• Keine Ergebnisse gefunden

Vergeschlechtlichte Techniksozialisation

Ein weiterer gewichtiger Forschungsstrang der Geschlechterforschung, der sich mit Fragen der geschlechtsspezifischen Berufswahl befasst – auch hier mit dem Fokus von Frauen in technischen Studiengängen und Berufen –, lässt sich der biografietheoretischen Perspektive zuordnen. Hier wird zwar nicht in erster Linie danach gefragt, wie durch die Berufswahl Geschlecht aktiv hergestellt wird oder welche Rolle das sozialpsychologische Selbstkonzept für eine technische Berufs-wahl hat, gleichzeitig gibt es breite Schnittstellen zu diesen bereits vorgestellten Ansätzen.

So geht die gendersensible Biografieforschung davon aus, dass die soziale Konstruktion von Geschlecht auch eine biografische Dimension besitzt. Auf die-ser Grundlage werden erzählte Lebensgeschichten analysiert, um Prozesse der Geschlechterkonstruktion empirisch zu untersuchen und dabei Geschlecht als

„narrative biographische Konstruktion“ (Dausien 2012: 158) zu greifen. Es geht also darum, Bedingungen, Wirkungsweisen und Logiken sozialer Konstruktions-prozesse zu rekonstruieren (ebd.: 160 f.) und – im Fall der Berufswahl – nach-zuvollziehen, wie der Weg in ein spezifisches Studium oder einen spezifischen

Beruf vor diesem Hintergrund zustande gekommen ist. Studien, die den biogra-fischen Weg von Frauen in Ingenieurstudiengänge und -berufe rekonstruieren, gehören zu den aktuell dominantesten in der gendersensiblen Betrachtung von Berufsentscheidungen.

Wie die Entscheidung für ein technisches Studienfach in der Biografie von Ingenieurstudentinnen entsteht, rekonstruieren etwa Schüller/Braukmann/Göttert (2016) mit ihrer Studie über Studentinnen des Maschinenbaus und der Elek-trotechnik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Anhand von 33 problemzentrierten Interviews gehen sie dieser Frage in einer ressourcenorien-tierten Perspektive nach und arbeiten so heraus, welche personalen, strukturellen und sozialen Ressourcen den Ingenieurstudentinnen bei ihrer Studienfachwahl zur Verfügung standen. Die Autorinnen stellen mehrere zentrale Ressourcen fest, die den Weg hin zu einem Technikstudium begünstigen:

Als personale Ressourcen, die in den Befragten selbst ‚angelegt‘ sind, stel-len Schüller/Braukmann/Göttert so eine hohe Technikaffinität unter den befragten Studentinnen fest, die sich in einer positiven Einstellung zu Technik und im Inter-esse an Themen wie Heimwerken und Basteln und/oder Fächern wie Mathematik und Physik äußert (ebd.: 168 ff.). Außerdem haben die meisten Interviewpartne-rinnen eine hohe technische Selbstkompetenz – also ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, ein fachliches Selbstbewusstsein aufgrund von Leistungen und sie nehmen Widerstände als Herausforderungen wahr. Diese technische Selbstkom-petenz kann also ähnlich verstanden werden wie ein positives technikbezogenes Selbstkonzept. Zusätzlich zeigen die Studentinnen einen kompetenten Umgang mit der Mehrheit ihrer männlichen Kommilitonen, da sie durch ihre Kindheit und Jugend schon Erfahrungen mit männlichen Gruppen gemacht, sich eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit angeeignet und gegebenenfalls für sich alter-native Weiblichkeitsentwürfe entwickelt haben. Was die spätere Berufstätigkeit angeht, zeichnet die Ingenieurstudentinnen eine hohe Interessensvielfalt aus sowie eine starke Bereitschaft zur Weiterbildung, eine ausgeprägte Berufsorientierung und eine hohe Bereitschaft zur flexiblen Lebensgestaltung.

