• Keine Ergebnisse gefunden

Was sind Wahrnehmungsstörungen und wie können sich diese im Verhalten von Kindern während dem Kindergartenalltag äussern?

Bei der Wahrnehmung muss zwischen peripheren und zentralen Störungen unterschieden werden.

Bei der peripheren Funktionsstörung ist das Sinnesorgan beeinträchtigt: Ankommende Reize kön-nen nicht wahrgenommen und nicht weitergeleitet werden. Diese Störung liegt zum Beispiel bei der Blindheit oder Taubheit vor. Bei zentralen Wahrnehmungsstörungen ist nicht das Sinnesorgan betroffen, sondern die zentrale Verarbeitung im Gehirn. Die ankommenden Reize können nicht

26 richtig geordnet und verarbeitet werden und somit kann nicht angemessen auf diese reagiert wer-den.

Probleme bei der Wahrnehmung oder sensorischen Integration äussern sich bei jedem Kind an-ders. Eine mögliche Folge ist zum Beispiel motorische Unruhe oder Hyperaktivität. Daneben sind oft auch Schwierigkeiten mit der Sprache festzustellen. Im Bereich der Motorik kann zudem ein niedriger Muskeltonus oder mangelnde Bewegungskoordination auffallen. Auch ein unreifes Spiel-verhalten kann die Folge von Problemen mit der sensorischen Integration sein. Nicht zuletzt haben solche Kinder oftmals ein geringes Selbstbewusstsein, da sie sich in gewissen Bereichen Gleich-altrigen unterlegen fühlen; zum Selbstschutz weicht das Kind in der Folge vielleicht auf aggressive oder vermeidende Verhaltensweisen aus (Ayres, 2012; Fink, Hofer & Pastewka, 2010; Pfluger-Jakob, 2003; Zimmer, 1995).

Welche Aufgaben kommen der Kindergartenlehrperson bei der Einschätzung des Entwicklungs-standes im Bereich Wahrnehmung zu?

Die Kindergartenlehrperson muss den Entwicklungsstand aller Kinder in verschiedenen Bereichen einschätzen, so auch in der Wahrnehmung. Ihr stehen dabei verschiedene Optionen von systema-tischen Beobachtungsinstrumenten zur Verfügung. Diese Einschätzungen werden mit unsystema-tischen Beobachtungen ergänzt. Verzögerungen sollen möglichst früh festgestellt werden und im Rahmen ihrer Möglichkeiten soll die Kindergartenlehrperson mit erzieherischen Hilfen und fördern-den Massnahmen darauf reagieren. Zur genaueren Abklärung werfördern-den Fachstellen, zum Beispiel der schulpsychologische Dienst, beigezogen. Hierbei ist die Zusammenarbeit mit den Eltern und weiteren Förderlehrpersonen zentral (Greisbach, 2014; Bildungsdepartement Kanton SG, 2009 &

2012; Institut für Elementar- und Schulpädagogik IESP, o.J.; Kilchenmann, Walter & Fasseing, 2002; Pfluger-Jakob, 2003; Schulpsychologischer Dienst des Kantons St. Gallen, o.J.).

Zum Schluss ist anzumerken, dass die Kindergartenlehrperson lediglich beobachtet und Vermu-tungen über den Entwicklungsstand einzelner Kinder formulieren kann, jedoch keine Diagnose stellt. Ohnehin kann der Entwicklungsstand der Wahrnehmung lediglich am gezeigten Verhalten der Kinder eingeschätzt werden, und es können nur Vermutungen über diesen geäussert werden.

Eine Diagnose können nur entsprechende Fachleute (Schulpsychologe/in, Arzt/Ärztin) stellen. Mit der Einwilligung der Eltern können diese von der Kindergartenlehrperson beigezogen werden.

5 Wahrnehmungsförderung

Im vorangehenden Kapitel wurde thematisiert, was Wahrnehmungsstörungen sind und welche Aufgaben der Kindergartenlehrperson in Bezug auf die Einschätzung und Förderung zukommen.

