-terverhältnis mitbestimmt. Die vergeschlechtlichte Konnotation von ‚sozialen‘ und

‚technischen‘ Berufen ist damit inhaltlich eine beliebige, aber in ihrer Funktion äußerst stabil – steht sie doch stellvertretend für die vergeschlechtlichte Konstitu-tion unterschiedlicher sozialer PosiKonstitu-tionen. Auch strukturalistische Ansätze wie der der „doppelten Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 2008) gehen in diesem Ver-ständnis auf. Denn Beruf- und Studien(fach)wahl werden so zum Mechanismus der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung, die Erwerbs- wie auch Reproduktionsar-beit umfasst und Frauen in wenig anerkannte Bereiche verweist. Welche Rolle die soziale Klasse in diesem Prozess der sozialen (Selbst-)Positionierung spielt, lässt sich mit Wetterers Ansatz allerdings nicht eruieren – und spätestens hier kommen die Perspektiven der Bildungsforschung ins Spiel.

Im Gegensatz zum Rational-Choice-Ansatz nach Boudon (1974) ermög-licht es das Bourdieusche Verständnis von Bildungsentscheidungen und Stu-dien(fach)wahlen (Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1982), diese nicht auf ratio-nale Kosten-Nutzen-Kalküle zu beschränken, sondern stattdessen die langfristig eingeübten klassen- und geschlechtsspezifischen Bewertungs- und Handlungs-muster in den Blick zu nehmen. Zudem wird ‚Klasse‘ hier nicht nur im Sinne von Berufspositionen definiert, sondern als handelnde Klasse, die durch einen gemeinsamen Habitus verbunden ist. Ebenso lässt sich durch das Habituskonzept Geschlecht in seiner strukturierten sowie strukturierenden Eigenschaft greifen, was über ein binäres Geschlechterverständnis weit hinausgeht. Die Bourdieusche Perspektive macht so Abdrängungsmechanismen entlang von Passungskonstella-tionen zwischen Habitus und Hochschule sowie Studienfach sichtbar, die zum Ausschluss bestimmter Habitus von bestimmten Bildungswegen führen. Die hieran anknüpfenden Erkenntnisse der Milieuforschung (etwa Bremer/Lange-Vester 2019; Lange-Bremer/Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004) zeichnen ein konkretes Bild von der habitus- und milieuspezifischen Passung von Individuen zur Hochschule und

zu verschiedenen Fachkulturen. Sie zeigen außerdem, dass Studien(fach)wahlen nicht als isolierter Gegenstandsbereich betrachtet werden dürfen, sondern ein-gebettet sind in die gesamte Lebensführung. Was in diesen Studien bislang ausschließlich im Bereich der Fachkulturforschung von Steffani Engler vorge-nommen, aber noch nicht zur Analyse von Studienfachwahlen umgesetzt wurde, ist eine systematische Berücksichtigung der Dimension von Geschlecht. Um die sozialen Logiken aufzudecken, die hinter Studien(fach)wahlen wirken, bietet sich also an dieser Stelle die Verknüpfung von geschlechter- und bildungs-soziologischen Perspektiven an. Anschlussfähig an die theoretische Grundlage Bourdieus sind hier insbesondere die strukturalistischen und professionssozio-logischen Ansätze der Geschlechterforschung – wenngleich auch die sozialkon-struktivistischen, sozialpsychologischen, biografietheoretischen54und poststruktu-ralistischen55Erkenntnisse in die Verknüpfung eingearbeitet werden können und müssen: Diese verschiedenen Zweige der Geschlechterforschung zeigen zahlrei-che biografiszahlrei-che Erfahrungen auf, die den Weg in ein Studium prägen. Diese Erkenntnisse sollen im Folgenden in der Bourdieuschen Perspektive mitgedacht

