• Keine Ergebnisse gefunden

Die Entwurfslehren nach 1945 zeigen in ihren verschiedenen thematischen Schwer-punkten den Versuch der Aufarbeitung eines Bruchs mit den Traditionen der Archi-tektur, den die avantgardistische Moderne ausgelöst hatte. Erst mit der Überwindung einer einseitig funktionalistischen Interpretation des Raumes und dem Infragestellen des sich selbst begründenden Neuen und Originellen zeigt sich in der Hinwendung zu spezifisch architektonischen Fragestellungen, wie dem Verhältnis von Wahrnehmung und Raum, Form und Raum, Konstruktion und Raum der Versuch einer Integration aller raumbestimmenden Faktoren in den Entwurfsprozess.

Idee als geistige Vorstellung und Selbstäußerung

Die Analyse der Entwurfslehrbücher verdeutlicht, dass Entwerfen als Prozess an die künstlerisch-schöpferische Fähigkeit des Entwerfers gebunden ist. Die Architektur ist keine Disziplin, die sich wie die Naturwissenschaften in der gesetzmäßigen Verknüp-fung von Einzelheiten und an einem verifizierbaren Ergebnis messen lässt. Wie die Entwurfslehren der siebziger Jahre zeigen, scheitert der Versuch, durch methodische Hilfsmittel und Problemlösungsstrategien den Entwurfsprozess zu verwissenschaftli-chen und Entwerfen als Gestaltung überflüssig erscheinen zu lassen. Rittel und Web-ber weisen zwar in ihrem Aufsatz "Planning Problems are Wicked Problems" auf die Unmöglichkeit der Objektivierung und Verwissenschaftlichung architektonischer Probleme hin, erkennen die gestalterische Autonomie des entwerfenden Subjekts aber nicht an und schlagen statt dessen einen partizipatorischen und diskursiven Entscheidungsfindungsprozess zur Ermittlung von Werturteilen vor.

Die künstlerisch-schöpferische Persönlichkeit des Entwerfers zeigt sich in der Vor-stellung von der Idee und ihrer Position im Entwurfsprozess. Die Idee soll nicht als spontaner Einfall und im unmittelbaren Selbstausdruck hervortreten, wie es eine Kernforderung des Vorkursunterrichtes von Johannes Itten am Bauhaus gewesen ist, sondern in einer geistigen Vorstellung, die sowohl durch den kulturellen Kontext, durch die Persönlichkeit des Entwerfers und durch erworbenes Wissen herangebildet wird. Ein derartiges Verständnis der Idee haben, ausgehend von Friedrich Ostendorf, besonders Walther Schmidt und Martin Elsaesser in ihren Entwurfslehren aufgezeigt.

Bei ihnen ist die Idee ein Vorstellungskomplex, der als Idealbild dem Entwurf voraus-geht, dadurch das Wesen des Entwurfs bestimmt und ihn in seinem Ergebnis recht-fertigt. Im Gegensatz dazu steht die zeichnerisch ermittelte Entwurfslösung bei die-sen Autoren dafür, dass die Idee sich nachgeordnet durch den Entwurf rechtfertigen muss und als zufällig gefundenes Ergebnis zwar alle äußeren Anforderungen erfüllen kann, aber keinen inneren, über sie selbst hinausweisenden geistigen Gehalt zum Ausdruck bringt.

Der unbedingte Erneuerungsanspruch der avantgardistischen Moderne hatte einen Traditionsbruch zur Folge, als dessen Ergebnis die Idee als Ausdruck

immerwähren-der, origineller Neuschöpfung betrachtet wurde. Gerade die Entwurfslehren von Jo-hannes Kister und Michael Wilkens weisen darauf hin, dass heute das unbedingt Neue im endlos multiplizierten Originellen banal wird und kein Entwurfsziel sein kann. In einem Zeitalter der Individualisierung, in dem nach der Auflösung aller traditionell, konventionell oder normativ vorgegebenen und lokal determinierten Leitbildvorstel-lungen die Idee nur noch als sich wandelnder Selbstentwurf des entwerfenden Sub-jekts möglich scheint, muss sich die Idee als geistige Vorstellung ethisch in der Ver-antwortung gegenüber den Menschen und der Verbesserung ihrer Lebensumstände begründen. Die Freiheit des Individuums findet im Entwurf sein eigentliches Wesen nicht im grenzenlosen Selbstausdruck, sondern in kreativen Lösungen zur Verbesse-rung des Bestehenden.

