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Studien(fach)wahlen aus

3.3 Studien(fach)wahlen aus Perspektiven der

3.3.1 Studien(fach)wahlen aus

rationale Abwägungen

Um die Perspektiven der Geschlechterforschung auf Studien(fach)wahlen als Mechanismus der geschlechtlichen Arbeitsmarktsegmentierung zu ergänzen und die Dimension der sozialen Herkunft systematisch einzubeziehen, benötigt es einen Rückgriff auf die umfangreichen Erkenntnisse der Bildungsforschung, wie er zu Beginn dieser Arbeit begonnen wurde (vgl. Kapitel2). Zur weiteren Erkun-dung der Entstehung von Studien(fach)wahlen sollen nun schwerpunktmäßig die Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Bildungsforschung hinzugezogen werden.29 Dazu wird zuerst der Bezug zu den zwei zentralen bildungssozio-logischen Erklärungsmustern für die Entstehung von Bildungsentscheidungen im Rahmen des bereits erwähnten „Paradigmenstreit[s] zwischen Boudon und Bourdieu“ (Kramer/Helsper 2010: 103) hergestellt. Durch diese theoretische Fun-dierung und die damit verbundenen empirischen Erkenntnisse wird die Rolle von Studien(fach)wahlen in der Entstehung und Festigung sozialer Ungleich-heit umfassend beleuchtet- Zugleich wird eine Abwägung der beiden Zugänge vorgenommen, die das weitere theoretische Vorgehen dieser Arbeit begründet.

Zentral zum Verständnis von Bildungsentscheidungen nach Raymond Boudon (1974) sind seine Begriffe derprimären und sekundären Herkunftseffekte: Unter primären Herkunftseffekten versteht er die langfristigen Wirkungen von Anregung

29Auch andere Stränge der Bildungsforschung interessieren sich für die Frage nach der Entstehung von Bildungs-, Studien(fach)- und Berufsentscheidungen. So etwa die psy-chologische Bildungsforschung (zur Übersicht vgl. etwa Götz/Frencel/Pekrun 2009), die wiederum Schnittstellen zu Fragen der Geschlechterforschung aufweist und daher aus-schnittweise in Abschnitt 3.1.3 rezipiert wurde. Im Folgenden wird schwerpunktmäßig an die sozialwissenschaftliche Bildungsforschung angeknüpft, da sie für das vorliegende Vorhaben besonders anschlussfähig ist.

und Förderung im Sozialisationsprozess, die sich unter anderem in schichtspezi-fischen Unterschieden der schulischen Leistungen und Kompetenzen des Kindes niederschlagen. Sekundäre Herkunftseffekte dagegen bezeichnen die kurzfristigen und direkten Effekte für Bildungschancen. So unterscheidet sich die subjektive Bewertung von Nutzen und Kosten von Bildungswegen und die darauf aufbau-ende Auswahl eines bestimmten Bildungsweges je nach sozialer Schicht. Nutzen und Kosten eines angestrebten Bildungsabschlusses werden, so die Annahme, in Relation zur sozialen Position des Elternhauses betrachtet und Familien wählen den Bildungsweg aus, der aus ihrer Sicht am ehesten zum Statuserhalt beiträgt und der sich wiederum aus der beruflichen Verwertbarkeit von Bildung oder aus Bildungsrenditen in Form von Einkommen und Mobilitätschancen ergibt (Becker 2017: 108 ff.; vgl. auch Kracke/Buck/Middendorff 2018).

Bei seinen Betrachtungen verwendet Boudon den Begriff der sozialen Klassen im Sinne eines Modells von Berufsklassen (Erikson/Goldthorpe 1992). Nach die-sem mehrdimensionalen Konzept wird die Klassenlage von Personen, Haushalten oder Familien als Resultat der jeweiligen Marktlage und der Arbeitssituation der Beschäftigten begriffen. In der empirischen Umsetzung bedeutet das, die soziale Lage vor allem durch sozioökonomische und erwerbsstatistische Daten zu bestim-men (Brauns/Steinmann/Haun 2000: 10 ff.). Dieses Klassenmodell beschränkt sich also auf eine vertikale Dimension.

