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Bildungsentscheidungen aus

3.3 Studien(fach)wahlen aus Perspektiven der

3.3.2 Studien(fach)wahlen aus Habitusperspektive:

3.3.2.1 Bildungsentscheidungen aus

Die Analyse der verschleierten sozialen Mechanismen von Bildungsentschei-dungen ermöglichen Forschungsansätze, die dem Verständnis von (Bildungs-) Ungleichheit nach Pierre Bourdieu folgen (Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1982). Diese Perspektive unterscheidet sich schon durch ihr Klassenverständnis von dem Boudonschen Ansatz. Bourdieu beschränkt sich bei seinem Verständ-nis von sozialen Klassen nicht auf deren sozioökonomische und berufsbezogene Merkmale, sondern rückt ihre verbindende soziokulturelle Praxis – ihren gemein-samen Habitus – in den Vordergrund34: Der Habitus ist eine „allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stel-lungnahmen führt“ und die maßgeblich vom Vorhandensein von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital geprägt ist (Bourdieu 1992a: 31).

Vor diesem Hintergrund konstruiert Bourdieu den sozialen Raum dreidimen-sional, beruhend auf Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und zeitlicher Entwicklung dieser beiden Größen (Bourdieu 1982: 195 f.), wobei die Kapitalien das Resultat von Praxis sind. Der soziale Raum umfasst zum einen die Ebene der sozialen Positionen, die horizontal zwischen den Polen von ökonomischem und kulturel-lem Kapital und vertikal aufgrund des Gesamtvolumens an Kapital verortet sind, und zum anderen die Ebene derLebensstile(s. Abbildung3.1).

Beide Ebenen liegen ‚übereinander‘, sind also eng miteinander verknüpft, und zwar durch den Habitus, der zwischen der sozialen Position und den Praktiken der Akteur*innen vermittelt.

Als zentrales Element seiner Theorie ist das Habituskonzept auch die Grund-lage zur Betrachtung von Bildungsentscheidungen: Bourdieus Verständnis von Bildungsentscheidungen ist im Vergleich zu Boudon nicht in dieser Weise geprägt von rationalen Kosten-Nutzen-Überlegungen, sondern von der vorreflexiven Wirk-mächtigkeit des sozialisatorisch ausgebildeten Habitus. In diesem Sinne betont Bourdieu die selektierende Wirkung des Bildungssystems, das bestimmte klas-senspezifische Habitus sanktioniere und andere befördere – es treffen also die Habitus der Akteur*innen auf die institutionellen Strukturen, zu denen sie mehr oder weniger gut ‚passen‘:

34Zum Bourdieuschen Verständnis von ‚sozialen Klassen‘ siehe auch weiterführend Abschnitt4.2.1.

Abbildung 3.1 Raum der sozialen Positionen und Raum der Lebensstile nach Bourdieu.

(Quelle: Bourdieu 1982: 212 f.)

„Nur eine adäquate Theorie des Habitus als Ort der Verinnerlichung der äußeren Ansprüche und der Veräußerlichung der inneren Ansprüche kann die sozia-len Beziehungen erhelsozia-len, aufgrund derer das Bildungswesen die von alsozia-len seinen

ideologischen Funktionen am besten getarnte Funktion der Legitimierung der Sozialordnung erfüllen kann. Das traditionelle Bildungssystem verbreitet erfolgreich die Illusion, der gebildete Habitus sei ausschließlich das Ergebnis seiner Lehr-tätigkeit und sei damit von allen sozialen Determinanten unabhängig, während es im Extremfall nur einen Klassenhabitus, der außerhalb des Bildungswesens entstan-den ist und Grundlage alles schulischen Lernens bildet, benutzt und sanktioniert.

Es trägt deshalb entscheidend zur Perpetuierung der Struktur der Klassenbezie-hungen bei und legitimiert sie, indem es verbirgt, daß die von ihm produzierten Bildungshierarchien soziale Hierarchien reproduzieren“ (Bourdieu/Passeron 1971:

222).

Damit hat der Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen und der Struk-tur des (hoch-)schulischen Lernens zur Folge, dass die Teilhabe an schulischer Bildung mit der Teilhabe an der ‚herrschenden Kultur‘ zusammenfällt – der Zugang zu Bildungseinrichtungen und der Erfolg dort sind also nach Bour-dieu ein Ergebnis kultureller Passung (Kramer/Helsper 2010). Auf dem Weg in die hochschulische Ausbildung werden bestimmte klassenspezifische Habi-tus sanktioniert und auf andere Bildungswege abgedrängt. Somit ist das Studium

„…Teil eines Transformationsprozesses, der Dispositionen des Habitus in Positio-nen sozialer Ordnung umwandelt. (…) Bezogen auf Studienfachwahlen kommt es so im biografischen Prozess zu Passungskonstellationen des Habitus zu bestimm-ten Fächern, Studieninhalbestimm-ten und fächertypischen Vermittlungs- und Lehrformen, Anforderungen des Studiums und zur Fachkultur als Ganzes“ (ebd.).

