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Wahrnehmungsförderung im Kindergarten

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Academic year: 2022

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Pädagogische Hochschule St. Gallen PHSG Studiengang Kindergarten und Primarschule

______________________________________________________________________

Wahrnehmungsförderung im Kindergarten

Bachelorarbeit

Im Rahmen der Ausbildung 12-15 im Studienbereich Erziehungswissenschaften

von Mirjam Tanner Kolumbanstrasse 17a

9008 St. Gallen

15. Dezember 2014

Begleitung und Begutachtung:

Prof. Ruth Lehner

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1

Inhalt

1 Einleitung ... 3

1.1 Abstract ... 3

1.2 Fragestellung ... 3

1.3 Zielsetzung ... 4

1.4 Gliederung der Arbeit ... 4

1.5 Vorwort ... 5

2 Wahrnehmung ... 6

2.1 Die Sinne des Menschen ... 6

2.2 Funktion der einzelnen Sinne ... 6

2.3 Sensorische Integration ... 12

2.4 Fazit: Modell des Menschen und seiner Sinne ... 12

3 Wahrnehmungsentwicklung ... 13

3.1 Die Entwicklung der Sinne von der Geburt bis sechs Jahre ... 13

3.2 Die Entwicklung der sensorischen Integration ... 17

3.3 Begünstigende Faktoren für eine gesunde Entwicklung ... 18

3.4 Zusammenfassung: Konsequenz für die Wahrnehmung von Kindergartenkindern ... 20

4 Wahrnehmungsschwierigkeiten ... 21

4.1 Wahrnehmungsstörungen ... 21

4.2 Probleme im Kindergartenalltag ... 22

4.3 Einschätzung des Entwicklungsstandes durch die Kindergartenlehrperson ... 23

4.4 Zusammenfassung ... 25

5 Wahrnehmungsförderung ... 26

5.1 Die Sensorische Integrationstherapie nach Ayres... 27

5.2 Kritik an der sensorischen Integrationstherapie ... 27

5.3 Rasterbildung: Was macht gute Sinnesübungen aus? ... 28

6 Perspektive Kindergarten ... 30

6.1 Ziele des Kindergartens in Bezug auf Wahrnehmungsförderung ... 30

6.2 Zeitliche Gefässe für Fördersequenzen: Tagesstruktur im Kindergarten ... 32

6.3 Methoden der Förderung in den vier Unterrichtsbausteinen ... 32

6.4 Zusammenfassung ... 34

7 Produkt ... 35

7.1 Begründung ... 35

7.2 Aufbau ... 36

7.3 Methode ... 37

8 Rückblick ... 37

8.1 Diskussion ... 37

(3)

2

8.2 Reflexion ... 38

8.3 Persönliches Schlusswort ... 39

9 Quellenverzeichnis ... 40

Literatur ... 40

Abbildungsverzeichnis ... 42

Tabellenverzeichnis ... 42

10 Anhang ... 43

10.1 Die Geschichte der Sinne ... 43

10.2 Organischer Aufbau der Sinne ... 44

10.3 Diagnostische Verfahren für gezielte Beobachtungen ... 52

10.4 Raumgestaltung im Kindergarten ... 54

10.5 Studien zur Wirksamkeit der sensorischen Integrationstherapie ... 55

11 Eidesstattliche Erklärung ... 57

(4)

3

1 Einleitung

1.1 Abstract

Die Entwicklung der Sinne findet beim Menschen vor allem in den ersten Lebensjahren statt. Dabei gibt es verschiedene Umweltfaktoren, welche die ganzheitliche Sinnesentwicklung des Kindes entweder begünstigen oder behindern können. Verläuft die Entwicklung nicht erwartungsgemäss, können Wahrnehmungsschwierigkeiten auftreten, welche bereits im Kindergartenalter festgestellt werden können. Diese Arbeit versucht aufzuzeigen, welchen Beitrag der Kindergarten leisten kann, um eine gesunde Entwicklung zu fördern und welche Aufgaben der Kindergartenlehrperson bei der Diagnose von Wahrnehmungsschwierigkeiten zukommen. Das Ziel ist es, ein Produkt zu schaffen, welches die Kindergartenlehrperson als Ideensammlung für ihren Unterricht nutzen kann.

Dazu werden die bestehenden Rahmenbedingungen des Kindergartens analysiert. Basierend auf den theoretischen Grundlagen werden ein Konzept und konkrete Unterrichtsvorschläge erarbeitet und zu einem handhabbaren Instrument zusammengestellt.

Keywords: Wahrnehmungsentwicklung, Wahrnehmungsförderung, Sinnesschulung im Kindergar- ten, Wahrnehmungsschwierigkeiten

Quelle: Tanner, M. (2014). Wahrnehmungsförderung im Kindergarten. PHSG Rorschach: Bachelo- rarbeit

1.2 Fragestellung

In dieser Arbeit wird folgende Hauptfragestellung untersucht:

Wie weit entwickelt ist die Wahrnehmung von vier bis sechsjährigen Kindern und welchen Beitrag kann der Kindergarten zur Förderung der Entwicklung derselben leisten?

Zu Beginn wird die Frage nach den Sinnen des Menschen gestellt.

1. Welche Sinne gibt es und welche Funktionen erfüllen diese in einem gesunden menschlichen Körper?

Nachdem die Sinne des Menschen in ihrer Funktion und in ihrem Zusammenspiel kennengelernt wurden, fragt sich weiter, wie sich diese entwickeln. In diesem Zusammenhang wird zuerst nur die gesunde Entwicklung betrachtet.

2. Wie entwickelt sich die Wahrnehmung von der Geburt bis ins Kindergartenalter?

3. Welche Faktoren können eine gesunde Entwicklung der Wahrnehmung von der Geburt bis ins Kindergartenalter fördern?

Nachdem in der zweiten und dritten Unterfrage die gesunde Entwicklung untersucht wurde, wird nun das Thema der Wahrnehmungsstörungen behandelt.

4. Was sind Wahrnehmungsstörungen und wie können sich diese im Verhalten von Kindern wäh- rend dem Kindergartenalltag äussern?

5. Welche Aufgaben kommen der Kindergartenlehrperson bei der Einschätzung des Entwicklungs- standes im Bereich Wahrnehmung zu?

Weiter fragt sich, ob und wie den Kindern mit Störungen in der Entwicklung der Wahrnehmung geholfen werden kann.

(5)

4 6. Auf welchen Prinzipien bauen gängige Konzepte der Wahrnehmungsförderung auf und wie wird in der Praxis mit Betroffenen in entsprechenden Therapien gearbeitet?

7. Welche Kriterien machen sinnvolle und wirksame Übungen zur Förderung der Wahrnehmung aus?

Da das Ziel dieser Arbeit ein Konzept zur Förderung der Wahrnehmung von Kindergartenkindern ist, müssen im Hinblick auf das Produkt die Strukturen des Kindergartens analysiert und Möglich- keiten zur Förderung diskutiert werden.

8. Welche theoretischen Ansätze der Wahrnehmungsförderung oder -therapien lassen sich mit den Aufgaben des Kindergartens vereinbaren und können unter Berücksichtigung der Rahmenbedin- gungen des Kindergartens umgesetzt werden?

9. Welche zeitlichen und organisatorischen Gefässe bieten sich im Kindergartenalltag an, um ein- zelne Kinder oder die gesamte Kindergruppe in der Entwicklung ihrer Wahrnehmung zu fördern?

Schlussendlich wird versucht, ein theoriebasiertes Produkt herzustellen, welches aufzeigt, wie und mit welchen Übungen die Entwicklung der Wahrnehmung durch den Kindergarten gefördert wer- den kann.

1.3 Zielsetzung

Ziel dieser Arbeit ist die theoriebasierte Zusammenstellung eines geeigneten Konzeptes und von konkreten Übungen zur Förderung der Wahrnehmung in Form eines Begleitdossiers.

Die Übungen und Konzepte sollen für die Kindergartenlehrperson im Alltag einfach umsetzbar sein und von Nutzen für alle Kinder sein, unabhängig von ihren Vorkenntnissen und bereits erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten im entsprechenden Bereich.

1.4 Gliederung der Arbeit

Zu Beginn dieser Arbeit steht die Wahrnehmung als Begriff im Zentrum. Die einzelnen Sinne des Menschen werden näher beschrieben, ihre Funktion und das Zusammenspiel zwischen den ein- zelnen Einheiten aufgezeigt. Weiter wird die gesunde Entwicklung der Wahrnehmung von der Ge- burt bis zum Alter von sechs Jahren (Eintritt in die erste Klasse) verfolgt und nach begünstigenden Faktoren für eine gesunde Entwicklung gesucht.

Im Kapitel 4 stehen im Vergleich zur gesunden Entwicklung aus dem 3. Kapitel, Wahrnehmungs- störungen im Vordergrund. Im Hinblick auf die Praxis wird versucht, die Auswirkungen von Wahr- nehmungsstörungen auf das Verhalten von Kindergartenkindern aufzuzeigen. Zudem fragt sich, welche Aufgaben der Kindergartenlehrperson bei der Erkennung von Wahrnehmungsstörungen zukommen.

Anschliessend wird die sensorische Integrationstherapie, als eine gängige Therapiemethode vor- gestellt und mit Studien zur Wirkung unterlegt. Danach wird ein kritischer Gegenpol zu dieser The- orie erläutert. Aufgrund dieser Erkenntnisse werden Kriterien festgelegt, welche sinnvollen und wirksamen Übungen für die Wahrnehmungsförderung zu Grunde liegen.

In Kapitel 6 wird die Perspektive auf den Kindergarten ausgerichtet. Die Ziele des Kindergartens und der Lehrplan werden auf Aspekte der Wahrnehmungsförderung untersucht, um daraus schliesslich für den Kindergartenalltag umsetzbare Förderansätze abzuleiten. Um diese auch in den organisatorischen Rahmen des Kindergartens einbauen zu können, wird nach geeigneten räumlich/methodischen und zeitlichen Gefässen für das Förderangebot gesucht. Zum Schluss soll ein Modell aus den gewonnenen Erkenntnissen entwickelt werden, welches die Basis für das Pro-

(6)

5 dukt dieser Arbeit bildet. So werden im Kapitel 7 alle Erkenntnisse der vorangehenden Kapitel mit- einbezogen, um zum theoriebasierten Produkt zu gelangen. Abschliessend werden im 8. Kapitel kritische Gedanken festgehalten und der Arbeitsprozess reflektiert.