Im Entwurfsprozess zeigt sich die Idee somit als Grundlage einer umsichtigen Kombi-nation aller entwurfsrelevanten Faktoren. Sie ist insofern einer Lehre, also der Ver-mittlung von Wissen, zugänglich, als die durch Wissen erworbenen Fähigkeiten die Idee erst beurteilungsfähig machen und ihr zu ihrem Ausdruck verhelfen. Insofern ist die Idee für das Entwerfen zwar eine Voraussetzung, der Lehre jedoch direkt nicht zugänglich. Wie in der Musik oder im Tanz ist die Beherrschung technischer Fähig-keiten, die durch Unterricht vermittelt werden, die Bedingung künstlerischen Aus-drucks. Erst durch die souveräne Beherrschung technischer Fähigkeiten kann die Idee ihren Ausdruck als Kunstwerk finden. Auch in der Architektur kann die Idee allein die durch die Lehre vermittelte Beherrschung technischer Fähigkeiten nicht ersetzen.

Gerade die Entwurfslehren der achtziger Jahre machen deutlich, dass aufgrund der Abgrenzung zum methodisch ausgerichteten Planen und in der Konzentration auf die formal-ästhetische Gestaltung der individuelle Selbstausdruck (z.B. Betonung des Originellen in der Entwurfslehre von Wagner) in der Tradition des Bauhauses geför-dert wird. Dabei wird vernachlässigt, dass das Ziel aller Entwurfsbemühungen, wie Wilkens in seiner Entwurfslehre richtig bemerkt, in einer Verbesserung des Bestehen-den, in der Anpassung des Neuen an die veränderten Lebensbedingungen der Men-schen bestehen muss.

Hartmann weist darauf hin, dass sich der Gebäudeentwurf im Entwurfsprozess spi-ralförmig (als iterativer Prozess) zu einer endgültigen Lösung verdichtet. Dabei wer-den stufenweise entwurfliche Verflechtungen erneuert und bis zum endgültigen Ent-wurf detaillierter vorgenommen. Auf jeder Stufe ist die Idee als umfassende geistige Vorstellung Maßstab der Entscheidung.

Es bleibt festzustellen, dass Idee und Methode im Entwurfsprozess Hand in Hand gehen und sich gegenseitig ergänzen. Es zeigt sich, dass die Idee als geistige Vor-stellung unverzichtbarer Ausgangspunkt und Endpunkt des Entwurfs ist. Die Idee als Ausdruck verantwortlichen Handels ist das Ziel und im Entwurfsprozess das Mittel, alle entwurfsrelevanten Faktoren in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, der mehr als ihre bloße Summe darstellt.

Raum als sinnlich-körperliches und geistiges Erleben

Der architektonische Raum findet seinen Mittelpunkt im geistigen und sinnlichen Erleben des Menschen. Es ist an die Leibräumlichkeit der Wahrnehmung und an das Erkennen von Bedeutung gekoppelt. Neben Form, Farbe, Licht, Oberfläche und der

Entschlüsselung von räumlichen Phänomenen, Typen und Symbolen ist die Art des Gemachtseins, die Zusammenfügung der einzelnen Teile, für ein ganzheitliches räumliches Erleben bedeutsam.