In diesem Kapitel wird nun die Frage gestellt, welche Kriterien Übungen erfüllen müssen, mit wel-chen die Lehrperson Kinder mit Förderbedarf in der Wahrnehmung unterstützen kann. Dazu wird zuerst die Sensorische Integrationstherapie nach Ayres vorgestellt, welche eine klassische Kon-zeptvorstellung der Wahrnehmungsförderung vertritt. Die sensorische Integrationstherapie (SI) hat vielerorts Eingang in die ergotherapeutische Praxis und auch in pädagogische Bereiche gefunden.

Trotz ihrer relativ grossen Verbreitung wird sie in einigen Punkten kritisiert. Eine solche Position wird der SI anschliessend gegenübergestellt. Schliesslich wird versucht, aus diesem Vergleich sinnvolle Kriterien für gute Wahrnehmungsübungen herauszukristallisieren. Im Anhang zu dieser Arbeit befindet sich zusätzlich ein Kapitel (10.5) zu Studien über die Wirksamkeit der sensorischen Integrationstherapie.

27 5.1 Die Sensorische Integrationstherapie nach Ayres

Die sensorische Integrationstherapie nach Ayres kann als ein Teilgebiet der Ergotherapie bezeich-net werden. Der Therapieansatz geht davon aus, dass die Auseinandersetzung (Interaktion) des Kindes mit seiner Umgebung entscheidend für die Entwicklung des Kindes ist. Natürliche Interakti-onen liefern die sensorischen Erfahrungen und Gelegenheiten für anpassende ReaktiInterakti-onen, die bei den meisten jüngeren Kindern für die Entwicklung des Gehirns ausreichen. Kinder mit einer senso-rischen Integrationsstörung sind jedoch nicht dazu im Stande, die Sinneserfahrungen ihres Spiels zu verarbeiten und anpassend darauf zu reagieren (Ayres, 2013, S.193). „Damit fehlen ihnen die anpassenden Reaktionen, die tragend für die Organisation des Gehirns sind.“ (Ayres, 2013, S.

193)

Die Grundidee der Sensorischen Integrationstherapie besteht darin, dass dem Kind verschiedene Sinnesreize – v.a. im vestibulären, taktilen und propriozeptiven Bereich - in der richtigen Dosie-rung und Form angeboten werden, damit das Kind anpassend reagieren kann und die Sinnesemp-findungen integriert. Dabei ist es nicht das Ziel, dass dem Kind Aktivitäten oder motorische Fähig-keiten beigebracht werden, sondern das Kind dabei zu unterstützen, seine Lernfähigkeit zu ver-bessern, sodass es jede motorische oder kognitive Fertigkeit, die es für das Leben braucht, erler-nen kann.

In der Praxis ermittelt der oder die sensorische Integrationstherapeut/in anhand verschiedener Tests, welche sensorischen Systeme zu wenig reagieren oder überreagieren. Der/die Therapeut/in kann aufgrund einer fachkundigen Auswahl von Sinneserfahrungen das Kind zu entsprechenden Tätigkeiten hinführen. Der Antrieb, eine Tätigkeit auszuführen, sollte jedoch vom Kind selbst aus kommen. Dabei ist die sensorische Integrationstherapie eine ganzheitliche Methode, die den Kör-per, die Sinne und das ganze Gehirn anspricht.

Da Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen oft kein grosses Selbstvertrauen haben, liegt ein weiteres Behandlungsziel darin, die Selbststeuerung des Kindes zu stärken, was sich wiederum positiv auf das Selbstvertrauen auswirkt. Die Herausforderung für die Therapeutin besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen Struktur und Freiheit herzustellen. Allein das freie, durch das Kind be-stimmte Spielen, kann gerade bei Kindern mit Schwierigkeiten in der sensorischen Verarbeitung, nicht immer zum Ziel führen. Im Gegensatz dazu kann auch zu viel Struktur die Entwicklung und das Wachstum verhindern. Das Kind soll nur so viel Kontrolle über die Therapie haben, wie es diese bewältigen kann und die gewählten Aktivitäten therapeutischen Wert haben (Ayres, 2012, S.