1.5 Vorwort

Die Welt verändert sich… wir uns auch?

Max ist ein Junge von vier Jahren, er besucht das erste Kindergartenjahr. Es ist sieben Uhr mor- gens. Max wird vom Radiowecker geweckt, den seine Mutter für ihn am Abend zuvor gestellt hat.

Er schlurft zu seiner Schlafzimmertür. Sobald er im Gang steht, geht das Licht automatisch an und geleitet ihn zur Küche, in der bereits sein morgendliches Müsli fixfertig auf ihn wartet. Als er gerade fertig mit Essen ist, kommt seine Mutter in die Küche und mahnt Max zur Eile. Damit es schneller geht, hilft die Mutter Max bei der Morgentoilette und beim Anziehen und schon bald sind die beiden aus dem Haus. Die Mutter fährt Max mit dem Auto zum Kindergarten, damit sie anschliessend gleich zur Arbeit gehen kann.

Einige Stunden später wartet Max vor dem Kindergarten auf seine Mutter. Plötzlich klingelt sein Handy, das er stets bei sich trägt, er nimmt es hervor und drückt auf den grünen Knopf. Es erklingt die Stimme der Mutter: „Hallo Max, hier ist Mami. Ich komme dich erst in einer Viertelstunde abho- len, ich stecke im Stau fest!“ Max setzt sich also auf die Bank vor dem Kindergarten und spielt ei- nige Spiele auf seinem Handy, bis die Mutter kommt. Die beiden fahren nach Hause und die Mut- ter bestellt unterwegs eine Pizza beim Lieferdienst. Zuhause wird zusammen gegessen. Am Nachmittag sieht Max fern. Am Abend kommt Besuch, doch Max bekommt nicht viel davon mit. Er spielt ruhig an seinem Tablet, bis er schliesslich ins Bett muss.

Was für Sinneserfahrungen hat Max wohl an einem solchen Tag gemacht?

Kinder wachsen heute in einer sinnesfeindlichen Umwelt auf, wie Renate Zimmer in ihrem 1995 erschienen Buch behauptet. Zwanzig Jahre später, scheint diese Feststellung aktueller denn je:

„In unserer „verkopften“ Gesellschaft verschwindet das körperlich-sinnliche Erleben immer mehr, und so besteht schon bei Kindern die Gefahr, dass ihre sinnliche Wahrnehmung sich vorwiegend auf das Sehen und Hören reduziert.“ (Zimmer, 1995, S. 9)

Nach Zimmer (1995) brauchen jedoch alle Sinne Anregung, um zu funktionieren. Durch Sinneser- fahrungen werden Verarbeitungsprozesse im Gehirn in Gang gesetzt, was wiederum die Grundla- ge jeglichen Lernens darstellt. Umso weniger Entdeckungsräume den Kindern im Alltag zur Verfü- gung stehen, bei denen sich die Kinder handelnd mit allen Sinnen die Umwelt aneignen, desto mehr bedarf es der angeleiteten Beschäftigung (Zimmer, 1995, S. 9).

Um nochmals zurück zum Beispiel zu kommen: Der Junge Max macht in seinem Alltag sehr ein- seitige Sinneserfahrungen. Doch nicht er selbst ist dafür verantwortlich, auch nicht primär seine allein-erziehende Mutter. Die Gesellschaft an sich hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark verändert. Doch ein Faktor wurde bisher ausser Acht gelassen: Einige Stunden am Morgen verbringt Max im Kindergarten…

(7)

6

2 Wahrnehmung

In diesem einführenden Kapitel zur Wahrnehmung wird zu Beginn das für diese Arbeit gültige Sin- nesmodell vorgestellt. Anschliessend werden im Kapitel 2.2 die einzelnen Sinnessysteme auf ihre Funktion hin untersucht. Danach wird unter 2.3 der Begriff der sensorischen Integration als das Zusammenspiel der Sinne erläutert. Ausführliche Informationen zum organischen Aufbau der ein- zelnen Sinnessysteme befinden sich im Anhang im Kapitel 10.2.

2.1 Die Sinne des Menschen

Im alltäglichen Sprachgebrauch spricht man gemeinhin von den „Fünf Sinnen“. Doch zu verschie- denen Zeiten und in verschiedenen Kontexten gibt es eine Vielzahl von anderen Sinnesmodellen, die sich in einigen Punkten entsprechen, in anderen aber auch völlig unterscheiden. Im Anhang zu dieser Arbeit (Kap. 9.1) werden die verschiedenen Theorien miteinander verglichen und ein Kon- zept ausgewählt, welches für diese Arbeit vorausgesetzt wird. An dieser Stelle wird nur das für diese Arbeit gültige Sinneskonzept vorgestellt.

Nachfolgend werden die sieben Sinnessysteme aufgelistet, welche in dieser Arbeit behandelt wer- den. Die Reihenfolge der Sinne ist dabei beliebig gewählt:

1. Visueller Sinn (Sehsinn) 2. Auditiver Sinn (Hörsinn)

3. Olfaktorischer Sinn (Geruchssinn) 4. Gustatorischer Sinn (Geschmackssinn) 5. Taktiler Sinn (Tastsinn)

6. Kinästhetischer Sinn (Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn) 7. Vestibulärer Sinn (Gleichgewichtssinn)

Im nächsten Teilkapitel werden die einzelnen Sinnessysteme in ihrer Funktion erläutert. Da der taktile, der kinästhetische und der vestibuläre Sinn nach Rosenkötter (2013) funktional sehr eng zusammenarbeiten, werden diese Sinnessysteme unter dem Begriff der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung zusammengefasst (Rosenkötter, S. 154).

2.2 Funktion der einzelnen Sinne

Auf den ersten Blick scheint alles klar. Mit dem Auge kann der Mensch sehen. Doch das Sehen stellt nicht nur einen Aufnahmevorgang wie bei einer Kamera dar. Das Sehen lässt sich in ver- schiedene Teilfunktionen unterteilen, die uns zahlreiche visuelle Fähigkeiten ermöglichen. Auch mit den anderen Sinnessystemen verhält es sich ähnlich. Dieses Teilkapitel soll Aufschluss dar- über geben, welche Funktionen die sieben Sinnessysteme leisten.

(8)

7 2.2.1 Visueller Sinn

Rosenkötter (2013) beschreibt die wichtigsten Funktionen der visuellen Wahrnehmung, welche im Folgenden aufgeführt und umschrieben werden.

Teilfunktionen der visuellen

Wahrnehmung Beschreibung

Erkennen und Unterscheiden von Grösse, Beschaffenheit und Form

Verschiedene Gegenstände miteinander vergleichen.

Erkennen von Gesichtern Das Gesicht eines bekannten Menschen wiedererkennen.

Erkennen von Bewegung Das Näherkommen einer Person oder die Bewegung eines Ge- genstandes wahrnehmen.

Figurgrundwahrnehmung Erkennen von Formen und Wörtern vor anders strukturiertem Hintergrund.

Formkonstanzwahrnehmung

Unveränderte Wahrnehmung einer Form unabhängig von ihrer Orientierung und Entfernung

Beispiel: Eine sich nähernde Person oder ein Gegenstand wird nicht grösser („wächst nicht“).

Wahrnehmung der Lage im Raum

Wahrnehmung des Körpers, eines Körperteils oder eines Ge- genstandes in seiner ruhenden oder sich bewegenden Bezie- hung zur Umwelt.

Wahrnehmung räumlicher Beziehungen, Objektlokali- sierung im Raum

Fähigkeit, die Lage von zwei und mehreren Gegenständen zu beobachten und die Beziehung zueinander wahrzunehmen.

Visuelle Mengenerfassung Mengen ohne zu zählen wahrnehmen.

Farberkennung und

-zuordnung Verschiedene Farben voneinander unterscheiden.

Erkennen von Helligkeit, Hell- Dunkel-Adaption

Den Unterschied zwischen verschiedenen Helligkeitsstufen wahrnehmen.

Tabelle 1: Teilfunktionen der visuellen Wahrnehmung (nach Rosenkötter, 2013, S. 104)

Nach Rosenköter (2013) ist die visuelle Repräsentation von Objekten, also das was wir effektiv sehen, keine reine Wahrnehmungsfunktion, sondern eine kognitive Leistung (Rosenkötter, 2013, S. 104). Weiter führt er aus:

„Die visuelle Wahrnehmung von Objekten dient der Identifizierung eines Objektes und der Katego- risierung in eine Objektkategorie. Zur Bewertung des gesehenen Objekts gehört der Vergleich mit der inneren Repräsentation des Objekts. Das bedeutet, dass Wahrnehmung einen Abgleich mit den im Gedächtnis gespeicherten Inhalten vornimmt.“ (Rosenkötter, 2013, S. 104)

Oder wie Zimmer (1995) diesen Gedanken weiterführt, kann das Sehen nicht auf das Aufnehmen und Verarbeiten optischer Eindrücke reduziert werden, denn was gesehen wird, ist immer abhän- gig vom Standpunkt des Betrachters, also subjektiv (Zimmer, 1995, S. 63-64).

2.2.2 Auditiver Sinn

Die auditive Wahrnehmung umfasst nach Rosenkötter (2013) drei zunehmend komplexer werden- de Aufgaben, wobei mit dieser zunehmenden Komplexität auch die Bewusstheit der Erfassung steigt und schliesslich beim Sprachverständnis endet. Die erste Aufgabe besteht darin, auf der basalen Ebene einfache akustische Signale wie Töne, Geräusche oder einfache Sprachsignale zu verarbeiten. Eine höhere Komplexität weist die Wahrnehmung sprachlicher Reize, wie Laute, Sil-

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8 ben und Worte auf. Die dritte und komplexeste Aufgabe stellt schliesslich die phonologische Be- wusstheit1 dar (Rosenkötter, 2013, S. 129-130).