Mit dem Boudonschen Ansatz lässt sich der Weg von Abiturient*innen in mehr oder weniger prestigeträchtige Fächer nachvollziehen (Becker/Haunberger/Schubert 2009: 296 f.): Schüler*innen aus höheren Sozialschichten haben demnach sowohl vergleichsweise bessere Schulnoten wie auch eine höhere Erwartung, ein Studium erfolgreich abzuschließen – dementsprechend lassen sie sich von prestigeträchtigen Fächern wie Medizin und Jura weniger abschrecken. Abiturient*innen aus unteren Sozialschichten haben geringere Erfolgserwartungen und lassen sich von Fächern, die als anspruchsvoll gelten, eher abschrecken. Zudem ist die Hürde des Numerus Clau-sus für sie höher, die etwa den Weg in die Medizin oder die Psychologie maßgeblich beschränkt. Hinzukommt, dass das Motiv des „Statuserhalts“ die Studien(fach)wahl entscheidend prägt und dazu führt, dass Kinder von „Professionellen“ wie Ärzt*innen und Jurist*innen „strukturell gezwungen“ (ebd.) sind, eine Studienrichtung zu wäh-len, die Statusverluste unwahrscheinlich macht. Die hochgradige Berufsvererbung in diesen Tätigkeitsfeldern wird so erklärbar.

Im Kontext von Studien(fach)wahlen verknüpft Rolf Becker diesen Boud-onschen Ansatz mit weiteren Modellen aus dem Bereich der Rational-Choice-Theorien (Breen/Goldthorpe 1997; Erikson/Jonsson 1996; Esser 1999; Hill-mert/Jacob 2003; Müller/Pollak 2007), die ebenso „davon aus[gehen], dass der

Erhalt des sozialen Status in der Abfolge von Generationen ein instrumen-teller Zweck von Bildung ist“ (Becker/Hecken 2008: 6) und beleuchtet vor diesem Hintergrund die Ergebnisse der sächsischen Abiturientenbefragung (Wol-ter/Lenz/Laskowski 2006) näher. Im Ergebnis bestätigen sich die von Becker vermuteten „Ablenkungsmechanismen“, durch die Studienberechtigte aus den Arbeiter*innenklassen von einem universitären Studium in nichttertiäre Berufs-ausbildungen und in Fachhochschulen ‚umgelenkt‘ werden und die ebenso die Fachwahl umfassen:

„In theoretisch sparsamer wie methodisch eleganter Weise kann empirisch nach-gewiesen werden, dass die Studienfachwahl in Abhängigkeit von der Schicht-zugehörigkeit das Ergebnis von Entscheidungen ist, die vor allem durch das Motiv des Statuserhalts, den für bestimmte Studienfächer erwarteten Renditen, den erwarteten Kosten für bestimmte Studienrichtungen sowie den individuel-len Leistungspotenziaindividuel-len und den erwarteten Studienerfolgen strukturiert werden“

(Becker/Haunberger/Schubert 2009: 307 f.).

Die Boudonsche Perspektive auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten anzu-wenden, bezeichnen ihre Vertreter*innen mitunter als schwieriges Unterfan-gen (Hadjar/Hupka-Brunner 2013: 14). Unter primären Geschlechtereffekten im Bildungserwerb30 werden sozialisatorisch erworbene geschlechtsspezifische Einstellungs- und Handlungsmuster von Jungen und Mädchen gefasst wie „die bei Mädchen stärker ausgeprägte intrinsische Motivation“, „die bei Jungen grö-ßere Schulentfremdung“, „die stärkere Ausprägung störender Verhaltensweisen bei den Jungen“ und „der größere Fleiß der Mädchen“ (Hadjar/Berger 2011: 25).

Diesekundären Geschlechtereffektewiederum basieren auf den geschlechtsspezi-fischen Bildungsentscheidungen der Lehrkräfte, Eltern und der Lernenden selbst mit dem dahinterstehenden Argument, dass dem Abschluss von jungen Menschen je nach Geschlecht ein spezifischer Nutzen zugewiesen würde – dass also „bei Frauen und Männern unterschiedlich kalkuliert wird“ (ebd.). Im Ergebnis weisen die Autor*innen u. a. für alle untersuchten europäischen Länder eine Benachtei-ligung von Frauen im Bildungssystem nach, die durch die Bildungsexpansion je nach Typ des Wohlfahrtsstaates in unterschiedlichem Maße zurückgegangen ist.

Auch die geschlechtsspezifisch strukturierten Entscheidungen für ein Studi-enfach lassen sich in der Boudonschen Perspektive auf die unterschiedlichen Einschätzung von Kosten, Erträgen und Erfolgswahrscheinlichkeiten zurück-führen (Lörz/Schindler 2011). Demnach hätten Frauen etwa allgemein andere

30Die Autor*innen setzen in dieser Analyse einen vertikalen Schwerpunkt auf das Bildungsniveau im europäischen Vergleich, also jenseits horizontaler Fachentscheidungen.