Besonders in den Entwurfslehren der achtziger Jahre rückt die Wahrnehmung in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Vorausgegangen war eine Kritik an der funktionalisti-schen Moderne und an dem Bemühen um eine Methodisierung und Verwissenschaftli-chung des Entwerfens, wie es in den Entwurfslehren des vorangegangenen Jahr-zehnts zum Ausdruck kommt. Die Gestalttheorie und die Erkenntnisse der Wahrneh-mungspsychologie eröffnen die Möglichkeit, formal-ästhetische Entscheidungen im Entwurfsprozess zu objektivieren. Die Entwurfslehren von Wolfgang Döring, Fried-rich-Christian Wagner, Rudolf Wienands und Wolfgang Meisenheimer beziehen sich insbesondere auf die Erkenntnisse zur visuellen Wahrnehmung, wie sie die Forschung von Wolfgang Metzger hervorgebracht hat, und auf die Untersuchungen von Paul Schilder zum leibräumlichen Erleben des Raumes. Auch die Arbeiten von Rudolf Arn-heim zur Anwendung der Wahrnehmungspsychologie auf die bildende Kunst und die Architektur fließen in die Entwurfslehren ein. Die Hinwendung zu einem an der Wahr-nehmung ausgerichteten Entwerfen erfolgt zuerst in den USA. Schon in den sechziger Jahren diskutiert Robert Venturi in seinen Veröffentlichungen den Bedeutungsgehalt von Architektur. Charles Moore veröffentlicht 1977 seine Entwurfslehre "Body, Me-mory, and Architecture", in der er die Leibräumlichkeit der Wahrnehmung zum Aus-gangspunkt für ein an Typologien ausgerichtetes Entwerfen macht. Die Entwurfsleh-ren in der Bundesrepublik nehmen diese Entwicklung auf, lassen aber die Erkenntnis-se der KunstwisErkenntnis-senschaft und Architekturtheorie unberücksichtigt. Heinrich Wölfflin und August Schmarsow werten schon zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts Er-kenntnisse der Psychologie aus und übertragen sie auf die Architektur. Sie beziehen die Verarbeitung der Wahrnehmung eines Formausdrucks auf eigene körperliche Erfahrungen, lange bevor Paul Schilder die Leibräumlichkeit der Wahrnehmung expe-rimentell nachweisen kann. In den Entwurfslehren der fünfziger Jahre ist dieser Tra-ditionsstrang in der Forderung nach dem "Zusammenklang von Mensch und Stoff"541 noch zu spüren. Schmarsow beschreibt die Architektur als Raumkunst, in der das Raumgefühl durch das Voranschreiten des Körpers in die Tiefe des Raumes entsteht.

Wagner und besonders Meisenheimer stellen die Bedeutung der Bewegung für die Wahrnehmung des Raumes heraus. Meisenheimer betont dabei den Handlungsbezug der Bewegung und bezieht sich auf das entwicklungspsychologische Modell von Jean Piaget zur Entwicklung des räumlichen Denkens bei Kindern.

Neben der sinnlichen Wahrnehmung ist dem Erleben der Form gleichzeitig eine Be-deutungsdimension mitgegeben. In den Entwurfslehren von Wagner und Meisenhei-mer wird die Bedeutung der Form auf den Ebenen Phänomen, Typ und Symbol dis-kutiert. Beide identifizieren Formtypen, die sie aus tiefenpsychologisch verankerten Urphänomenen und aus an der Leibräumlichkeit ausgerichteten Urakten ableiten. Für Wagner bilden die Urakte des Stehens, Liegens, Gehens, Abgrenzens, Ausgrabens und des Anhäufens sowie ihre bildhaft-räumliche Gestaltung in Architekturformen das Grundmuster für die Wahrnehmung und Beurteilung von Formen.

Das hiermit eingeleitete typologische Entwurfsverständnis setzt sich in der Entwurfs-lehre von Johannes Kister fort. Er versteht Entwerfen als Kombination architekto-nisch-räumlicher Grundmotive mit funktionalen Anforderungen und mit ästhetischen Vorstellungen und Bildern, die zu einer lesbaren und sprechenden Form führen