Abbildung 1: Aufgaben der auditiven Wahrnehmung (nach Rosenkötter, 2013, S. 129-130)

Die Wahrnehmung sprachlicher Reize, also die zweite Aufgabe auditiver Wahrnehmung, lässt sich in verschiedene Teilfunktionen unterteilen (Rosenkötter, 2013, S. 130):

Teilfunktionen der

auditiven Wahrnehmung Beschreibung

Richtungshören Die Fähigkeit zu erkennen, woher und aus welcher Entfernung ein akustischer Reiz kommt.

Dichotisches Hören Beidohriges Hören: Die Fähigkeit, gleichzeitig mit beiden Ohren verschiedene Geräusch- oder Sprachinformationen zu erkennen.

Nutzschall-Störschall- Filterfähigkeit

Einem Geräusch oder einer Sprachäusserung kann Aufmerksam- keit gewidmet werden und gleichzeitig ertönende Störgeräusche oder Sprache anderer Menschen können unterdrückt werden, um aus dem Störgeräusch das Nutzgeräusch hervorzuheben.

Zeitliche Auflösung

Kurze Signalpausen werden erkannt und ein zeitlich gedehntes oder komprimiertes Geräusch- oder Sprachsignal wird erkannt.

Auch können kurz hintereinander ertönende Geräusche in eine zeitliche Reihenfolge gebracht werden.

Lautunterscheidung Die Fähigkeit, ähnlich klingende Geräusche oder Laute voneinan- der zu unterscheiden.

Wiedererkennen akusti-

scher Muster Die Fähigkeit, Reihenfolgen oder Rhythmen zu erkennen..

Wahrnehmung reduzierter akustischer Signale

Die Fähigkeit, verschiedene Anteile eines Wortes auch dann zu erkennen, wenn sie aufgrund von ungünstigen Schallbedingungen verzerrt oder unvollständig zum Ohr gelangen; Worte können auch erkannt werden, wenn sie unterbrochen oder unvollständig auftreten.

Tabelle 2: Teilfunktionen des auditiven Sinnes (nach Rosenkötter, 2013, S. 130)

1 Phonologische Bewusstheit: „Unter phonologischer Bewusstheit versteht man die Fähigkeit, die Aufmerk- samkeit auf die formalen Eigenschaften der gesprochenen Sprache zu lenken, z.B. auf den Klang der Wörter beim Reimen, auf Wörter als Teile von Sätzen, auf Silben als Teile von Wörtern und letztendlich vor allem auf die einzelnen Laute der gesprochenen Wörter.“ (Laier, o.J.)

(10)

9 2.2.3 Olfaktorischer Sinn

Im Gegensatz zum visuellen und zum auditiven Sinn sind der olfaktorische und der gustatorische Sinn mit ihren Teilfunktionen in der Literatur nur sehr spärlich erwähnt. Aus diesem Grund wird für diese beiden Sinne auf eine etwas weiter zurückliegende Theorie, nämlich auf die von J.J. Gibson Bezug genommen, da diese beide Sinne differenziert behandelt.

Die Hauptaufgabe des olfaktorischen Sinnes besteht nach Gibson (1982) darin, Dinge mittels de- ren Gerüche wahrzunehmen, welche sich in einiger Entfernung befinden. Der Träger eines Ge- ruchs ist die Luft, welche wir durch den Atem in uns aufnehmen. Im „reinen“ Zustand ist die Atem- luft geruchsarm. Eine zusätzliche Substanz in dieser normalerweise konstanten Luftmischung ist ein potenzieller Reiz für den Geruchssinn. Neben riechenden anorganischen Substanzen, die na- türlicherweise in der Umwelt vorkommen (z.B. Schwefel, Rauch), stellen auch Pflanzen (Blumen- düfte) und jedes Lebewesen (spezifischer Geruch eines Menschen) eine Quelle von Duftsubstan- zen dar (Gibson, 1982, S. 183).

Die Aufnahme von verschiedenen Gerüchen hängt, wie Gibson (1982) weiterführt, von der Bedeu- tung der Information für ein bestimmtes Lebewesen ab. So werden Gerüche von Objekten, welche für ein bestimmtes Lebewesen Nahrung darstellen, vom Lebewesen als wirksame Reizinformatio- nen aufgenommen. Pflanzen, Blätter, Blumen und Früchte kennzeichnen sich objektiv durch einen spezifischen Geruch; doch üben sie auf verschiedene Tiere eine unterschiedliche Anziehung aus.

Dasselbe Prinzip gilt auch für den Menschen: „Er riecht, was ihn interessiert.“ (Gibson, 1982, S.

183-188)

Nach Zimmer (1995) sind wir als Mensch täglich von verschiedenen Gerüchen umgeben. Dabei können wir tausende verschiedene Duftstoffe unterscheiden. Im Hinblick auf diese Tatsache, ist im Alltag auch die emotionale Komponente von Gerüchen relevant, wie Zimmer erwähnt (Zimmer, 1995, S. 144):

„Geruchswahrnehmungen besitzen auch eine besonders ausgeprägte emotionale Komponente.

Dies ist dadurch zu erklären, dass zwischen der Riechbahn und dem limbischen System, das für die emotionale Bewertung der Sinneswahrnehmungen im Gehirn verantwortlich ist, eine enge Ver- bindung besteht. Geruchserfahrungen haben eine hohe Tiefen- und Langzeitwirkung. Sie verbin- den sich mit Erinnerungen an Erlebnisse, die nach Jahren sofort wieder gegenwärtig werden, wenn ein bestimmter Geruch wahrgenommen wird.“ (Zimmer, 1995, S. 144)

Zusammengefasst lässt sich über den olfaktorischen Sinn sagen, dass er neben seiner Hauptfunk- tion, der Identifikation von Gerüchen, auch eine hohe emotionale Komponente aufweist. Dement- sprechend ist der gezielte Einsatz von Duftstoffen, um eine positive Atmosphäre im Kindergarten zu schaffen, zu prüfen.

2.2.4 Gustatorischer Sinn

Wenn man die Funktion des gustatorischen Sinnes genauer untersucht, so fällt einem wahrschein- lich zuerst die Unterscheidung verschiedener Geschmacksrichtungen von Nahrungsmitteln nach den Geschmackskategorien süss, sauer, salzig und bitter, auf. Zum Reizangebot für das Schme- cken gehören nach Gibson (1982) aber verschiedene weitere Informationen, die uns Aufschluss über die Beschaffung der aufgenommen Nahrung geben (Gibson, 1982, S. 176).

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10 Folgende Tabelle zeigt eine Übersicht über die im Mund feststellbaren Informationen (Gibson, 1982, S. 176):

Informationen über eine Substanz Beispiele von Eigenschaften

Löslicher Teil Geschmacksqualität – süss, bitter, salzig, sauer Flüchtiger Teil Duftkomponente - Aromen

Relative Temperatur Hitze, Kälte

Oberflächentextur Z.B. schlüpfrig (Butter), glatt (Salat), rauh (Brotrinde) Konsistenz Viskosität, Elastizität, Weichheit, Härte, Sprödigkeit Form, Grösse, spezifisches Ge-

wicht, Zustand der Ganzheit oder Körnigkeit

Z.B. Ganz, rund und schwer (z.B. eine Haselnuss)

Tabelle 3: Das Reizangebot für Schmecken (Gibson, 1982, S. 176)

Weiter merkt Gibson (1982) an, dass das Schmecken gewöhnlich eine korrekte Wahrnehmung der Nährwerte darstellt. Die süsse Qualität ist angenehm und weist in den meisten Fällen hohe Nähr- werte auf. Hingegen erscheint uns die bittere Qualität als unangenehm, wobei bittere Substanzen oft keinen Nährwert aufweisen. Dieses Prinzip hat für eine gewissen Bereich durchaus Gültigkeit, doch ist es manchmal auch so, dass die unangenehmen Geschmackseigenschaften gut für die Ernährung sind und umgekehrt. So führt Gibson aus: „In der Umwelt gibt es für jede Spezies giftige und nahrhafte Substanzen: die Korrelation mit dem Geschmack ist jedoch nicht perfekt.“ (Gibson, 1982, S.179)

Aus diesen Feststellungen folgert Gibson (1992), dass das gustatorische Sinnessystem in seiner Funktion die Nahrungsauswahl und die Nahrungsaufnahme regelt. Mit dem Riechen zusammen bildet es einen Teil des Systems der Nahrungsbeschaffung (Gibson, 1982, S. 176).

2.2.5 Taktil-kinästhetische Wahrnehmung

Die taktil-kinästhetische Wahrnehmung gliedert sich nach Rosenkötter (2013) in drei Wahrneh- mungssysteme, die in diesem Kapitel wegen ihrem engen Zusammenwirken gemeinsam behan- delt werden. Dazu gehören: Die Hautsinne, der kinästhetische Sinn und der vestibuläre Sinn. Zu Beginn werden diese drei Sinnessysteme in ihren isolierten Funktionen betrachtet (Rosenkötter, 2013, S. 154-155):

Taktiler Sinn (Hautsinne)

Die Hautsinne nehmen Tast-, Berührungs-, Druck-, und Kraft-Empfindungen wahr oder anders gesagt, eine mechanische Veränderung der Haut. Dieses Teilgebiet wird auch als taktile Wahr- nehmung bezeichnet. Des Weiteren wird von der Haut Temperatur wahrgenommen. Bei zu star- kem Druck oder zu hoher oder tiefer Temperatur, die auf die Haut einwirkt, leiten die Hautsinne Schmerzempfindungen weiter. Dabei kann zwischen Oberflächenschmerz (Haut), Tiefenschmerz (Muskeln und Gelenke) oder Schmerz der inneren Organe unterschieden werden.

Kinästhetischer Sinn

Der kinästhetische Sinn informiert uns über die Position oder die Bewegungen unserer Gliedmas- sen. Mit diesem Sinn wird die Kraft geregelt, die zu einer bestimmten Bewegung aufgebracht wer- den muss (Kraftsinn). Die Informationen, welche benötigt werden, werden durch verschiedene Re- zeptoren gewonnen, welche den Spannungs- oder Entspannungszustand der Muskeln und den Dehnungszustand von Bändern, Sehnen und Fasern in den Gelenkkapseln wahrnehmen. Der kin- ästhetische Sinn ermöglicht es uns, die Kraft für Bewegungen gezielt zu dosieren und zielgenau zu steuern und auch wechselnde Positionen eines Körperteils im Raum zu bestimmen.