190-204).

Zum Schluss noch ein Zitat von Ayres, welches die Bedeutung des „aktiven Tuns“ unterstreicht:

„Wenn Sinnesempfindungen nicht regelrecht verarbeitet werden können, ist aktives Tun im Rah-men von zielgerichteten und zweckorientierten körperlichen Aktivitäten – anstatt darüber nachzu-denken oder zu sprechen - die beste Art, um unsere menschlichen Fähigkeiten zu verbessern.“

(Ayres, 2012, S. 204)

5.2 Kritik an der sensorischen Integrationstherapie

Die Sensorische Integrationstherapie hat ihren Ursprung, wie Fischer (2007) erläutert: „Im medizi-nisch-naturwissenschaftlichen Denken der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhun-derts.“ (Fischer, 2007, S. 223). Nach Fischer rechnet sich die Sensorische Integrationstherapie dem psychomotorisch-ganzheitlichen Ansatz zu. Der Autor kritisiert nicht primär die Modellvorstel-lungen, die der Therapie zu Grunde liegen, sondern die praktische Umsetzung dieser Theorie. So herrschen in der Praxis einseitig funktionelle Verständnis- und Vorgehensweisen vor, wobei die Wahrnehmung auf einen einseitig gerichteten sensorischen Informationsfluss reduziert wird. Das Konzept leitet einen Störungsbegriff nach den vier Ebenen der Entwicklung der sensorischen

In-28 tegration ab. Dabei werden Auffälligkeiten von der beobachtenden Person immer auf sensorisch-integrative Dysfunktionen des Gehirns zurückgeführt. Medizinisch wird die Diagnose einer nicht belegbaren „frühkindlichen Hirnschädigung“ oder „minimaler cerebraler Dysfunktion“ gestellt. Die Behandlung erfolgt dann stets mit systematischen Übungen und Stimulationen, die der von Ayres angenommenen fixen Abfolge der Entwicklung von den körpernahen zu den nach aussen gerichte-ten Sinnesmodalitägerichte-ten folgen.

Fischer kritisiert vor allem das Menschenbild, das seiner Meinung nach in vielen therapeutischen Settings vertreten wird: „[…] [der Mensch wird] auf seine funktionierenden Nervenzellen und Sy-napsen reduziert und die intentionale Seite des Menschen mit seinen Ängsten, Hoffnungen und Wünschen [wird] nur peripher berücksichtigt. Aus diesem Grund ist der Anspruch auf Ganzheitlich-keit in Frage zu stellen.“ (Fischer, 2007, S. 223) Wahrnehmung ist nie nur ein Abbild funktionieren-der Sinnestüchtigkeit, die sich aus einem gezielten Sinnestraining ergibt. Von Anfang an liegt dem Wahrnehmungsprozess eine komplexe, intermodale Leistung der Person auf der Basis zielgerich-teter Bewegung, zu Grunde (Fischer, 2007, S. 223).

Als Wegweisend führt Fischer das Theorieverständnis von Eleanor Gibson auf. Nach Gibson hän-gen Handlung und Wahrnehmung voneinander ab und sind komplementär. Dem Handeln als Er-kundungsaktivität kommt eine grosse Bedeutung zu. Die Auseinandersetzung des Lebewesens mit der Umwelt ist dabei das Ziel. Dabei macht die Umwelt dem Lebewesen verschiedenste Angebote, um handeln zu können (Osterwalder, 2004, S. 34). Das Angebot ist so zu verstehen, dass ein Stuhl uns zum Beispiel zum Sitzen auffordert. So ist für Gibson: „[…] Wahrnehmung ein Prozess der Differenzierung eines aktiv handelnden Kindes und niemals das Resultat eines Anreicherungs-prozesses von Informationen.“ (Pick, 1992; zit. nach Fischer, 2007, S. 223)