Anteile der Abwägung, die zu einer Bildungsentscheidung führt, sind in die-sem Verständnis nicht völlig bewusst zugänglich, sondern wirken im Sinne eines

‚Gespürs‘ dafür, wo „…man sich ‚am richtigen Platz‘ oder ‚fehl am Platz‘ fühlt und entsprechend beurteilt wird“ (Bourdieu/Passeron 1971: 30)35. Im Gegen-satz zu Boudon sind nach Bourdieu Bildungsentscheidungen also nicht rationale, bewusste Abwägungen von subjektiven Chancen und dem Nutzen eines spezi-fischen Bildungsweges die Grundlage für eine Bildungsentscheidung, sondern die Passung ist eng verknüpft mit dem sozialistorisch entstandenen und primär vorreflexiven Gespür für die ‚richtige‘ Wahl.

Die Beharrungskraft des Habitus und die mögliche deterministische Interpreta-tion des entsprechenden Ungleichheitsverständnisses ist dagegen die am häufigsten geäußerte Kritik an der Bourdieuschen Perspektive (Becker/Haunberger/Schubert

35Das teils vorreflexive ‚Gespür‘ für die Passung zu einem Studienfach bzw. Beruf soll im Folgenden auch durch den Begriff der ‚Antizipation‘ abgebildet werden.

2009: 298). Bourdieu wird immer noch regelmäßig vorgeworfen, dass er „einem ver-deckten Determinismus huldige, dass er geschlossene Regelkreisläufe gesellschaft-licher Reproduktion konstruiere und folglich die Freiheit des Menschen aus syste-matischen Gründen nicht angemessen berücksichtigen könne (…)“ (Rieger-Ladich 2005: 283)36. Entgegnet werden muss hier, dass der Habitus zwar relativ stabil37ist und Grenzen im Handeln setzt, aber ebenso Möglichkeitsräume eröffnet. Er legt die Lebensführung also keinesfalls fest im Sinne von „Schienen“ (Bremer 2007b: 130), sondern prägt eher die Lebensführung und Alltagsgestaltung wie eine persönliche

„Handschrift“ (Bourdieu 1981: 198) und hat in diesem Rahmen durchaus kreatives Potential:

„Dabei ist der Habitus kreativ, erfindungsreich; er ist in der Lage, in neuen Situatio-nen neue Verhaltensweisen hervorzubringen; er hat das Potential einerars invendi, einer Kunst des Erfindens (Kunst im Sinne der praktischen Meisterschaft). Dieser Ope-rator ist Produkt der Geschichte eines Individuums, geronnene Erfahrung und damit nicht nurmodus operandi, sondern auchopus operatum(ein Produkt, ein Werk, etwas Hergestelltes); er ist verinnerlichte, inkorporierte Geschichte; in ihm wirkt die ganze Ver-gangenheit, die ihn hervorgebracht hat, in der Gegenwart fort – allerdings um den Preis des Vergessens“ (Krais/Gebauer 2002: 6).

Diese ars invendi des Habitus kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn sich seine Entstehungsbedingungen von den Gegenwartsbedingungen im Feld unterscheiden. Diese Konstellation kann durchaus als Regelfall bezeichnet wer-den, denn nur in einer „statischen Gesellschaft, (…) deren Sozialstruktur über lange Zeiträume hinweg Bestand hat“, käme es zu einer widerspruchsfreien

„Passung von Entstehungs- und Anwendungsbedingungen des Habitus“ (Rieger-Ladich 2005: 289). Seiner grundsätzlichen Beharrungskraft zum Trotz ist es also ebenauchsein Erfindungsreichtum in Momenten des Widerspruchs und der Nicht-Passung, die den Habitus kennzeichnen und ihn als Konzept an der Schnitt-stelle von individuellem Handeln und struktureller Prägung so erkenntnisreich machen38. Der Bourdieusche Blick auf Bildungsentscheidungen allgemein und Studien(fach)wahlen im Speziellen eignet sich daher, um verborgene Mechanis-men in der Reproduktion sozialer Ungleichheit zu entschlüsseln und gleichzeitig

36Weiterführend zu kritischen Rezeptionsmustern bezüglich Bourdieus Ungleichheitskonzept vergleiche auch Kramer (2011: 21 ff.).

37Dass sich etwa die Grundmuster des Habitus über mehrere Generationen halten, zeigen die Analysen einer Familiengeschichte von Lange-Vester (2000).

38Vergleiche ergänzend zur Entkräftung des Determinismus-Vorwurfs gegenüber Bourdieu auch Krais (2011).

auch Momente der Improvisation und der Herausforderung des Habitus zu berücksichtigen.