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11 Vestibulärer Sinn

Der Gleichgewichtssinn ist für die Steuerung der Körperhaltung wichtig und ermöglicht die Orien- tierung im Raum. Durch die Registrierung der Haltung des Kopfes im Raum wird das Gleichge- wicht kontrolliert. Dies wiederum ermöglicht die Kontrolle von Bewegung und Beschleunigung, da- mit die Balance gewährleistet wird (Rosenkötter, 2013, S. 154-155).

Funktionen der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung

Folgende Tabelle zeigt die Funktion der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung nach Rosenkötter (2013) auf. Die Teilfunktionen werden mit fiktiven Beispielen aus dem Kindergartenalltag erläutert (Rosenkötter, 2013, S. 161):

Teilfunktion Beispiel

Steuerung von Haltung und Bewegung Tom geht zielgerichtet auf einen Ball zu, bückt sich, ohne dabei hinzufallen und nimmt ihn auf.

Schutz vor Verletzung und Überbelastung – Steuerung von Abwehr und Fluchtreflexen

Barbara berührt aus versehentlich die heisse Herdplatte. Sofort nimmt sie den Schmerz auf ihrer Hand wahr und zieht die Hand reflexartig zurück.

Vermeidung unangemessener Bewegun- gen

Die Kinder haben in den drei Wochen nach Be- ginn des Kindergartenjahres gelernt, dass sie im

„Kreis“ sitzen bleiben, während die Kindergarten- lehrperson etwas erzählt.

Steuerung der Distanz zu Objekten und Personen

Philipp sieht im hinteren Teil des Kindergartens seinen besten Freund. Er geht an den anderen Kindern, den Stühlen und Tischen und den Spiel- zeugen vorbei, ohne sich zu stossen, bis er schliesslich vor seinem Freund steht.

Koordination von Gleichgewicht und Hal- tung im Raum

Maja balanciert in der Pause gekonnt über die kleine Mauer, welche vor dem Kindergarten steht.

Bestimmung von „vorher“ und „danach“ Die Kinder sollen nach dem Auftrag der Kinder- gartenlehrperson zuerst ihren Spielplatz aufräu- men und anschliessend in den Stuhlkreis kom- men, wo ein Sammelspiel gespielt wird.

Bestimmung einer vollzogenen oder ge- dachten Bewegung

Im Turnunterricht zeigt die Kindergartenlehrperson einen Weg durch ein Hindernis auf: Zuerst über das Schwedenkastenelement, anschliessend un- ter einer Bank hindurch. Die Kinder imitieren den vorgezeigten Weg.

Regelung von Druck, Zug und Kraftsteue- rung der Finger und Hände bei feinmotori- schen Aufgaben

Max fährt konzentriert mit dem Stift der vorgege- ben Linie auf dem Blatt Papier nach, möglichst ohne die Linie mit dem Stift zu verlassen.

Bestimmung von Form und Position von Gemaltem oder Geschriebenem durch den Tastsinn und das Zusammenspiel mit der visuellen Wahrnehmung und der visuomo- torischen Koordination

Amalia malt ein Bild von ihrem Haus. Oben auf dem Blatt malt sie dazu noch eine Sonne, am un- teren Rand zeichnet sie den Rasen vor ihrem Haus.

Mithilfe bei der Festigung der Form der kör- perlich ausgeführten Gestalt eines Buch- stabens in der visuellen Vorstellung.

Die Arme eng an seine Seiten gepresst, die Beine gespreizt und zwischen den beiden Knien ein Stock eingeklemmt, steht Ahmed da. Er „verkör- pert“ den Buchstaben A, wie er weiss.

Tabelle 4: Funktionen der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung (nach Rosenkötter, 2013, S.161)

Nachdem in diesem Teilkapitel die Sinne isoliert mit ihren Funktionen betrachtet wurden, steht im nächsten Teil das Zusammenspiel der Sinne mit dem Begriff der sensorischen Integration im Vor- dergrund.

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12 2.3 Sensorische Integration

In den vorangehenden Kapiteln wurde versucht aufzuzeigen, welche Fähigkeiten wir unseren Sin- nen zu verdanken haben. Damit wir Sinnesinformationen jedoch überhaupt nutzen können, braucht es, neben gesunden Sinnesorganen, noch eine weitere Voraussetzung: Die sensorische Integration. Dieser Begriff wurde von Jean A. Ayres, Urheberin der Theorie der sensorischen In- tegration, geprägt. Nach ihr ist die sensorische Integration „[…] die Verarbeitung von Sinnesinfor- mationen, damit wir sie nutzen können.“ (Ayres, 2013, S. 6)

Dieser Prozess läuft nach Ayres (2013) unbewusst im Gehirn ab. Die sensorische Integration ver- arbeitet die Informationen, die unsere Sinnessysteme registrieren und ermöglicht uns mit einer anpassenden Reaktion zweckmässig auf die Informationen zu reagieren. Das Gehirn lokalisiert, sortiert und ordnet dazu die Sinnesempfindungen, damit es die Informationen nutzen kann, um Wahrnehmung und Verhalten zu erzeugen und Erfahrungen abzuspeichern.

Die Informationen von allen Sinnessystemen werden miteinander verknüpft, damit die vielen ver- schiedenen Einzelinformationen zu einer Wahrnehmung werden. Dies lässt uns zum Beispiel ei- nen Apfel erkennen, in welchen wir hineinbeissen. Die Geschmacks- und Geruchsinformationen von der Zunge und der Nase werden mit dem visuellen Eindruck des Apfels verbunden. Zusätzlich kommen die Tastinformationen hinzu, welche vom Halten des Apfels in der Hand herrühren und auch die auditiven Informationen, beim geräuschvollen Hineinbeissen in den Apfel. Diese Integra- tion ermöglicht es dem Gehirn den Apfel als Ganzes zu erfahren (Ayres, 2013, S. 6-8).

Doering und Doering (1989) weisen darauf hin, dass die Integrationsfähigkeit des Gehirns keine immer gleichbleibende Leistung ist: „[Die Integrationsfähigkeit]… ist von Mensch zu Mensch unter- schiedlich und auch bei jedem einzelnen Menschen verändert sie sich je nach seiner Verfassung.

Bei Stress, Müdigkeit, Alkohol oder anderen beeinträchtigenden Faktoren wird auch die Integrati- onsfähigkeit des Gehirns geringer, was häufig deutlich spürbar ist.“ (Doering & Doering, 1989, S.

19; zit. nach Sarbach, 2014, S. 143)

Auch Ayres (2013) merkt an: „Sensorische Integration funktioniert nicht nach dem Alles-oder- Nichts-Prinzip.“ (Ayres, 2013, S. 11) Mit dieser Aussage bringt sie zum Ausdruck, dass die senso- rische Integration bei einem Menschen nicht etwa vollkommen perfekt funktioniert oder gar nicht.

Vielmehr ist es so, dass manche Menschen gute sensorisch-integrative Fähigkeiten haben und andere eher schwache, wobei dazwischen ein Kontinuum existiert. Die meisten Menschen kom- men mit durchschnittlichen sensorisch-integrativen Fähigkeiten im Alltag gut zurecht. Zu Proble- men kann es hingegen führen, wenn die sensorische Integration schwach ist, was sich negativ auf den (Schul-)alltag auswirken kann (Ayres, 2013, S. 9-13).

2.4 Fazit: Modell des Menschen und seiner Sinne

Welche Sinne gibt es und welche Funktionen erfüllen diese in einem gesunden menschlichen Kör- per?

In diesem Kapitel wurde aufgezeigt, dass der Mensch über sieben Wahrnehmungssysteme ver- fügt, die über den Prozess der sensorischen Integration miteinander in Verbindung stehen.

Durch den visuellen Sinn, erkennt der Mensch Gegenstände in seiner Umwelt, indem er das Ge- sehene mit seiner Erinnerung abgleicht. Eine weitere Überfunktion des Sehsinnes stellt die unbe- wusste Wahrnehmung der Umgebung dar (z.B. Formkonstanzwahrnehmung, Lage im Raum, Ob- jektlokalisierung, etc.). Geräusche in der Umgebung wahrzunehmen und einzuordnen gehört zu den Funktionen des auditiven Sinnes. Diese Funktion reicht schlussendlich bis zur Spracherken- nung und der phonologischen Bewusstheit hin. Der Identifikation von weiter entfernten Gegen-

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13 ständen dient auch der olfaktorische Sinn, mit welchen wir Objekte anhand ihres Geruches iden- tifizieren können. Wie der Geruchssinn dient auch der gustatorische Sinn der Nahrungsaufnah- me, indem die Beschaffenheit des Nahrungsmittels identifiziert wird. Im Vergleich zu den bisher angesprochenen Sinnen, beziehen sich der taktile, der kinästhetische und der vestibuläre Sinn nicht auf die Umgebung, sondern auf den Menschen selbst. Einerseits wird der direkte Kontakt mit der Umgebung wahrgenommen (Tastsinn), die Stellung der Glieder des Menschen untereinander (Stellungssinn) oder die Position des Körpers in Bezug auf den Raum (Gleichgewichtssinn) (Gib- son, 1982; Rosenkötter, 2013; Zimmer, 1995).

Damit die Informationen, welche von diesen sieben Sinnessystemen geliefert werden, verarbeitet werden können, bedarf es dem Prozess der sensorischen Integration. Dabei werden die Sinnes- empfindungen geordnet und sortiert, damit die Informationen vom Gehirn genutzt werden können, um Wahrnehmung und Verhalten zu erzeugen und Erfahrungen abzuspeichern (Ayres, 2013).

All diese Prozesse dienen, wie Zimmer (1995) beschreibt, letztendlich dazu, das Überleben des Menschen in einer komplexen Umwelt zu ermöglichen. Der Mensch muss sich seiner selbst in die- ser Umgebung bewusst sein und auf Gefahren, die von der Umwelt ausgehen, angemessen rea- gieren können (Zimmer, 1995, S. 156). Zum Überleben gehört auch das Aneignen von Wissen und Erfahrung über die Welt, was durch Lernen geschieht. Dem Lernen zu Grunde liegen Verarbei- tungsprozesse im Gehirn, die wiederum durch Sinneserfahrungen zustande kommen.