Als Schlussfolgerung für die therapeutische Praxis zieht Fischer (2007), dass Bewegung und Wahrnehmung als Einheit verstanden werden müssen: „Die Förderpraxis muss sich hüten, Wahr-nehmungsförderung als reines Sinnestraining misszuverstehen.“ (Fischer, 2007, S. 225) Zudem muss die bewegungsbezogene Förderung als multimodale Erkundungstätigkeit verstanden werden und in ganzheitlichen Handlungssituationen vermittelt werden. Diese Handlungssituationen müs-sen immer als Problemlösesituationen gestaltet werden. Dadurch wird den Kindern ein kreativer Umgang mit Handlungsmöglichkeiten erlaubt; sie müssen nicht einen vorgegebenen Lösungsweg nachvollziehen (Fischer, 2007, S. 225).

Im nächsten Teilkapitel wird die Sensorische Integrationstherapie mit der Kritik von Fischer vergli-chen. Daraus werden versucht Kriterien für gute Wahrnehmungsförderung abzuleiten.

5.3 Rasterbildung: Was macht gute Sinnesübungen aus?

Auf welchen Prinzipien bauen gängige Konzepte der Wahrnehmungsförderung auf und wie wird in der Praxis mit Betroffenen in der entsprechenden Therapie gearbeitet?

Ein wesentliches Prinzip der Wahrnehmungsförderung stellt die Ganzheitlichkeit dar. Diese wird von Ayres und Fischer leicht unterschiedlich ausgelegt. Ayres versteht unter Ganzheitlichkeit den Einbezug der Körpers, der Sinne und des Gehirns. Fischer fügt diesem Bild noch die emotionale Komponente (Wünsche, Ängste) hinzu.

Einigkeit herrscht in beiden Theorien darüber, dass Wahrnehmungsförderung nicht als isoliertes Sinnestraining missverstanden werden soll, d.h. Einzelfertigkeiten zu erwerben. Die Auseinander-setzung des Kindes mit der Umwelt soll im Zentrum stehen.

Handlungssituationen des Kindes sollen nach Fischer immer als Problemlösesituation gestaltet werden, damit den Kindern ein kreativer Umgang mit Handlungsmöglichkeiten offen steht. Ayres

29 vertritt grundsätzlich dieselbe Meinung, schränkt jedoch ein, dass gerade zu viel Offenheit für Kin-der mit Wahrnehmungsproblemen nicht immer zum Ziel führt. Sie plädiert eher für ein Gleichge-wicht zwischen Struktur und Freiheit, um das Kind nicht zu überfordern.

Der wohl grösste Unterschied zwischen den beiden Sichtweisen betrifft das Verständnis über die Wahrnehmungsentwicklung. Diese verläuft nach Ayres in vier Stufen (von den Nahsinnen zu den Fernsinnen), wohingegen Fischer anmerkt, dass dem Wahrnehmungsprozess von Anfang an eine komplexe intermodale Leistung auf der Basis zielgerichteter Bewegungen zu Grunde liegt (Ayres, 2013; Fischer, 2007; Osterwalder, 2004; Pick, 1992).

Welche Kriterien machen sinnvolle und wirksame Übungen zur Förderung der Wahrnehmung aus?

Im Folgenden werden die Erkenntnisse aus dem Vergleich der theoretischen Grundlage nach Ay-res und der Gegenüberstellung der Kritik von Fischer, zu sechs Kriterien kombiniert, welche gute Übungen für die Förderung der Wahrnehmung erfüllen sollen:

Kriterien für gute Sinnesübungen 1 Wahrnehmung

Die spezifische Förderung eines oder auch mehrerer Wahrnehmungsbereiche steht im Zentrum der Übung.

2 Ganzheitlichkeit

Die Übungen sollen den Körper, das Gemüt (Gefühl) und die Kognition (Denken) anspre-chen. Es sollen nicht einzelne isolierte Fertigkeiten geübt werden.8

3 Neugierde

Ziel soll es sein, dem Kind den Spass am Erkunden der Umwelt zu erhalten oder wieder-zugeben und die Neugierde des Kindes zu wecken.