541 W. Schmidt, 1947, S. 21

len. Der Typus ist für ihn zuerst eine bildhafte Vorstellung der kulturellen Bedeutung eines Objekts. Damit versteht er den Typ als dekodierbares Zeichen, dessen Bedeu-tungsgehalt nicht auf wahrnehmungspsychologische Zusammenhänge, sondern auf Übereinkunft beruht. Als Folge erscheint in seinem Lehrbuch das Entwerfen als Montage abstrakter Formtypen. Auch Michael Wilkens definiert die Wahrnehmung als Information über die Lesbarkeit einer Form. Dabei differenziert er zwischen einer geometrischen, organisatorischen und einer assoziativen Wahrnehmung. Im Gegen-satz zu Kister und zu den vorausgegangenen wahrnehmungspsychologisch ausge-richteten Entwurfslehren bildet bei Wilkens auch die Art des Gemachtseins, die Fü-gung des Materials ein wesentliches Wahrnehmungsmoment. Er nennt die tektoni-schen Implikationen des Stehens und Tragens "Assoziationen zu uns selbst" und verweist damit auf die Schwerkrafterfahrung des eigenen Körpers, die mehr als hun-dert Jahre zuvor schon Wölfflin als wesentliches Moment der Raumerfahrung identifi-ziert hatte.542 Das Gebäude setzt sich nach Wilkens aus baukonstruktiven Einheiten -Morphemen und Komponenten - zusammen, die entsprechend des Bauablaufs im Entwurfsprozess zusammengefügt werden. Wilkens hat damit die Vorstellung vom Typus als psychologischem Phänomen und als Informationsträger mit symbolischem Gehalt erweitert und seine für die Architektur zentralen Eigenschaften der Fügung des Materials wieder in die Entwurfslehre eingeführt.

Im präsentischen Erleben des architektonischen Raumes wird die Dichotomie von sinnlicher Wahrnehmung und geistigem Erkennen zusammengeführt. Fritz Schuma-cher hat darauf hingewiesen, dass die Gegensätze sich in der seelischen Wirkung des baulichen Kunstwerks zu einer höheren Einheit verbinden. Auch Martin Elsaesser sieht im Ausgleich der Polaritäten ein Ziel der Entwurfsbemühungen. Ein ganzheitli-ches Verständnis des architektonischen Raumes bezieht sowohl den sinnlichen Gehalt unter Einschluss der Konstruktion als auch die Zeichenhaftigkeit der Architekturele-mente, seien sie phänomenologisch oder symbolisch begründet, mit ein.

Es bleibt festzustellen, dass der architektonische Raum nicht als Objekt im Gegen-über erfahren wird. Er ist nicht Gegenstand, sondern immer Umraum, ausgerichtet auf den Menschen und sein körperhaft erfahrenes Dasein. Ein ganzheitliches Ver-ständnis des architektonischen Raumes muss daher auch die Gesetze der Schwer-kraft, die sich in der Fügung des Materials mitteilen, in die Entwurfsüberlegungen einbeziehen. Tut der Entwerfer dies nicht, so muss er sich bewusst sein, dass er sich gegen eine ganzheitlich-leibräumliche Wahrnehmung entscheidet. Als Folge davon weist der Entwurf einen dekonstruktiven Charakter auf, entfernt sich vom Wesen des Architektonischen und nähert sich den Prinzipien des Designs. Wilkens bemerkt dazu, dass eine Architektur, die den Gesetzen des Marktes folgend immerwährend neu und innovativ sein will, den Fügungsgehalt der Form und des Materials verneinen muss, da gerade er das Gebaute im Gewohnten verankert und Originalität durch Handwerk-lichkeit ersetzt.

Ohne Zweifel strebt die Wahrnehmung nach Einfachheit und Eindeutigkeit. Dieses hat Wolfgang Metzger mit den auf Gestaltganzheit ausgerichteten Gesetzen der visuellen Wahrnehmung belegt. Für Rudolf Wienands ist die Herstellung visueller Gestaltganz-heit das zentrale Entwurfsziel. Er sieht es vornehmlich in der Anpassung an eine traditionelle, regional gebundene Architektur verwirklicht, ohne dies schlüssig zu

542 Heinrich Wölfflin, 1946, S. 15: "Wir haben Lasten getragen und erfahren, was Druck und Gegendruck ist, wir sind am Boden zusammengesunken, wenn wir der niederziehenden Schwere des eigenen Körpers keine Kraft mehr entgegensetzen konnten, und darum wissen wir das stolze Glück einer Säule zu schätzen und begreifen den Drang alles Stoffes, am Boden formlos sich auszubreiten."

begründen. Die der Gestaltganzheit zugrunde liegende Ordnung erkennt Meisenhei-mer zuerst in geometrischen Grundformen und in Oberflächeneigenschaften. Es bleibt festzustellen, dass Gestaltganzheit nicht nur die visuelle Wahrnehmung, son-dern alle Wahrnehmungsformen der Sinne und des Körpers, die sich im Gebauten zusammenfinden, betrifft.