3 Wahrnehmungsentwicklung

Im vorangehenden Kapitel wurden der Mensch und seine Sinne genauer betrachtet. Dabei wurde von einer vollständig entwickelten Person ausgegangen. Betrachten wir nun jedoch ein einzelnes Individuum, lässt sich feststellen, dass die beschriebenen Wahrnehmungsfunktionen nicht einfach von Geburt an komplett vorhanden sind. Bis die Wahrnehmung eines Menschen vollständig entwi- ckelt ist, braucht es verschiedene Entwicklungsprozesse und mehrere Jahre an „Erfahrung“ mit der Umwelt.

Zu Beginn des Kapitels wird die Entwicklung der Wahrnehmung bis ins Alter von sechs Jahren aufgezeigt. Anschliessend wird der Fokus von der Entwicklung der einzelnen Sinne auf die senso- rische Integration verlagert. Schliesslich wird versucht, begünstigende Faktoren für eine gesunde Entwicklung auszumachen, welche im Zusammenhang mit der Thematik der Wahrnehmungsförde- rung stehen, die später in dieser Arbeit behandelt wird.

3.1 Die Entwicklung der Sinne von der Geburt bis sechs Jahre

Der grösste Teil der Wahrnehmungsentwicklung findet zwischen der Geburt und dem sechsten bzw. siebten Lebensjahr statt (Ayres, 2013, S. 21-35). Dieser Zeitraum deckt sich zufälligerweise genau mit dem Entwicklungsabschnitt, der in dieser Arbeit fokussiert wird; nämlich von der Geburt bis Kindergartenalter. Obwohl das sechste oder siebte Lebensjahr nicht den Schlusspunkt der Wahrnehmungsentwicklung darstellt, ist für diese Arbeit nur die Entwicklung bis ins Alter relevant, indem die Kinder den Kindergarten besuchen.

3.1.1 Das erste Lebensjahr

William James, einer der ersten Psychologen, hielt, wie Siegler et al. berichten, die Welt der Neu- geborenen für ein „grosses schimmerndes und dröhnendes Wirrwarr“. Heutige Forscher teilen die- se Ansicht jedoch nicht; vielmehr wird heute vom kompetenten Säugling ausgegangen, dessen Sinnesfunktionen bis zu einem gewissen Grad entwickelt sind (Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005, S. 241).

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14 Taktiler Sinn

Bereits Neugeborene sind mit einer Vielzahl an Wahrnehmungsfähigkeiten ausgestattet, die sich bereits vor ihrer Geburt entwickelt haben. So entsteht der Tastsinn, wie Eliot (2012) beschreibt, von all unseren Sinnen als erster im Mutterleib. Nach der Geburt, fühlen Babys am besten mit dem Mund und dieser wird deshalb von den Säuglingen bevorzugt zur Erkundung ihrer Umwelt eingesetzt (Eliot, 2012, S. 199). Ab dem vierten Lebensmonat gewinnen die Säuglinge nach Sieg- ler et al. (2005) allmählich mehr Kontrolle über ihre Hand- und Armbewegungen, so dass die Er- kundung durch die Hände stärker wird und mit der Zeit den Vorrang gegenüber der oralen Erkun- dung erhält (Siegler et al., 2005, S. 256). Auch die anderen Berührungsempfindungen – das Schmerz- und Temperaturempfinden – sind bereits bei der Geburt vorhanden (Eliot, 2012, S. 199).

Weiter merken Oerter und Montada an: „Die angenehme Seite der Hautsinne, also das Fühlen und Berühren, ist in den ersten Monaten besonders wichtig für den Aufbau emotionaler Beziehungen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen.“ (Oerter & Montada, 2002, S. 397)

Vestibulärer Sinn

Nach dem Tastsinn ist der Vestibularapparat der nächste frühreife Sinnesapparat des Menschen, wie Eliot (2012) aufzeigt. Dieser ist im Säuglingsalter, zwischen dem sechsten und zwölften Le- bensmonat überempfindlich, was wichtig für viele Aspekte der neurologischen Entwicklung ist.

Gleichgewichts- und Bewegungssinn spielen eine überaus wichtige Rolle bei der geistigen und neurologischen Entwicklung. So verschafft der Vestibularapparat dem Säugling einen grossen Teil seiner frühesten Sinneserfahrungen, welche vermutlich hoch relevant für die Entwicklung anderer sensorischer und motorischer Fähigkeiten ist. Diese Fähigkeiten beeinflussen wiederum die Ent- wicklung der höheren emotionalen und kognitiven Funktionen (Eliot, 2012, S. 216-220).

Olfaktorischer und gustatorischer Sinn

Für Neugeborene, deren Fernsinne (Seh- und Hörsinn) noch recht schwach entwickelt sind, sind die unmittelbaren Sinne, Geruchs- und Geschmackssinn, neben dem bereits erwähnten Tastsinn nach Eliot (2012) viel wichtiger, um Wachstum, Nahrung und elterlichen Schutz zu gewährleisten.

So ist der Geruchssinn bei der Geburt schon ziemlich ausgereift, was bedeutet, dass ein Neugebo- renes schon in der Lage ist, verschiedene Gerüche wahrzunehmen und Reaktionen wie Stram- peln, Saugbewegungen, Weinen oder veränderte Atemfrequenz zu zeigen. Schon im Alter von sechs Tagen, können Babys den Brustgeruch ihrer Mutter von dem anderer stillender Frauen un- terscheiden (Eliot, 2012, S. 225-239).

Auch der Geschmackssinn ist bei der Geburt bereits funktionsfähig, sodass Neugeborene in der Lage sind, einen angenehmen Geschmack einem unangenehmen vorzuziehen. Sie können viele verschiedene Geschmacksrichtungen unterscheiden, bevorzugen jedoch hauptsächlich den süs- sen Geschmack. Saurer und bitterer Geschmack lösen bei Neugeborenen heftige Reaktionen aus und sie reagieren insgesamt zornig. Gegenüber der vierten Geschmacksrichtung, dem salzigen Geschmack, sind sie nach der Geburt hingegen überraschend gleichgültig, was sich mit dem vier- ten Lebensmonat ändert, sodass eine regelrechte Vorliebe für Salz entsteht (Eliot, 2012, S.247- 255).

Visueller Sinn

Im Gegensatz zu den bereits angesprochenen Sinnen, durchläuft das visuelle Sinnessystem viele grundlegende Entwicklungsschritte erst nach der Geburt, wie Eliot (2012) erläutert. Denn neben den Genen spielen vor allem die Umwelt und die tatsächlichen „Seherfahrungen“ des Säuglings eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der Sehfunktion (Eliot, 2012, S. 292-298). Neugebore- ne können in den ersten drei Monaten keine feinen Details sehen, da ihre Sehschärfe noch sehr schwach ist. Auch Kontraste können Neugeborene nur unterscheiden, wenn sie möglichst gross sind (z.B. schwarz-weiss). Schon im ersten Halbjahr verbessern sich diese Fähigkeiten rasant, so

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15 dass die Babys im Alter von einem Jahr bereits fast so gut wie Erwachsene sehen (Oerter &

Montada, 2002, S. 400-401). Auch weitere visuelle Fähigkeiten, wie die Tiefenwahrnehmung2, Ob- jekttrennung3, Wahrnehmungskonstanz4 und das visuelle Abtasten5 entwickeln sich nach Siegler et al. (2005) im ersten Lebensjahr. Die Beschaffenheit von Bildern, scheinen Kleinkinder jedoch noch nicht wirklich zu verstehen; über das erste Lebensjahr hinaus, versuchen sie nach den dargestell- ten Gegenständen zu greifen (Siegler, DeLoache, & Eisenberg, 2005, S. 244-252).

Auditiver Sinn

Während der Sehsinn spät entsteht und rasch reift, wird der Hörsinn früh funktionsfähig, reift je- doch langsam, wie Eliot (2012) erläutert. Die Frequenzempfindlichkeit reift dabei als Erstes: Neu- geborene sind kaum fähig hohe Töne wahrzunehmen. Mit einem halben Jahr hören Säuglinge jedoch hohe Frequenzen sogar besser als niedrige und können zudem fast den gesamten Fre- quenzbereich des Menschen wahrnehmen. Auch können sie nach einem halben Jahr Geräusche mit zunehmender Geschwindigkeit und Präzision orten (Eliot, 2012, S. 327-328, 348-349). Nichts desto trotz, müssen Säuglinge noch als etwas schwerhörig bezeichnet werden, da das schwächste Geräusch, das ein Neugeborenes wahrnehmen kann, etwa viermal lauter als das leiseste Schall- ereignis ist, das ein Erwachsener hören kann (Siegler, DeLoache, & Eisenberg, N., 2005, S. 252- 253).

Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die Entwicklung der Wahrnehmung im ersten Le- bensjahr rasant fortschreitet und die Kinder mit einem Jahr in vielen Bereichen bereits den Wahr- nehmungsfähigkeiten von Erwachsenen erstaunlich nahe kommen.

3.1.2 Die Lebensjahre von zwei bis sechs

Obwohl die Wahrnehmungsfähigkeiten von Kleinkindern nach dem ersten Lebensjahr bereits weit entwickelt sind, verbessern sich diese im Laufe der Kindheit noch weiter.

Taktiler Sinn

Die Berührungsempfindlichkeit von Fünfjährigen ist, wie Eliot (2012) erläutert, noch immer im Ge- sicht am Grössten, doch bereits seit ihrem achtzehnten Lebensmonat können sie Objekte, welche nur geringfügig voneinander abweichen, allein durch Tasten mit der Hand unterscheiden. Auch die Schmerzwahrnehmung wird im Verlauf der Kindheit immer ausdifferenzierter; die Kinder sind im- mer besser in der Lage, schmerzhafte Reize zu lokalisieren. Hier ist jedoch anzufügen, dass so- wohl Schmerzwahrnehmung, als auch Temperaturwahrnehmung wahrscheinlich eine ausgeprägte kognitive Komponente aufweisen. Das bedeutet, dass diese zu einem Teil durch Beobachtung und Erfahrung erlernt werden (Eliot, 2012, S. 190-199).