Im Zusammenspiel mit den personalen Ressourcen begünstigen auch mehrere strukturelle Ressourcen die Entscheidung für ein Ingenieurstudium – also Res-sourcen, die ‚von außen‘ zur Verfügung gestellt werden und die auch teilweise die personalen Ressourcen bedingen. Ein zentrales Element davon fassen die Autorin-nen unter dem Begriff der „Techniksozialisation“ zusammen, was sie verstehen als „das frühe Erfahren erster individueller Talente und Fähigkeiten im spiele-rischen Umgang mit Technik, wobei externe Bezugspersonen insbesondere aus dem familiären Kontext durch Vorbildverhalten nachhaltig das Technikinteresse fördern können“ (Schüller/Braukmann/Göttert 2016: 16). Durch gemeinsames

Werkeln, Basteln, Reparieren etc. mit Bezugspersonen wie Vätern, Brüdern und Müttern entstehen vielfältige techniknahe Spielbezüge, die von der Familie zuge-lassen und sogar gefördert werden. Außerdem haben viele der Befragten den Mathematik- oder Physikunterricht positiv in Erinnerung. Zusätzlich haben die Befragten einen adäquaten Zugang zu Informationen über Ingenieurstudiengänge und -Berufe wie Beratungs- und Informationsangebote, ihnen sind Anlaufstellen bei Diskriminierung und für Frauenförderung bekannt und sie profitieren von der Struktur der Hochschule selbst – etwa, indem Professor*innen als Role Models für sie fungieren. Zudem stellen die Befragten spezifische Erwartungen an ihren künftigen Arbeitgeber wie gute Arbeitsplatzchancen, ein genügend hohes Ein-kommen für finanzielle Unabhängigkeit, eine interessante Tätigkeit sowie eine gute work-life-balance und eine mögliche Vereinbarkeit mit der Familie durch Kinderbetreuung oderHome Office.

Schließlich wirken auch diesozialen Ressourcender Befragten als entscheidende Unterstützung, wie sich bereits abgezeichnet hat (Schüller/Braukmann/Göttert 2016:

168–174). Von ihren Eltern und ihrem sozialen Umfeld wurden sie etwa in Bastel-arbeiten einbezogen, es wurde auf ihre Interessen eingegangen – unabhängig von kulturellen Geschlechtergrenzen –, sie wurden aktiv bei ihrer Studienfachwahl und im Studium selbst unterstützt und haben persönliche Kontakte, die sie als Informa-tionsquelle für das Studium nutzen können. Hier spielen neben den Eltern und dem direktenUmfeldauchLehrkräfte,Berater*innen,LehrendederHochschuleundKom-militon*innen eine tragende Rolle.

Dabei stehen nicht alle Ressourcen allen Befragten gleichermaßen zur Ver-fügung, sondern geringer ausgeprägte Ressourcen können durch andere ‚kom-pensiert‘ werden. Gleichzeitig müssen die Ressourcen nicht der ‚Realität‘ ent-sprechen, sondern es ist entscheidend, dass sie von den Befragten so empfunden und als Unterstützung erinnert werden (Schüller/Braukmann/Göttert 2016: 16 ff.).

Die Autorinnen weisen außerdem darauf hin, dass sogar die Studentinnen mit besonders ausgeprägten und vielen Ressourcen an der Hochschule durch ver-schiedene Ausschlussmechanismen an ihre Grenzen stoßen und das Ziel nicht die ‚ressourcenoptimierte‘ Studentin sein darf, sondern eine Änderung der Fach-und Arbeitskulturen an der Hochschule angestrebt werden muss (ebd.: 174).

Der aktuellen gendersensiblen Biografieforschung zu techniknahen Studien-fachwahlen lassen sich des Weiteren die Studienergebnisse von Hans-Jürgen Wen-sierski und anderen zuordnen15 (Wensierski 2015; Wensierski/Langfeld/Puchert

15Projekt „Bildungsziel – Ingenieurin: Technik- und naturwissenschaftliche Studienorien-tierungen bei jungen Frauen“, BMBF-gefördert, Laufzeit: 2011 bis 2015. Projektleitung:

Prof. Dr. Hans-Jürgen Wensierski.

2015; Puchert 2017)16. Wensierski/Langfeld/Puchert (2015) zeichnen ebenfalls anhand der Biografie von Ingenieurstudentinnen nach, wie sich das Interesse und die Entscheidung für Technik während der Lebensgeschichte herausgebildet haben. Sie haben dazu 42 narrative Interviews geführt und anhand von 14 Fallstu-dien eine Typologie entwickelt mit drei zentralen Typen von Biografieverläufen:

Unter den ersten Typen fassen die Autor*innen Frauen mit einer frühen technikkulturellen Bildung im familiären Herkunftsmilieu (Wen-sierski/Langfeld/Puchert 2015: 63 ff.): Hier liegt in der Familie bereits eine Nähe zu technischen Tätigkeiten vor, die sich beispielsweise in den Berufen der Eltern (Mutter Bauzeichnerin, Vater Mechatroniker o. ä.) oder in der familiären Technikaffinität (Vater bindet seine Tochter in Technikthemen ein, kindliche Spielerfahrungen mit Geschwistern im handwerklich-bastlerischen Bereich o. ä.) zeigt. Technik ist bei diesem Typ in verschiedene sozialisatorische Prozesse eingebunden und wird von unterschiedlichen – teils mehreren – Sozialisations-instanzen orientierungsleitend verkörpert und die entsprechenden jungen Frauen entwickeln so eine ingenieurwissenschaftliche Studienorientierung. Dieser Pro-zess kann durchaus mit Widersprüchen und Kämpfen verbunden sein, etwa was Geschlechtsrollendenken angeht oder den Weg in ein Studium aus einer Familie ohne Hochschulerfahrung heraus.