Kontext als Gleichzeitigkeit von Objekt und Struktur

Der architektonische Raum stellt sich in Abhängigkeit vom raumerlebenden Subjekt als ein Kontinuum im immerwährenden Wechsel von innen und außen dar.

Die Vorstellung der Gleichzeitigkeit der räumlichen Beziehungen von innen und außen beschreibt 1923 Herman Sörgel in seinem Konzept des konvexen und konkaven Raumes. Sörgel bezieht Position in einer Diskussion um ein Entwerfen von innen, wie es sich in der von Muthesius publizierten, sich frei in den Landschaftsraum ausbrei-tenden englischen Landhausarchitektur zeigt, und einem Entwerfen von außen, wie es Friedrich Ostendorf als Ausdruck einer umfassenden geistigen Vorstellung fordert, die sich in Einfachheit und geschlossenem Volumen zeigt. Die Auffassung, Architektur als "Kunst doppelter Raumgestaltung durch Körpergestaltung"543 zu beschreiben, wie es Fritz Schumacher formuliert, geht in einer Moderne, die die räumliche Gestaltung ganz der Funktion unterordnet will, verloren. Der Raum zwischen Gebäuden wird zum Sicherheitsabstand und zum Garanten für eine optimierte Belichtung und Belüftung.

Martin Elsaesser präsentiert in seiner Entwurfslehre mit dem sich in die Landschaft ausbreitenden und dem kompakt verdichteten Landhaus beide Raumkonzepte gleich-berechtigt nebeneinander. Er kann sich zwischen den unterschiedlichen Leitbildern nicht entscheiden und spiegelt damit die Verunsicherung in der Nachkriegssituation wider.

Im Verlauf der fünfziger Jahre gerät der rationale, mechanistisch abstrakte Funktio-nalismus international in die Kritik. Auf den CIAM Kongressen in Aix-en-Provence 1953 und Dubrovnik 1956 versucht eine junge Architektengeneration, die Form aus den sozialen und psychologischen Beziehungen der Menschen neu zu begründen. Im Gegensatz dazu will die sich in den sechziger Jahren entwickelnde Planungstheorie den Funktionalismus durch Methodisierung und Objektivierung von Enscheidungsfin-gungsprozessen weiterentwickeln und zeigt nur Interesse an funktionalisierten räum-lichen Beziehungen. Die Entwurfslehre von Jürgen Joedicke folgt den planungstheo-retischen Ansätzen, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass der Raum durch die Funktion nicht eindeutig bestimmt werden kann. Vielmehr definiert er den Raum durch die Wahrnehmung als "die Summe nacheinander erfahrener Beziehungen von Orten".544 Joedicke bleibt dem objektbezogenen Raummodell der Moderne verhaftet.

Er vollzieht die durch die Moderne initiierte Auflösung der Grenze zwischen innen und außen nach, verhält sich aber zum äußeren Raum weitgehend indifferent, indem er eine Entwicklung vom "Raumbehälter" zum neutralen "Raumfeld" durch abnehmende räumliche Dichte beschreibt. Das von Colin Rowe und Robert Slutzky unter Beteili-gung von Bernhard Hoesli 1955/56 entwickelte Raummodell der phänomenologischen Transparenz findet in den Entwurfslehren der siebziger Jahre keine Berücksichtigung.

Im Gegensatz zur optischen Transparenz der modernen Architektur zielt ihr

543 F. Schumacher, 1991, S. 37

544 J. Joedicke, 1976, S. 61

verständnis auf einen dynamischen Raum, in welchem der Umraum als Figur-Grund-Beziehung im gegenseitigen Austausch einbezogen ist. Das Ziel besteht in der Her-stellung von Gestaltganzheit entsprechend der an den Sehgesetzen ausgerichteten Wahrnehmung. Im so entstehenden kontinuierlichen Raum zeigt sich der räumliche Kontext in der Gleichzeitigkeit von Objekt und der ihm unterliegenden Struktur. Die von Sörgel und Schumacher festgestellte Abhängigkeit von Körper und Raum ist hier zur Gleichzeitigkeit von Körper und Raum in Ausrichtung auf ein wahrnehmendes Subjekt erweitert.