Vestibulärer Sinn

Der vestibuläre Apparat ist, wie schon erwähnt, frühreif und im Wesentlichen bereits bei der Geburt entwickelt. Die Überempfindlichkeit des Gleichgewichtssinnes, welche im Säuglingsalter vorhan- den ist, lässt nach dem ersten Lebensjahr rasch nach, bis das Kind etwa zweieinhalb Jahre alt ist und sinkt danach noch langsam weiter. Einen wichtigen Einfluss übt dieser Sinn auf die kindliche Körperhaltung aus, wobei erstaunlich ist, dass der Vestibularapparat frühestens im Alter von sie- ben Jahren oder später dazu im Stande ist, seinen vollen Beitrag zur Bewahrung des Gleichge- wichts zu leisten (Eliot, 2012, S. 219).

2 Tiefenwahrnehmung: „Die Wahrnehmung von Räumlichkeit und Tiefe.“ (Spektrum der Wissenschaft, o.J.)

3 Objekttrennung: Die Erkennung einzelner Objekte in einer Anordnung von mehreren Objekten.

4 Wahrnehmungskonstanz: „Objekte behalten trotz wechselnder Umgebungs- und Lichtverhältnisse ihre Farbe, Form, Grösse und Helligkeit.“ (Spektrum der Wissenschaft, o.J.)

5 Visuelles Abtasten: Die gezielte Betrachtung der Einzelheiten eines Objektes/der Umgebung um etwas zu finden. Z.B.: Unter vielen verschiedenfarbigen Knöpfen, welche auf dem Boden liegen, muss der einzige gelbe Knopf gefunden werden.

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16 Olfaktorischer und gustatorischer Sinn

Wie der taktile und der vestibuläre Sinn, sind auch der olfaktorische und der gustatorische Sinn bereits beim Säugling im Wesentlichen ausgereift. Obwohl Neugeborene gewisse reflexartige Be- wegungen beim Riechen verschiedener Gerüche zeigen, sind sie noch nicht in der Lage zu beur- teilen, ob etwas gut oder schlecht riecht. Erst ab dem vollendeten dritten Lebensjahr entwickeln Kinder einen gewissen Sinn für die Qualität eines Geruchs und können zwischen angenehmen und unangenehmen Gerüchen unterscheiden. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Geschmackssinn:

Die Schmeckfähigkeit verändert sich im Lauf der Kindheit nur wenig. Doch das Verständnis dafür, was man essen kann und was nicht, wird von Klein- und Vorschulkindern weitgehend erlernt; ei- nerseits durch das Vorbild von Erwachsenen, andererseits durch eigene Erfahrungen (Eliot, 2012, S. 248-267).

Visueller Sinn

Während dem ersten Lebensjahr hat sich der Sehsinn enorm schnell entwickelt, was vor allem auf die visuelle Erfahrung ausserhalb des Mutterleibes zurückzuführen ist. Auch nach dem ersten Le- bensjahr setzt sich dieser Prozess weiter fort, sodass das Sehvermögen bis zum Alter von zwei Jahren in hohem Mass formbar ist, in geringerem Ausmass sogar bis zum Ende des achten oder neunten Lebensjahrs. So ist zum Beispiel die Entwicklung der Sehschärfe eines Kindes erst mit knapp fünf Jahren komplett abgeschlossen. Diese Verbesserung der Sehfertigkeiten steht im Zu- sammenhang mit der allmählichen Synapsenauslese, ab dem zweiten Lebensjahr bis in die späte Kindheit, bei welcher etwa 40 Prozent der Synapsen in der Sehrinde beseitigt werden. Die verblei- benden Schaltkreise können ihre Leistungsfähigkeit steigern und somit werden die Sehfähigkeiten laufend verfeinert (Eliot, 2012, S. 290-302).

Auditiver Sinn

Über die Hörfunktion schreibt Eliot (2012) folgendes: (Eliot, 2012, S. 328)

„Der Mensch hört bei der Geburt viel besser als die meisten anderen neugeborenen Säuger, doch seine Hörfähigkeit entwickelt sich noch lange weiter und braucht bis zum Schulalter, um vollständig auszureifen. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich das Gehör des Kindes so allmählich, parallel zu seiner Spracherlernung und schliesslich auch Sprachbeherrschung, entwickelt.“ (Eliot, 2012, S.

328)

So ist zum Beispiel die untere Hörschwelle6 von Vorschulkindern noch immer etwa 10 Dezibel hö- her als bei Erwachsenen, wobei das Hörvermögen stark von der Frequenz abhängig ist. Während Erwachsene im gesamten Frequenzbereich ähnliche Hörschwellen aufweisen, sind Kinder sehr viel empfindlicher auf hohe Töne. Nach Oerter und Montada weisen Kinder eine Schwäche bei der Unterscheidung von tiefen Tönen auf, welche erst nach einigen Jahren allmählich beseitigt wird (Oerter & Montada, 2002, S. 399). Weiter scheint die Tatsache von Bedeutung, dass Kinder noch nicht so gut wie Erwachsene, Geräusche vor lautem Hintergrund erkennen können. Diese Fähig- keit ist erst im Alter von etwa zehn Jahren voll ausgereift. Wie der Sehsinn bleibt auch der Hörsinn, nach Eliot (2012), während der gesamten Vorschulzeit und der frühen Schuljahre formbar, wenn auch nicht mehr im gleich grossen Ausmass wie im Säuglingsalter (Eliot, 2012, S. 328-356).

6 Hörschwelle: Minimale Schallintensität mit derer Töne bestimmter Frequenzen gerade noch wahrgenom- men werden können (Menche, 2003, S. 196-198).

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17 3.2 Die Entwicklung der sensorischen Integration

Um die Entwicklung der sensorischen Integration zu verstehen, ist es wichtig die Grundprinzipien deren Entwicklung zu kennen. Aus diesem Grund werden die Grundprinzipien nach Ayres (2013) zuerst erläutert, bevor die Übersicht über die Entwicklung der sensorischen Integration bis ins sie- bente Lebensjahr folgt.

3.2.1 Grundprinzipien der Entwicklung

Bei der Entwicklung eines Kindes gibt es nach Ayres (2012) bestimmte Grundprinzipien, die man bei jedem Kind vorfindet. Ein grundlegendes Prinzip stellt die Ordnung oder Organisation dar. So erfüllen die meisten Aktivitäten, die ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren ausführt, den Zweck, Sinneseindrücke im Nervensystem geordnet zu verarbeiten.

Ein Neugeborenes hört, sieht und fühlt schon vielfältige Reize, doch es kann diese nicht einordnen und kann deshalb ihre Bedeutung nicht erfassen. Nach und nach lernt das Kind durch Sinneser- fahrungen die Eindrücke in seinem Gehirn zu ordnen und findet heraus, was sie bedeuten. Dies drückt sich dadurch aus, dass das Kind lernt, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Sinnesreize zu richten und andere zu ignorieren. Auch seine Bewegungen werden laufend geschmeidiger und zielgerichteter.

Diese Organisation im Gehirn kommt durch sogenannte anpassende Reaktionen zu Stande. Das Kind setzt dabei seinen Körper auf kreative oder zweckmässige Weise ein, indem es zum Beispiel ein Geräusch hört und dann den Kopf dreht, um zu sehen, was das Geräusch verursacht hat. Es reagiert auf Sinnesreize, um sich an die Bedingungen anzupassen. Bevor das Kind jedoch reagie- ren kann, müssen die wahrgenommenen Reize aus der Umwelt eingeordnet werden. Wenn das Kind schliesslich auf die Reize reagiert, entstehen dadurch neue Sinneseindrücke, die wiederum integriert werden. Ist die Reaktion des Kindes gut angepasst, bringt sie das Gehirn in einen organi- sierten Zustand. Die sensorische Integration entwickelt sich folglich dadurch, dass das Kind immer wieder Erfahrungen mit seinen Sinnen über sich und seine Bewegungen in Wechselwirkung mit der Umwelt macht, sodass ihm die entsprechenden anpassenden Reaktionen immer leichter fal- len.

Aus dieser Erkenntnis lässt sich folgern, dass es für die Entwicklung der sensorischen Integration viele Übungsgelegenheiten für anpassende Reaktionen braucht. Kinder haben einen starken inne- ren Antrieb, ihre sensorisch-integrativen Fähigkeiten zu entwickeln und sie suchen deshalb von sich aus Übungsgelegenheiten in ihrer Umwelt. Dieser innere Antrieb, treibt die Entwicklung des Kindes voran, und gilt deshalb ebenfalls als ein Grundprinzip.

Ein weiteres Grundprinzip der Entwicklung besteht nach Ayres darin, dass sich die Sinne, wie auch die Motorik, in Form von Bausteinen entwickeln. Das bedeutet, dass zuerst einfachere Bausteine entwickelt werden, die in der Folge miteinander zu neuen Funktionen kombiniert werden können.

Komplexere und reifere Entwicklungsschritte bauen dabei immer auf bereits vorhandenen einfa- cheren Bausteinen auf. In Bezug auf die Sinne bedeutet dies, dass sich zuerst die Nahsinne ent- wickeln, welche Informationen über den eigenen Körper und seinen Bezug zur Schwerkraft liefern.

Auf diesen Bausteinen können dann die Fernsinne (Sehen und Hören) aufbauen, die Informatio- nen über die Umwelt liefern. Weiter bauen alle kognitiven Leistungen, das Verhalten und das emo- tionale Wachstum auf einem sensomotorischen Fundament auf (Ayres, 2012, S. 18-21).

3.2.1 Die Entwicklung der sensorischen Integration bis sieben Jahre

Nachdem im vorangehenden Unterkapitel die Prinzipien der Entwicklung der sensorischen Integra- tion erläutert wurden, wird nun der Entwicklungsverlauf nach Ayres (2012) vorgestellt.