54Bourdieu unterstellt dem biografischen Vorgehen eine „natürliche Komplizenschaft“

gegenüber den Befragten als „Ideologen des eigenen Lebens“ (Bourdieu 1990: 76): Die befragte und die befragende Person hätten das gleiche Interesse, nämlich, die „Sinn-haftigkeit der berichteten Existenz zu akzeptieren“ (ebd.). Den Blick in biografischer Weise ausschließlich auf das Subjekt zu richten, ohne die Bedeutung der Rahmenbe-dingungen des Feldes und der damit verbundenen objektiven Beziehungen anzuerkennen, käme nach Bourdieu dem Versuch gleich, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Stre-ckennetz zu berücksichtigen (Bourdieu 1990: 80). Der damit implizierten Unvereinbarkeit von biografietheoretischer und habitustheoretischer Perspektive soll an dieser Stelle nicht gefolgt werden, da die aktuelle Biografieforschung zwar ihren Fokus auf das Subjekt legen mag, aber das ‚Metro-Netz‘ nicht außer Acht lässt und eine Öffnung der beiden Ansätze zueinander mehr Potential verspricht als ihre kontrastive Gegenüberstellung.

55Eine theoretische Verknüpfung von Bourdieus Perspektive mit poststrukturalistischen Ansätzen der Geschlechterforschung ist ebenso von Ambivalenzen geprägt, wie in Abschnitt 3.1.5 bereits angedeutet wurde: Die herausragende Bedeutung sprachlicher Diskurse in poststrukturalistischen Ansätzen gegenüber der stärkeren Betonung vorstruk-turierter Praxis im Bourdieuschen Sinne verweist auf eine Unvereinbarkeit der beiden Positionen, die sich kaum auflösen lässt (zur Unvereinbarkeit der Positionen von Judith Butler und Pierre Bourdieu siehe auch Fowler 2007). Der Vorwurf gegenüber diskurstheo-retischen Positionen hingegen, sie negierten jegliche Materialität außerhalb von Sprache und Diskurs, soll im Anschluss an Schmeck (2019: 82) an dieser Stelle abgewiesen werden. Gemein ist beiden Ansätzen, dass sie Berufswahlen nicht auf die Entscheidung vermeintlich souveräner Subjekte zurückführen, sondern sie als Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse betrachten. Es gilt daher auch hier, diesen gemeinsamen Nenner nutz-bar zu machen und – bei kritischer Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen theoretischen Positionen – die Erkenntnisse der jeweils anderen Perspektive zu berücksichtigen.

werden: Demnach sind die studienfachwahlrelevanten Erfahrungen eingebettet in die Sozialisation an einem spezifischen sozialen Ort. So kann vor einem habitus-theoretischen Hintergrund berücksichtigt werden, dass und wie etwa Vorbilder, fachkulturelle Elemente der Sozialisation, Unterrichtserfahrungen oder Vorstel-lungen von Familiengründung und -organisation eine Rolle spielen bei dem Weg in ein spezifisches Studienfach. Dabei können mit Wetterer und Bourdieu Stu-dien(fach)wahlen alsvergeschlechtlichte und klassenspezifische Passungsprozesse begriffen werden, die zum strukturellen (Selbst-)Ausschluss bestimmter Habitus aus prestigeträchtigen beruflichen Positionen führen. Um diese Perspektive als analytische Brille nutzbar zu machen, muss nun noch geklärt werden, wie die Dimensionen von Geschlecht und Klasse auf der Grundlage des Habituskon-zepts und der daran anschließenden Milieuforschung zusammengedacht werden können. Es soll also ‚ein Schritt zurück‘ gegangen werden von der spezifischen Frage über die Entstehung von Studien(fach)wahlen, um das Gesamtbild des ihr zu Grunde liegenden Verständnisses von Geschlecht und sozialer Herkunft bzw.

Klasse theoretisch aufzuarbeiten und die Analyse von Studien(fach)wahlen im Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen zu fundieren und empirisch greifbar zu machen.

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