Die Entwurfslehren von Döring / Hofstadt, Wagner, Wienands und Meisenheimer rücken das Individuum in das Zentrum des Raumes. Wienands beklagt das durch die Moderne verursachte Verwischen der klaren Innen-Außen-Grenzen und fordert, ohne auf das Raummodell Colin Rowes zu verweisen, eine stärkere Hinwendung zum Zwi-schenraum. Für Döring / Hofstadt ist der Kontext eine typologische Referenz, welche Hinweise auf die im Entwurf zum Einsatz kommenden Formtypen geben kann. Wag-ner erkennt in der Polarität von Innen und Außen die aus leibräumlichen Urphänome-nen entwickelten Grundtypen des Raumes. Christian Norberg-Schulz stellt den ar-chitektonischen Raum als Identifikationsraum vor, der durch die "Konkretion von Mustern und Bildern der Umwelt für die notwendige Orientierung des Menschen sorgt und damit sein Sein in der Welt beschreibt."545 Darauf aufbauend definiert Meisen-heimer in seiner Entwurfslehre den topologischen Raum als einen auf das Individuum ausgerichteten Innenraum, der sich nur in seinem unterschiedlichen Grad an Offen-heit unterscheidet.

Den Raum als ein Kontinuum von Positiv-Negativ-Beziehungen beschreibt auch Horst Ermel und folgt damit insbesondere dem Lehrmodell von Bernhard Hoesli, der durch die Gleichzeitigkeit von Masse und Volumen, Objekt und Umraum die Objekthaftigkeit der Moderne zu überwinden versucht und sie gleichzeitig als Tradition gewordener Teil der Architektur anerkennt. Im zweiten Band seiner Entwurfslehre erweitert Ermel den Begriff des Kontextes über ein räumliches Beziehungsgefüge hinaus zu einem umfassenden System, das städtebauliche Bezüge, Topographie, Nachbarschaft, sozi-ale, gesetzliche und symbolische Faktoren einschließt. Damit nimmt er eine aus-schließlich auf das Individuum bezogene psychologisch-phänomenologische Inter-pretation des Raumes zurück. Aus dem Bewegungscharakter des Ort-Wege-Raumes und dem daraus abgeleiteten Handlungsbezug entwickelt er die Basis für eine funkti-onal ausgerichtete Interpretation des Raumes. Auf formaler Ebene spiegelt sich diese Vorstellung in dem von Arnheim vorgeschlagenen und auch von Meiss benutzten Kraftfeldmodell. Dieses Modell weist einen stärkeren Objektbezug auf als das Figur-Grund-Modell und zeigt die Beeinflussung der Bewegung im Raum durch die Aus-strahlungskraft "magnetischer Felder", die den geometrischen Formen innewohnen.

Eine verstärkte Hinwendung zum Objekt zeigt sich auch in den Entwurfslehren von Johannes Kister und Michael Wilkens. Kister beschreibt die drei Raumtypen Feld, Körper und Volumen, denen die Gebäudetypen Solitär, Objekt und Hof entsprechen.

Der Zwischenraum wird bei ihm zu einem "beiläufigen" städtebaulichen Gewinn, der durch die Stellung der Baukörper beeinflusst werden kann. Auch Wilkens sieht das Ziel des Entwurfs im Herausarbeiten beziehungsreicher Dialoge im Kontext der Stadt.

Er trifft keine weiteren Aussagen zu räumlichen Verflechtungen, verweist aber auf die alten Baumeister, die nicht eine Vorstellung vom Baukörper zur Grundlage ihres Ent-wurfs machten, sondern den Zusammenhang von Innen- und Außenräumen.

545 Ch. Norberg-Schulz, 1971, S. 7