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18 Von der Geburt bis zwei Monate

Schon bald nach der Geburt verfügt ein Neugeborenes über eine beträchtliche Anzahl von anpas- senden Reaktionen auf Sinnesreize. Obwohl diese Reaktionen zu einem grossen Teil angeboren sind und automatisch ablaufen, muss das kindliche Gehirn die entsprechenden Sinnesreize integ- rieren, damit die Reaktion ausgelöst werden kann. Anpassende Reaktionen erfolgen in diesem Alter vor allem auf Schwerkraft-, Bewegungs- und Berührungsreize. Der visuelle Sinn ist im ersten Lebensmonat noch nicht gut organisiert, doch schon ab dem zweiten Monat beginnt das Gehirn Informationen von Schwerkraft-, Gleichgewichts- und Bewegungsempfindungen und die Sinnes- empfindungen von der Augen- und Nackenmuskulatur zu integrieren. Dies zeigt sich darin, dass der Säugling vermehrt den Blick auf ein Objekt richten kann, sodass der Blick und der Kopf stabil bleiben, damit das Bild nicht „verwackelt“ sondern klar wird. Diese Entwicklung verläuft allerdings noch über mehrere Jahre und ist eine wichtige Basis für das Lesen, die grobmotorische Geschick- lichkeit und die Balance.

Vom dritten Monat bis zum Ende des 1. Lebensjahres

Ein dreimonatiger Säugling erlernt allmählich, die Seheindrücke mit den Informationen aus dem Körper zusammenzubringen. Dadurch entwickelt sich die Auge-Hand-Koordination, welche das Kind gezielter nach Gegenständen greifen lässt. Diese Fähigkeit entwickelt sich auch noch in den nächsten Monaten weiter. Während die meisten Bewegungen in den ersten sechs Monaten auto- matisch waren, beginnt das Kind mit einem halben Jahr Dinge zu tun, die es planen muss. Sobald das Kind zwischen dem sechsten und achten Monat zu krabbeln beginnt, erfährt es den Raum und die Entfernung zwischen sich, den Gegenständen und der Umgebung. Dadurch versteht es um- fassender, was es sieht. Bis zum Ende des ersten Lebensjahres, verändert sich der Bezug des Kindes zur Erde, dem Raum und seinem Körper sehr stark. Durch die vielen Sinnesempfindungen, die während immer grösseren „Erkundungen“ der Umgebung gemacht werden, wird das Nerven- system stimuliert; dies wiederum begünstigt die Verarbeitung von Sinnesinformationen und erlaubt, diese für anpassende Reaktionen zu verwenden.

Das zweite Lebensjahr

Im zweiten Lebensjahr lernt das Kind zu gehen, zu sprechen und komplexere Handlungen zu pla- nen und auszuführen. Dazu ist es wichtig, dass es bis zu diesem Zeitpunkt bereits unzählige sen- sorische Informationen verarbeitet und integriert hat. Mit der sich laufend verbessernden Körper- empfindung, steigt auch das Gefühl für das eigene Selbst des Kindes. Somit kann gesagt werden, dass die Integration von Sinneseindrücken die Grundlage für gute zwischenmenschliche Bezie- hungen schafft.

Die Lebensjahre drei bis sieben

Zwischen dem dritten und dem siebten Lebensjahr wächst das Kind schliesslich zu einem senso- motorischen Wesen heran. Diese Phase ist entscheidend für die sensorische Integration, da das Gehirn in dieser Zeit am aufnahmefähigsten für Sinneseindrücke ist und sie am besten verarbeiten kann. Die anpassenden Reaktionen des Kindes werden in dieser Zeit immer komplexer. Dadurch verbessert sich wiederum auch die Fähigkeit, Sinnesinformationen zu integrieren. Gegen den Schluss dieser Phase, sind der Gleichgewichtssinn und der Berührungssinn ausgereift und die meisten Informationen von den Muskeln und Gelenken gut integriert. Auch kann das Kind Hand- lungsabfolgen planen, wobei sich diese Fähigkeit auch in den nächsten Jahren noch verbessert (Ayres, 2012, S. 21-35).

3.3 Begünstigende Faktoren für eine gesunde Entwicklung

In den vorangehenden Teilkapiteln wurde die Entwicklung der einzelnen Sinnessysteme und der sensorischen Integration im Idealfall aufgezeigt. Damit dieser Prozess wie oben beschrieben ab- läuft, sind einige Faktoren als Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung zu beachten.

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19 Maria Pfluger-Jakob führt sechs Faktoren auf, welche die Entwicklung der Wahrnehmung in Wechselwirkung untereinander beeinflussen (Pfluger-Jakob, 2003, S. 8):

Der erste Faktor, ist ein intaktes Zentralnervensystem. Dies bedeutet, dass alle Hirnregionen funktionstüchtig sind. Es ist zu beachten, dass dieser Faktor nicht beeinflussbar ist, da er orga- nisch bedingt ist. Auch der zweite Faktor, dass die genetisch vorgegebenen maximalen Entwick- lungsmöglichkeiten der Gehirnstruktur vorhanden sind, ist nicht veränderbar.

Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Faktoren sind die folgenden Bedingungen durch die Um- welt veränderbar. So sind die Qualität und die Quantität der auf das Kind eintreffenden Reize wichtige Faktoren für eine gesunde Entwicklung. Eine ausreichende Anzahl von strukturierten Umweltreizen ist entscheidend für die Entwicklung der Wahrnehmung nach der Geburt. „Struktu- riert“ heisst in diesem Zusammenhang, dass die Reize in natürliche Lebenssituationen oder in den sozialen Kontakt eingebettet sein müssen. Hier vollzieht sich auch der bedeutsame Dialog zwi- schen der Bezugsperson und dem Kind.

Zudem muss dem Kind die Möglichkeit zur Eigenaktivität gegeben werden, was den vierten Fak- tor darstellt. Das Kind soll den eigenen Körper gezielt bewegen können, erkunden, mit Gegenstän- den manipulieren und letztendlich handeln.

Die Qualität und Quantität sinnesspezifischer Reize im genetisch festgelegten Zeitraum eines Entwicklungsabschnittes innerhalb einer Sinnesmodalität, stellt den fünften Faktor dar. Bei der Entwicklung der einzelnen Sinne gibt es sogenannte „sensible Phasen“ für eine bestimmte Wahr- nehmungsfähigkeit. Es ist wichtig, dass während dieser Phase dem Kind geeignete Reize im ent- sprechenden Bereich zur Verfügung stehen, damit die Gehirnstruktur sich angemessen aufbauen kann.7

Den letzten Faktor stellt die emotionale Grundstimmung des Kindes dar. Positive Gefühle wie Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen und Bindung sind entwicklungsfördernd, während sich negati- ve Gefühle entwicklungshemmend auswirken (Pfluger-Jakob, 2003, S. 8).

Ergänzend zu diesen sechs Faktoren erläutert Ayres (2013) in Bezug auf die Entwicklung der sen- sorischen Integration, dass Lernen nicht einfach passiert, sondern in der Auseinandersetzung mit der Umwelt zustande kommt. Diese Auseinandersetzung geschieht im kindlichen Spiel durch die Integration der Sinneserfahrungen und die darauf folgenden anpassenden Reaktionen (Ayres, 2013, S. 193, 201).

Zu guter Letzt noch ein Zitat von Zimmer (1995), welches zusätzlich die Bedeutung der Umge- bung unterstreicht: „Je anregender die Umgebung für die Sinne des Kindes ist, umso stärker wird es zur Aktivität, zum Handeln herausgefordert. Seine Neugierde – der Motor der Entwicklung – wird geweckt.“ (Zimmer, 1995, S. 19)

7 Zur Theorie der sensiblen Phasen: „In der Entwicklungspsychologie werden sensible Perioden als jene Entwicklungsabschnitte definiert, in denen spezifische Erfahrungen maximale Wirkung haben […], wobei viele sensible Phasen durch Stadien der Hirnreifung bedingt sind. […] Die empirische Basis für die Annahme sensibler Perioden ist in vielen Bereichen noch unsicher. […] Allerdings weiss man inzwischen, dass in ver- schiedenen Arealen des Gehirns zu unterschiedlichen Zeiten ein Überschuss an synaptischen und dendriti- schen Verbindungen existiert, wobei eine Stimulierung durch die Umwelt mit darüber entscheidet, welche dieser Verbindungen erhalten bleiben und welche wieder abgebaut werden.“ (Stangl, W., o.J.)

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20 3.4 Zusammenfassung: Konsequenz für die Wahrnehmung von Kindergartenkindern

Wie entwickelt sich die Wahrnehmung von der Geburt bis ins Kindergartenalter?

Zu Beginn dieses Kapitels wurde die Entwicklung der Sinne und der sensorischen Integration auf- gezeigt.

Bereits Neugeborene sind mit einer Vielzahl an Wahrnehmungsfähigkeiten ausgestattet. So sind der Tastsinn, der Vestibularapparat, Geruchs- und Geschmackssinn (Nahsinne) wichtig, um Wachstum, Nahrung und Schutz zu gewährleisten und deshalb schon ziemlich gut ausgereift.

Während sich die Tastfähigkeit ab dem zweiten Jahr allmählich vom Mund zu den Händen verla- gert, ist der Vestibularapparat erst im Alter von sieben Jahren dazu imstande, seinen vollen Beitrag zu Bewahrung des Gleichgewichtes zu leisten. Der Geschmacks- und Geruchssinn entwickeln sich im Gegensatz zu den angesprochenen Sinnen während der Kindheit nicht mehr viel weiter. Mit zunehmendem Alter wächst jedoch das Verständnis dafür, was man essen kann und was nicht.

Bei den körperfernen Sinnen reift der Sehsinn hauptsächlich nach der Geburt, wobei er bis zum zweiten, in geringerem Ausmass bis zum neunten Lebensjahr formbar bleibt. Der Hörsinn ist zwar frühreif, entwickelt sich jedoch sehr langsam, wobei er während der Vorschulzeit und der frühen Schuljahre ebenfalls noch formbar ist (Ayres, 2013; Eliot, 2012; Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005; Oerter & Montada, 2002).