Beim zweiten Typ nach Wensierski/Langfeld/Puchert lässt sich einefamiliäre naturwissenschaftliche Bildung, ergänzt durch ein technikaffines pädagogisches Anregungsmilieufeststellen (ebd.: 187 ff.). Diesen Typ zeichnet aus, dass weni-ger der familiäre Technikbezug, sondern die Nähe zum naturwissenschaftlichen Tätigkeitsbereich stark ausgeprägt ist. So entsteht bspw. eine Studienentscheidung hin zu einem interdisziplinären Technikstudiengang, in dem primär naturwissen-schaftliche, aber ebenso technische und sozialethische Fragen behandelt werden.

Der dritte Typ schließlich unterscheidet sich vor allem vom ersten Typ durch die Herausbildung einer technischen Studienorientierung im Kontext bildungs-biografischer Selbstbehauptungsprozesse(ebd.). Technik ist hier nicht unbedingt als relevantes Thema in der Familie angelegt, nimmt aber eine entscheidende

16Es sei kritisch auf die teilweise verkürzte Rezeption der Geschlechterforschung im Rah-men dieses Projektes hingewiesen: So bezeichnet etwa Puchert (2017: 84) die Frauen-und Geschlechterforschung zwar als „Wegbereiter“ des Gegenstandsbereich Frauen Frauen-und Technik, unterstellt ihr aber bis heute die „Annahme eines traditionellen Männlichkeit-Technik-Klischees“ und postuliert deshalb, dass die Frage nach der Marginalität von Frauen in technischen Berufen immer noch nicht genügend beantwortet sei. Die diver-sen Ansätze der Geschlechterforschung – insbesondere der professionssoziologischen und poststrukturalistischen Perspektive (s. Abschnitt 3.1.5 und 3.1.6) – zeugen jedoch von einem sehr differenzierten Blick auf die Vergeschlechtlichung von Technik und entkräften Pucherts Kritik nachhaltig.

Funktion in der Entwicklung der jungen Frauen ein: Das Technikstudium kann so die familiär angelegten Aufstiegsambitionen erfüllen, einen jugendbiografi-schen Verselbstständigungsprozess flankieren oder Ressource im Rahmen einer konflikthaften Identitätsbildung sein.

Im gemeinsamen Ergebnis aller Typen stellen die Autor*innen fest, dass die Ausbildung eines technikkulturellen Habitus als sozialisatorische und bil-dungstheoretische Voraussetzung gesehen werden kann für die Entscheidung von Frauen, ein Ingenieurstudium aufzunehmen. Durch den Begriff des „technikkul-turellen Habitus“ wollen die Autor*innen betonen, dass es sich hier nicht um ein isoliertes technisches Interesse handelt, sondern dass in den Familien häufig ein vielschichtiges technisches Handeln zu beobachten ist, „das sich jeweils auf die ganze Alltagskultur und eine gemeinsam geteilte technische Wissenskultur erstreckt“ (ebd.: 335).

In einer methodengleichen Folgeuntersuchung analysiert Puchert (2017) die Biographien von männlichen Studentendes Maschinenbaus und der Elektrotech-nik und entwickelt auf der Grundlage von 16 narrativen Interviews ebenfalls drei Typen, mit denen sie die spezifische Herausbildung einer technischen Studienwahl nachzeichnet:

Der erste Typ gleicht dem der Erstuntersuchung unter Ingenieurinnen und fasst unter der Benennung der frühen technikkulturellen Bildung im familiären Her-kunftsmilieu etwa die Hälfte der männlichen Fälle (Puchert 2017: 264 ff.): Sie haben eine frühe technikkulturelle Primärsozialisation erfahren, in der alle Väter und teilweise auch andere männliche Familienmitglieder technikaffine Berufe innehaben, während den Müttern überwiegend die Zuständigkeit für Haushalt und Erziehung obliegt. Ein ausgeprägter technikkultureller Habitus ist hier bei keiner Mutter erkennbar. Die Nähe zu MINT-Themen wird bei diesem Typ früh vermittelt und von der gesamten Familie unterstützt.