Einstellungen zum Beruf, ein größeres Interesse an Berufen mit einer „soziale[n]

Komponente“ (ebd.: 104) und würden eher zu Berufen neigen, in denen sie eine hohe Vereinbarkeit von Beruf und Familie erwarten (ebd.: 103 f.). Anhand der HIS-Studienberechtigtenbefragung von 2008 arbeiten Markus Lörz und Stef-fen Schindler auf Grundlage dieser theoretischen Vorannahmen heraus, dass für Frauen die Kosten eines Studiums eine größere Rolle spielen als für Männer und dass sie die Berufsaussichten geringer einschätzen (ebd.: 119 f.). Was die Wahl des Studienfachs betrifft, zeigen sich „ähnliche Unterschiede, wenngleich die in die Modelle einbezogenen Variablen nur etwas mehr als die Hälfte der Geschlech-terdifferenz erklären können“ (ebd.: 120). So sind es nach diesem Ansatz die geringeren Erfolgserwartungen, die geringere fachliche Selbsteinschätzung und die höhere fachliche Orientierung hin zu einem sozialen Fach, die die seltene-ren Wege von Frauen in ein naturwissenschaftlich-technisches Studium bedingen (ebd.). Vor diesem Hintergrund halten Lörz und Schindler letztendlich fest, dass die entscheidende Frage jene sei, wie ebendiese unterschiedlichen Einschätzungen entstehen und dass es hier eines Blicks auf die Kindheit und Schulzeit bedürfe (ebd.).

Eine konkrete Anwendung von Boudon auf die Frage nach Geschlechter-effekten in Studienfachwahlen nimmt auch Johanna Lojewski (2012) vor.31 Dabei operationalisiert auch sie die primären und sekundären Herkunftseffekte nach Boudon für die Bedeutung des Geschlechts. Demnach gehören zu den primären geschlechtsbezogenen Herkunftseffekten die Vorstellungen über die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, über geschlechtsspezifische ‚Begabungen‘, über geschlechtsspezifische Lebensstilorientierungen und geschlechtsspezifische Schulnoten selbst. Zu den sekundären geschlechtsbezogenen Herkunftseffekten zählt Lojewski jene Faktoren, die aus der eigenen Einschätzung resultieren, ein bestimmtes Fach erfolgreich absolvieren zu können. So werden männlich bzw.

weiblich konnotierte Fächer im Abgleich mit dem eigenen Geschlecht wahrge-nommen und die Nützlichkeit eines Fachs im gleichen Zuge subjektiv bewertet.

Auf dieser theoretischen Grundlage vermutet Lojewski, dass in den unteren sozia-len Schichten eine traditionelle Arbeitsteilung vorherrscht und diese dazu führen müsse, dass Frauen eher Fächer favorisieren, die eine hohe Vereinbarkeit von Familie und Beruf versprechen. Mittlere und höhere soziale Schichten seien dage-gen geprägt von fortschrittlicheren Haltundage-gen zur Arbeitsteilung und zielen eher

31Sie führt eine Sekundäranalyse durch auf Grundlage des Projekts „Krise und Kontinuität in Bildungsgängen: Der Übergang Schule – Hochschule“ (etwa Bornkessel/Asdonk 2012).

Projektleitung: Dr. Phillipp Bornkessel, Dr. Jupp Asdonk.

auf Gleichberechtigung ab, weshalb hier Fächer stärker nach Einkommens- und Aufstiegschancen bewertet würden.32

Im Ergebnis ihrer Sekundäranalyse stellt Lojewski grundsätzlich keine gravie-renden Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich ihrer Fachwahl-motive fest – stattdessen wirkt hier die soziale Herkunft als bestimmender Faktor.

Allerdings zeigen sich Unterschiede auf den zweiten Blick, nämlich bei den extrinsischen Motivlagen von „Berufs- und Einkommenschancen“, „gesellschaft-lichem Ansehen“ und der „Vereinbarkeit“ (Lojewski 2012: 314). Dementspre-chend entscheiden sich Männer nach wie vor vornehmlich für Fächer mit hohen Berufs- und Einkommenschancen, Frauen dagegen für prestigeärmere Bereiche mit weniger Aufstiegsmöglichkeiten. Die Autorin schränkt allerdings die Aus-sagekraft dieser Erkenntnis ein, indem sie auf die hohen Standardabweichungen im Antwortverhalten der beiden Genusgruppen hinweist (ebd.). Das Geschlecht scheint also nur in einem gewissen Rahmen ein verbindendes Merkmal in der Berufs- und Studienfachwahl zu sein – gleichzeitig existiert innerhalb einer Geschlechtskategorie eine große Varianz, etwa nach sozialer Herkunft und/oder Fächergruppe (ebd.: 340 ff.). Resümierend appelliert Lojewski an Forschungen, nicht nach der Prädominanz von Geschlecht oder sozialer Herkunft zu fragen, sondern stattdessen ihr komplexes Zusammenspiel zu berücksichtigen und schlägt hierfür ebenfalls den Boudonschen Ansatz vor.