Für die Entwicklung der sensorischen Integration lässt sich sagen, dass diese drei Grundprinzipien folgt: Organisation durch anpassende Reaktionen, innerer Antrieb und Entwicklung von Baustei- nen. Vor allem die Phase zwischen dem dritten und dem siebten Lebensjahr ist entscheidend für die sensorische Integration, da das Gehirn in dieser Zeit am aufnahmefähigsten für Sinneseindrü- cke ist und sie am besten verarbeiten kann (Ayres, 2013).

Welche Faktoren können eine gesunde Entwicklung der Wahrnehmung von der Geburt bis ins Kindergartenalter fördern?

Die Faktoren welche eine gesunde Wahrnehmungsentwicklung fördern, lassen sich unterteilen in solche, die unveränderlich sind und solche die veränderbar sind. Zu den unveränderlichen Fakto- ren zählen ein intaktes Nervensystem und das Vorhandensein der maximalen Entwicklungsmög- lichkeiten der Gehirnstruktur. Die Qualität und Quantität der Reize, die Möglichkeit zur Eigenaktivi- tät, die Reize in der Prägungsphase eines Sinnessystems und die emotionale Grundstimmung des Kindes sind im Allgemeinen veränderbar, entweder durch das Kind selbst oder durch Bezugsper- sonen. Das kindliche Spiel und die Neugierde sind weitere entscheidende Faktoren für Wahrneh- mungslernen (Ayres, 2013; Pfluger-Jakob, 2003; Zimmer, 1995).

Zusammengefasst lässt sich in Bezug auf die Wahrnehmung von Kindergartenkindern feststellen, dass sich verschiedenste Teilfähigkeiten im Alter von sechs Jahren immer noch weiter ausdiffe- renzieren und aus diesem Grund formbar sind. Einige Faktoren, welche die Wahrnehmungsent- wicklung fördern, könnten durch eine Bezugsperson (z.B. die Kindergartenlehrperson, Eltern, etc.) gezielt so verändert werden, damit dem Kind das Wahrnehmungslernen erleichtert wird. Daraus ergibt sich die Möglichkeit für die Kindergartenlehrperson die Wahrnehmungsförderung in ihre täg- liche Arbeit einzubinden.

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4 Wahrnehmungsschwierigkeiten

In den vorangehenden Kapiteln wurden die Sinne und ihre gesunde Entwicklung thematisiert. Nun wird der Fokus auf Beeinträchtigungen der Wahrnehmung gelegt. Bewusst wurde der Obertitel für dieses Kapitel „Wahrnehmungsschwierigkeiten“ genannt: Im ersten Teil wird der Begriff der Wahr- nehmungsstörungen näher erläutert. Die Schwierigkeiten der Betroffenen im Alltag, die sich aus einer Beeinträchtigung der Wahrnehmung ergeben, werden im zweiten Teilkapitel aufgezeigt.

4.1 Wahrnehmungsstörungen 4.1.1 Begriff

Die Wahrnehmungsfähigkeit eines Menschen ist nach Zimmer (1995) von der Intaktheit der Sin- nesorgane abhängig. Ist ein Sinnesorgan nicht funktionsfähig, äussert sich dies zum Beispiel im Falle des Auges als Blindheit. Die Reize, können vom entsprechenden Sinnesorgan nicht wahrge- nommen und an das Gehirn weitergeleitet werden. Wenn bei einem Kind Auffälligkeiten im Wahr- nehmungsbereich festgestellt werden, sollte immer zuerst medizinisch abgeklärt werden, ob eine Störung der Sinnesorgane, eine „Sinnesbehinderung“, zum Beispiel eine Seh- oder Hörstörung, vorliegt (Zimmer, 1995, S. 157-158).

Von der Störung einzelner Sinnesorgane (periphere Störungen) werden die zentralen Wahrneh- mungsstörungen abgegrenzt. Diese betreffen die Reizverarbeitung im Gehirn und können deswe- gen trotz voller Funktionsfähigkeit der Sinnesorgane auftreten. So führt Zimmer (1995) weiter aus:

„Die betroffenen Kinder können sehen, hören, tasten etc., sie sind jedoch nicht fähig, die aufge- nommenen Reize richtig zu verarbeiten. Die Informationen, die ihnen von den Sinnesorganen übermittelt werden, bleiben ungenau und diffus.“ (Zimmer ,1995, S. 157)

In der sensorischen Integrationstherapie nach Ayres wird von „sensorischen Verarbeitungsstörun- gen“ gesprochen. Dieser Begriff kann mit einer Funktionsstörung des Gehirns bei der Integration von Sinnesinformationen gleichgesetzt werden (Ayres, 2013, S. 64-65). Die Betroffenen sind also nicht fähig, die Informationen, welche von den Sinnen kommen, angemessen im Gehirn ordnen, zu verarbeiten (integrieren) und darauf zu reagieren.

4.1.2 Häufigkeit des Auftretens

Nach Maria Pfluger-Jakob (2003) treten bei jedem sechsten bis achten Kind Störungen in den Hirnfunktionen auf. Diese Hirnfunktionsstörungen können wie bereits erwähnt die Ursache für Ent- wicklungsauffälligkeiten, unter anderem in der Wahrnehmung, sein. Diese Auffälligkeiten reichen von leichten Beeinträchtigungen bis zu schwereren Störungen (Pfluger-Jakob, 2003, S. 9).

Fink et al. (2010) haben im Rahme einer Studie zur Erfassung von Wahrnehmungsstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern festgestellt:

„[…] Kinder mit einer leichten oder mittelgradigen Wahrnehmungsstörung – ähnlich wie bei ande- ren leichten Hirnfunktionsstörungen, wie ADS, Sprachentwicklungsstörung etc. - [machen] einen Anteil zwischen 10 und 25 Prozent in der Normalbevölkerung aus.“ (Fink, Hofer & Pastewka, 2010, S. 5)

Fink et al. gehen also davon aus das jedes vierte bis zehnte Kind von leichten bis mittelgradigen Wahrnehmungsstörungen betroffen ist, was sich mit den Daten von Pfluger-Jakob nicht wider- spricht, die Spannbreite der möglichen Betroffenen jedoch erhöht.

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22 4.1.3 Ursachen

In den meisten Fällen ist kann die Ursache einer Wahrnehmungsstörung nicht eindeutig belegt werden. Sie kann nach Zimmer (1995) entweder organisch- oder umweltbedingt sein.

Zu den organischen Ursachen zählen Beeinträchtigungen vor, während oder nach der Geburt.

Ursachen, die vor der Geburt erfolgen (pränatale Ursachen), sind zum Beispiel Infektionen der Mutter während der Schwangerschaft oder die Einwirkung giftiger (toxischer) Stoffe. Während der Geburt (perinatale Ursachen) können Komplikationen einen Sauerstoffmangel des Kindes hervor- rufen, was sich wiederum auf das Gehirn auswirkt. Fieberhafte Entzündungen nach der Geburt (postnatale Ursachen), können ebenfalls negative Einflüsse auf die Gehirnentwicklung darstellen (Zimmer, 1995, S. 158).

Daneben kann eine Wahrnehmungsstörung, wie Zimmer (1995) erläutert, auch durch die Lebens- situation der Kinder verursacht werden, also umweltbedingt sein. Einerseits kann ein Mangel an Entwicklungsreizen, also eine Umgebung mit wenig Möglichkeiten zu sensorischen Erfahrungen (wenig Körperkontakte, Bewegungsmangel, Überbehütung) eine Ursache von Wahrnehmungsein- schränkungen sein. Andererseits können sich auch unausgewogene Reizeinflüsse, d.h. die Über- stimulierung bestimmter Sinnesbereiche und die Unterversorgung anderer, schädlich auswirken.

Beispiele hierfür sind die Überflutung mit optischen und akustischen Reizen, Mangel an körperna- hen Erfahrungen und „einseitige“ Sinneseindrücke (Zimmer, 1995, S. 158-159). Oder wie Ayres weiterführt, der Mangel an „ganzheitlichen Sinneseindrücken“ (Ayres, 2013, S. 70).

Durch eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung können sekundäre Probleme auftreten, die sich im Verhalten der Kinder im Alltag und somit auch im Kindergarten äussern. Dies ist das Thema des folgenden Unterkapitels.

4.2 Probleme im Kindergartenalltag

Probleme in der Wahrnehmung oder der sensorischen Integration äussern sich bei jedem Kind anders, wie Ayres (2013) erklärt. Umso schwieriger ist es, diese frühzeitig zu erkennen, um darauf reagieren zu können. Nach Ayres lassen sich trotzdem einige Symptome des Verhaltens beschrei- ben, die bei Kindern mit Wahrnehmungsstörungen auftreten.

Zum einen ist dies die motorische Unruhe oder Hyperaktivität. Das Kind ist praktisch immer in Bewegung, wobei die Aktivitäten oft ziellos sind. Da das Kind unwesentliche Reize nicht ausfiltern kann, ist es leicht ablenkbar und kann nicht bis an seine Leistungsgrenze arbeiten. Gerade im Kin- dergarten, wo ein gewisses Mass an Fokussierung verlangt wird (z.B. in den geführten Sequen- zen), fällt ein solches Verhalten relativ stark auf.

Im Kindergarten kommt das Kind unter Umständen zum ersten Mal in Kontakt mit vielen gleichalt- rigen Kindern. In diesem Kontext kann das betroffene Kind zu spüren bekommen, dass es in ge- wissen Bereichen seinen Altersgenossen unterlegen ist. Daraus kann sich ein geringes Selbst- bewusstsein entwickeln. Dies zeigt sich dadurch, dass das Kind nicht verlieren kann, übermässig empfindlich ist und es Mühe hat mit ungewohnten Situationen. Hinzu kommt, dass es von anderen Kindern häufig abgelehnt wird, weil es eben diese negativen Verhaltensweisen zeigt.

Das Sprechen und die Sprachentwicklung setzen viele sensorisch-integrative Prozesse voraus.

Kinder mit Schwächen in der sensorischen Integration haben deshalb oftmals auch Mühe mit der Sprache. Da die Sprache ein Bildungsbereich des Kindergartens darstellt, und die Lehrperson die einzelnen Kinder in diesem Kontext auch einschätzt, können Schwierigkeiten einzelner Kinder rela- tiv früh auffallen und Anlass zur genaueren Abklärung sein.

Referenzen

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