4 Selbststeuerung

Handlungssituationen sollen als Problemlösesituationen gestaltet sein, damit dem Kind ein entwicklungsangepasster Handlungsfreiraum eröffnet wird. Dadurch kann Selbstver-trauen in die eigenen Fähigkeiten gewonnen werden.

5 Handlung

Handlung und Wahrnehmung bilden eine Einheit, die nicht getrennt werden soll. Das Kind soll bei jeder Übung zu aktivem Tun angeregt werden.

6 Freude

Der Antrieb, eine Tätigkeit auszuführen, soll vom Kind aus kommen. Übungen müssen deshalb für die Kinder ansprechend und lustvoll sein.

Tabelle 5: Inhaltliche Kriterien für gute Übungen zur Wahrnehmungsförderung

Diese sechs inhaltlichen Kriterien sollen möglichst bei allen Übungen erfüllt werden, welche im Produkt zu dieser Arbeit zusammengestellt werden. Zusätzlich wird im Kapitel 6 näher darauf ein-gegangen, welche formalen Kriterien die Übungen erfüllen müssen, damit sie im Kindergartenall-tag eingesetzt werden können.

8 Dies bedeutet nach Zimmer (1995) allerdings nicht, dass Spielangebote spezifische Wahrnehmungsberei-che nicht herausstellen dürfen. Durch das Ausschliessen visueller Kontrollmöglichkeiten können zum Bei-spiel der Tastsinn oder das Hören intensiviert werden. Spielerische Aufgabenstellungen tragen dazu bei, dass das Kind Spass am Üben behält (Zimmer, 1995, S. 166).

30

6 Perspektive Kindergarten

Das bisher absichtlich abstrakt gehaltene Thema der Wahrnehmungsförderung soll nun auf den konkreten Rahmen des Kindergartens adaptiert werden. Zuerst wird dazu geklärt, ob und in wie fern im Kindergarten überhaupt Ziele in Bezug auf die Wahrnehmungsförderung verfolgt werden sollen. Anschliessend wird einerseits nach geeigneten zeitlichen Gefässen für eine Förderung ge-fragt und andererseits nach methodischen Möglichkeiten die sich daraus ergeben.

6.1 Ziele des Kindergartens in Bezug auf Wahrnehmungsförderung

Wie bereits im Kapitel 5 erwähnt, kommt der Kindergartenlehrperson mit der Früherkennung von Wahrnehmungsschwierigkeiten eine bedeutende Funktion zu. Neben dieser Aufgabe muss die Lehrperson auch den Entwicklungsprozess der Kinder im Bereich Wahrnehmung begleiten und allenfalls unterstützen. Dies ist das Thema des ersten Unterkapitels. Daneben sind sowohl im ak-tuellen Lehrplan des Kantons St. Gallen, sowie im Lehrplan 21, Richtziele und Lernbereiche bzw.

Kompetenzen formuliert, welche die Kinder im Bereich Wahrnehmung erreichen sollen. Eine kurze Übersicht gibt das zweite Unterkapitel darüber.

6.1.1 Die Aufgaben des Kindergartens

Zur Bedeutung des Kindergartens gehört, wie im Lehrplan des Kantons St. Gallen festgehalten ist, dass die Kinder im Kindergarten grundlegende Lernerfahrungen machen können. Durch das Spiel erfährt das Kind eine Differenzierung der Wahrnehmungsfähigkeit. Dabei soll das Kind durch na-türliche Neugier zu eigenständigem und kreativen Problemlöseverhalten angeregt werden (Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen, 2012, S.4).

Diese Forderung des Lehrplans des Kantons St. Gallen deckt sich gut mit den Kriterien für gute Sinnesübungen, der „Neugierde“, „Selbststeuerung“ und der „Freude“, welche im vorangehenden Kapitel festgelegt wurden. Die Kindergartenlehrperson ist folglich dazu angehalten, ein solches Unterrichtsklima zu schaffen und zu erhalten.