Zusammenfassend liegt der besondere Erkenntnisgewinn einer Boudonschen Perspektive vor allem darin, dass Bildungs- und Studien(fach)entscheidungen nicht nur in Abhängigkeit von ökonomischen Ressourcen oder der institutionel-len Rahmung und dass sie nicht nur als eine Frage von ‚Motivlagen‘ betrachtet werden. Stattdessen macht der Boudonsche Ansatz die Verwobenheit von Bil-dungsentscheidungen mit der sozialen Herkunft und dem familiären Bildungshin-tergrund deutlich. Gleichzeitig werden auch einige Leerstellen dieser Perspektive offenbar: Gerade im Kontext der PISA-Erhebungen wird Kritik an Kosten-Nutzen-Modellen laut, die die deutsche Bildungsforschung zurzeit dominieren.

Diese machen zwar erstens Ungleichheiten auf statistischer Ebene sichtbar, blicken aber nicht auf die möglicherweise dahinter liegenden Mechanismen (Kra-mer/Helsper 2010: 106). Indem Bildungsentscheidungen als überwiegend rational und durchdacht begriffen werden, geraten zudem eventuelle vorreflexive Anteile dieser Entscheidungsprozesse aus dem Blick. Zweitens liegt eine Stärke des

32Diese Annahmen lassen sich als Beispiel werten, wie gewagte Rückschlüsse von der sozialen Lage auf die spezifischen Einstellungen und Praktiken der Akteur*innen gezogen werden – und dies ohne den Blick auf mögliche horizontale Unterscheidungen.

Boudonschen Ansatzes durchaus im Erfassen vertikaler und institutioneller Bil-dungssegregation und der damit verbundenen Persistenz von Bildungsprivilegien, allerdings gerät dadurch die horizontale und damit die sozio-kulturelle Dimen-sion in den Hintergrund (Vester 2006: 21).Drittenslässt sich die Konzeption der primären und sekundären Herkunftseffekte hinterfragen: So geht mit dieser Bou-donschen Modellierung auch eine Gewichtung der beiden Effekte einher, die die sekundären Herkunftseffekte als entscheidende Kraft ausweist und den Blick auf ihr komplexes Zusammenwirken verwehrt (Kramer 2011: 137). Außerdem werde in entsprechenden Studien zwar darauf hingewiesen, dass eine klare Trennung zwischen beiden Dimensionen von Herkunftseffekten schwierig sei; jedoch ist dieses Problem nach wie vor ungelöst (ebd.). Vor diesem Hintergrund kritisiert Kramer zusammenfassend, dass man dem Boudonschen Modell folgend „…die Frage der Hervorbringung und dauerhaften Fortschreibung von Bildungsungleich-heiten kausal auf das Bildungsentscheidungsverhalten (der Eltern) engführen und damit einer individuellen Verantwortung zurechnen kann“ (ebd.). Viertens lässt sich resümieren, dass Geschlecht etwa bei den zwei vorgestellten Studien zu Geschlechtereffekten im Bildungserwerb und in Bildungsentscheidungen verkürzt operationalisiert wird. Indem die primären und sekundären Geschlechtereffekte auf der Grundlage quantitativer Daten zu bspw. geschlechtsspezifischen Ein-stellungen und Motivlagen bestimmt werden, stoßen die Analysen an ähnliche Grenzen wie andere quantitative Studien der Bildungsforschung (vgl. Kapitel2):

Es ergibt sich zwar ein anregendes deskriptives Bild von geschlechtsspezifischen Effekten in Bildungsungleichheiten, eine tiefergehende Ursachenerkundung ist auf dieser Basis aus ungleichheitstheoretischer Sicht allerdings nicht möglich.

Ebenso wenig wird ein analytischer Blick auf die vorreflexiven und durchaus vielfältigen Herstellungsprozesse von Geschlecht angelegt, denn ‚Männlichkeit‘

und ‚Weiblichkeit‘ werden in den genannten Studien stets als binäre Folie vorgegeben33.

Für beide Ungleichheitsdimensionen – die soziale Herkunft wie das soziale Geschlecht – lassen sich mit Boudon also Ausdrucksformen von Bildungsun-gleichheit fassen, allerdings nicht ihr komplexes Zusammenwirken, ihre vorrefle-xiven Anteile und ebenso wenig die möglicherweise dahinter wirkenden sozialen Mechanismen, die diese erst hervorbringen.

33Etwa indem ‚Jungen‘ von vornerein eine „stärkere Ausprägung störender Verhaltenswei-sen“ in der Schule (Hadjar/Berger 2011: 25) zugeschrieben wird.