Der zweite Typus bildet zwischen den anderen beiden kontrastiven Typen ein Intermedium. Er umfasst die Herausbildung einer technischen Studienorientie-rung im Kontext von Selbstsozialisation und technikaffinem Peermilieu, zu dem nur zwei Fälle gehören (Puchert 2017: 286 ff.). Im Gegensatz zum ersten Typus ist hier kein technikkulturelles Anregungsmilieu vorhanden und die Familien weisen keine technikbezogenen Berufstraditionen auf. Stattdessen gehen die jungen Män-ner ihren Weg Richtung Technik vor allem angeregt durch technikaffine Peers und den Schulunterricht, wobei Puchert durch den Begriff der „Selbstsozialisation“

den Eigensinn dieser Verläufe betonen will.

Der dritte Typ wiederum gleicht erneut dem dritten Typus der Ingenieurinnen-studie und umfasst dieHerausbildung einer technischen Studienorientierung im Kontext bildungsbiografischer Selbstbehauptungsprozesse(Puchert 2017: 296 ff.).

Er steht in Kontrast zum ersten Typus, es ist also keine technikkulturelle Pri-märsozialisation zu beobachten und der Einfluss der Herkunftsfamilie auf den Berufswahlprozess der jungen Männer ist eher gering. Diese Fälle nähern sich der Technik durch Selbstbehauptungsprozesse in der Adoleszenz an.

Im Vergleich der Typen an Studentinnenbiografien und der Typen an Stu-dentenbiografien umfasst kommt neben den breiten Gemeinsamkeiten auch eine geschlechtsspezifische Dimension zum Tragen (Puchert 2017: 355 ff.). Die Tech-niktradition im Kontext eines Familienbetriebs weiterzuführen oder die Selbster-zählung als ‚Computer-Nerd‘ sind Verlaufsmerkmale, die sich ausschließlich bei den männlichen Fällen finden, die zentrale Bedeutung der technikaffinen Mut-ter oder das adoleszente technikdistanzierte Bildungsmoratorium dagegen nur bei den weiblichen Fällen. Im Ergebnis betont Puchert die zentrale Gemein-samkeit beider vergeschlechtlichter Biografieverläufe, dass die Entwicklung eines technikkulturellen Habitus eine strukturelle Voraussetzung für die spätere inge-nieurale Studienfachwahl ist. Dabei werden nicht ‚einfach‘ herkunftsfamiliäre Fachtraditionen reproduziert, sondern die Studienorientierung speist sich aus komplexen und vielschichten Interaktions- und Beziehungsprozessen (ebd.). Die Herkunftsmilieus der Studierenden sind äußerst heterogen.

Das Erkenntnispotential dieser biografietheoretischen Analysen zu Wegen von Frauen und Männern in ein Technikstudium ist offensichtlich: Die Fallstudien zeichnen ein komplexes Bild darüber, wie die Orientierung hin zu einem Inge-nieurstudium unter dem Einfluss unterschiedlicher Sozialisationsinstanzen und damit auch unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft entstehen kann. Kri-tisch angemerkt werden kann hier, dass die soziale Herkunft teilweise verkürzt behandelt wird, indem etwa der Habitusbegriff unterkomplex verwendet und als „technikkultureller Habitus“ auf eine fachliche Dimension reduziert wird.

Im Bourdieuschen Sinne könnte durch diese selektive Anwendung des Begriffs die Ganzheitlichkeit des Konzepts und die Bedeutung der herkunftsspezifischen Habitusmuster – in die fachlich-kulturelle Elemente eingebettet sind – in den Hintergrund treten.17

Dies führt zum zweiten Kritikpunkt an den genannten biografieorientierten Studien: Sie berücksichtigen zwar die Bedeutung der sozialen Herkunft für die Studienorientierung, allerdings mit geringer struktureller Rückbindung. So wer-den die von Schüller/Braukmann/Göttert (2016) herausgearbeiteten Ressourcen nicht systematisch mit der sozialen Herkunft in Verbindung gebracht und Wen-sierski/Langfeld/Puchert (2015) nehmen eine ausschließlich vertikale Untertei-lung ihrer Fälle in „Arbeiterfamilien“, „Mittelschichtfamilien“ und „akademische

17Zu Bourdieus Habituskonzept siehe auch Abschnitt3.3.2.

Familien“ (ebd.: 73, 88, 112) vor, ohne etwaige horizontale Unterschiede auf der Ebene der (kulturellen) Alltagspraxis zu betrachten.