Weiter gehört es zu den Richtzielen des Kindergartens, dass das Wahrnehmen, Begreifen und Festigen ermöglicht wird. Die Kinder wollen ihre Umwelt erkunden. Dabei kommt dem Kindergarten als Entdeckungs- und Lernraum eine wichtige Funktion zu. Es sollen alle Sinne angesprochen werden. Somit gehört es auch zu der Aufgabe der Kindergärtnerin oder dem Kindergärtner, dass der Raum entsprechend eingerichtet ist (Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen, 2012, S. 5). Das „Handeln“ als Kriterium einer guten Sinnesübung erscheint hier als Bindeglied zwischen Mensch und Raum. Der Raum, also die Umwelt soll zu aktivem Tun anregen.9

Im Lehrplan 21 ist die Wahrnehmung als ein entwicklungsorientierter Zugang aufgeführt. Die insgesamt neun Zugänge sind als Brücke von der Entwicklungsperspektive zur Fachbereichsstruktur des Lehrplans gedacht. Das Kind lernt über die Wahrnehmung sich sowohl die Aussenwelt als auch die Innenwelt zu erschliessen. Mit der Zeit kann das Kind seine Wahrnehmung auf mehrere Aspekte richten und verbessert sich so stetig in der Wahrnehmungsfähigkeit. Ziel ist es, dass das Kind den Übergang von der entwicklungsorientierten zur fachorientierten Herangehensweise findet und so Ende des ersten Zyklus (2. Klasse) die Basis

9 Wie der Raum mit seinem Einfluss auf die Wahrnehmung der Kindergartenkinder bewusst gestaltet werden kann, wird im Anhang unter Kapitel 10.4 beschrieben.

31 für systematisches Lernen10 erworben hat (Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz, 2014). Die Wahrnehmung bildet also mit den anderen entwicklungorientierten Zugängen die Grundlage für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Als Konsequenz für die Lehrperson ergibt sich, dass den entwicklungsorienterten Zugängen, auch der Wahrnehmung, vorallem zu Beginn des 1. Zyklus (Kindergarten) grosse Beachtung geschenkt wird, im Hinblick auf jede andere Lerntätigkeit. Doch die Wahrnehmung erscheint im Lehrplan nicht allein als Voraussetzung für das systematische Lernen. Auch in den einzelnen Fachbereichslehrplänen finden sich Ziele, die explizit die Wahrnehmung ansprechen. Diese werden im nächsten Unterkapitel aufgegriffen.

6.1.2 Lehrplanbezug

Im Folgenden werden die einzelnem Lern- resp. Fachbereiche aufgeführt und die wesentlichen Zielinhalte im Bereich Wahrnehmung umschrieben. Für eine lautgetreue Wiedergabe der Lernbe-reiche oder Kompetenzen empfiehlt sich die Lektüre im aktuellen Lehrplan des Kantons St. Gallen (Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen, 2012) oder im Lehrplan 21 (Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz, 2014). Die Inhalte werden aus beiden Lehrplänen miteinbezo-gen, jedoch nicht explizit unterteilt.

Mensch und Umwelt / Natur, Mensch, Gesellschaft

Die Kinder werden mit dem eigenen Körper vertraut, können eigene Ressourcen einschätzen und nutzen. Der Aufbau des Körpers kann beschrieben werden und die körperliche Entwicklung nach-vollzogen werden. Zudem können die Kinder in der Umgebung Stoffe wahrnehmen. Sie erkennen Signale, Sinne und Sinnesleistungen. Sowohl akustische, als auch optische Phänomene können sie erkennen und untersuchen.

Sprache / Deutsch

Die Kinder sollen aufmerksam zuhören können und verstehen wollen. Dabei können sie Laute, Silben, Stimmen, Geräusche und Töne wahrnehmen, einordnen und vergleichen.

Gestaltung / Bildnerisches, textiles und technisches Gestalten

Zum Gestalten gehört das Wahrnehmen, Beobachten und der gestalterische Ausdruck. Wahrge-nommen werden dabei sowohl innere wie auch äussere Bilder, Objekte und technische Zusam-menhänge. Im Bereich des Sehens können Kinder Gesetzmässigkeiten erkunden und beschrei-ben.

Musik

Ihre eigene Stimme können die Kinder wahrnehmen, entwickeln und formen. Auch die Umwelt, sowie musikalische Elemente können hörend differenziert wahrgenommen werden.

Mathematisches Tun / Mathematik

Die Kinder können Raumvorstellungen entwickeln und Raumlagen bezeichnen.

Bewegung und Sport

Mit dem eigenen Körper können die Kinder umgehen, ihn also gezielt steuern, spüren und wahr-nehmen. Durch verschiedene Sinne entdecken sie sportliche Tätigkeiten. Durch Bewegung und Wahrnehmung setzen sie sich mit sich selbst, der dinglichen und der sozialen Umwelt auseinander (Bildungsdepartement Kanton SG, 2012; Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz, 2014).

10 Im Verlaufe des 1. Zyklus sollen die Kinder lernen, ihre Aufmerksamkeit und ihre Lerntätigkeit vermehrt auch auf von aussen vorgegebene Lerninhalte zu richten (systematischer lernen). Sie werden zunehmend fähig, mit vorgegebenen Aufgaben, Aufträgen und fachspezifischer Ausrichtung umzugehen (D-EDK, 2014).

32 Mit dieser kurzen Übersicht sollte ein Einblick in die Lehrpläne des Kantons St. Gallen und des Lehrplan 21 erfolgt sein. Auffallend ist, dass es in beiden Lehrplänen in jedem Fachbereich min-destens ein Ziel hat, dass die Wahrnehmung anspricht. Dies scheint die grundlegende Bedeutung der Wahrnehmung als Basisfunktion11 zu unterstreichen.

In diesem ersten Teilkapitel stand die Verknüpfung des Inhalts der Wahrnehmung mit den Lehr-plänen im Zentrum. Nun stellt sich die Frage, wie diese Ziele im Unterricht organisatorisch verfolgt werden können.

6.2 Zeitliche Gefässe für Fördersequenzen: Tagesstruktur im Kindergarten

Um geeignete zeitliche Gefässe für Fördersequenzen festzulegen ist es unabdingbar, die übliche Tagesstruktur im Kindergarten zu berücksichtigen. Im Folgenden wird diese Struktur und ihre Be-deutung kurz vorgestellt, damit diese im nächsten Kapitel schliesslich mit passenden Förderme-thoden ergänzt werden kann.

Nach Walter und Fasseing (2002) sind in vielen Kindergärten der Deutschschweiz folgende vier Unterrichtsbausteine anzutreffen: Die geführte Aktivität, die individuelle Vertiefung, die spielerische Förderung und das Freispiel. Diese Bausteine können in verschiedener Reihenfolge auftreten und auch die Dauer der Sequenzen, respektive die Betonung, können variieren. Über einen Halbtag gesehen, können alle Bausteine auftreten, manchmal tritt ein Baustein auch zu Gunsten eines an-deren in den Hintergrund. Über eine längere Zeitspanne hinweg, sollten die Unterrichtsbausteine jedoch in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.

Die geführte Aktivität ist stark lehrpersonenzentriert, da vor allem Handlungsabläufe und Sachin-formationen durch die Kindergartenlehrperson vermittelt werden. Durch die Bearbeitung des In-halts mit der ganzen Klasse wird eine gemeinsame Basis für die Kindergruppe gelegt.

Die Inhalte der geführten Aktivität können von einzelnen Kindern individuell vertieft werden. Dies bietet ihnen einen persönlichen Zugang zum Lerninhalt. Durch die individuelle Vertiefung werden

Die Inhalte der geführten Aktivität können von einzelnen Kindern individuell vertieft werden. Dies bietet ihnen einen persönlichen Zugang zum Lerninhalt. Durch die individuelle Vertiefung werden