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3.1 Zwischen Tradition und Moderne - Lehrbücher des Entwerfens 1945- 1945-1960

3.1.1 Restauration in Architektur und Entwurfslehre

Die Architektur nach 1945 knüpft nicht zuerst an die avantgardistische Moderne der zwanziger Jahre an, wie sie beispielhaft vor 1933 durch das Bauhaus verkörpert wur-de.150 In der Zeit des Neubeginns und des Wiederaufbaus ist die Architekturdiskuss-ion in Deutschland geprägt von dem Versuch, die in den zwanziger Jahren vorherr-schenden moderaten Strömungen des neuen Bauens weiterzuführen. Diese Strö-mungen reichen in unterschiedlichen Facetten von der Neuen Sachlichkeit über eine gemäßigte Moderne bis hin zu Konzepten, die sich eher auf ein Fortführen von ge-wachsenen Traditionen beziehen. Die Architektur einer gemäßigten Moderne wird von vielen Mitgliedern des Werkbundes vertreten und reicht bis in den traditionell ge-prägten "Bund für Heimatschutz" hinein. Heinrich Tessenows Forderungen nach Ein-fachheit, Klarheit in der Form, Allgemeingültigkeit und nach einer sinnvollen Hand-werklichkeit bei praktischer Nutzung des industriellen Fortschritts sowie Materialge-rechtigkeit in der Konstruktion und im stofflichem Ausdruck steht beispielhaft für diese Haltung. Auch Fritz Schumacher, Architekt, Architekturlehrer und Oberbaudi-rektor in Hamburg, formuliert 1926 als ein prominenter Vertreter des Neuen Bauens in seinem Aufsatz "Das bauliche Gestalten" in Abgrenzung zur avantgardistischen Moderne: "(...) aber schwerlich wird es gelingen, eine wirklich lebendige architektoni-sche Sprache auf dem Boden ausschließlicher Abstraktion zu entwickeln."151 Bei aller Unterschiedlichkeit wird die Forderung nach Gegenständlichkeit durch Materialhaftig-keit und nach geschichtlich gewachsenen Bezügen in den Entwurfslehren bis 1959 bestimmend.

Architekturlehre nach 1945 am Beispiel der TH München

Nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs sind alle gesellschaftlichen Institutionen bemüht, möglichst schnell wieder arbeitsfähig zu werden. Am Beispiel der Techni-schen Hochschule München lässt sich die Zeit des Wiederaufbaus in der Lehre der

150 Joachim Petsch, Architektur und Gesellschaft. Böhlau Verlag, Köln-Wien 1977, S. 216

151 Fritz Schumacher, Das bauliche Gestalten. Martina Düttmann (Hrsg.), Birkhäuser, Basel-Berlin-Boston 1991, S. 70. Zuerst: Handbuch der Architektur, Teil IV, Gebhard's Verlag, Leipzig 1926.

Architektur exemplarisch darstellen. Schon ab Sommer 1945 wird versucht, die weit-gehend zerstörten Gebäude wieder instand zu setzen. Die Architekturstudenten der Technischen Hochschule helfen unter der Leitung von Hans Döllgast, die Gebäude zu sichern, so dass im Sommer des darauffolgenden Jahres 1946 das Studium wieder beginnen kann.152 Die nach dem Krieg in Deutschland verbliebenen 16 Universitäten und 9 Technischen Hochschulen werden nach dem Muster der Hochschulen in der Weimarer Republik wiederaufgebaut und reorganisiert. Die Technischen Hochschulen der westlichen Bundesländer, zu denen eine Architekturabteilung gehört, sind Aa-chen, Berlin, Braunschweig, Darmstadt, Hannover, Karlsruhe, München und Stutt-gart. Lehr- und Lernfreiheit, die Einheit von Forschung und Lehre bleiben Grundprin-zipien des akademischen Unterrichtssystems.

Die alten Führungsschichten kehren zu einem beträchtlichen Teil wieder in ihre Posi-tionen in Politik, Wirtschaft und Kultur zurück.153 Von den Architekten, die in der Zeit des Nationalsozialismus in der Lehre tätig waren - wie Adolf Abel und Hans Döllgast an der TH München -, nehmen die meisten ihre Arbeit wieder auf. Sogar Architekten, die während der Zeit des Nationalsozialismus Karriere gemacht hatten, werden auf Professuren berufen. Ein Beispiel dafür ist der Landschaftsarchitekt Alwin Seifert, eine der führenden Persönlichkeiten beim Reichsautobahnbau, der ab 1949 wieder einen Lehrauftrag an der Technischen Hochschule München erhält und schließlich 1954 zum außerordentlichen Professor ernannt wird.154 Andere, die sich vor 1933 einer konser-vativen Moderne im Sinne des Werkbundes verpflichtet gefühlt hatten und die wäh-rend der Zeit des Nationalsozialismus gar nicht oder nur sehr eingeschränkt arbeiten konnten, sind nun an den Hochschulen wieder willkommen. Robert Vorhoelzer, der 1933 als Professor für Entwerfen in den Ruhestand versetzt worden, war nimmt 1947 seine Lehrtätigkeit wieder auf. Auch der Architekt und ehemalige Stadtbaurat von Frankfurt a.M., Martin Elsaesser, der ab 1948 an der TH München lehrt, versucht in seinem Unterricht an die nichtformalistische, gemäßigte Modernität seiner Bauten vor 1933 anzuknüpfen. Erst 1955 und 1956 öffnet sich die TH München mit der Beru-fung der ehemaligen Bauhausabsolventen Gerhard Weber und Gustav Hassenpflug dem internationalen Stil. Den beiden Vertretern einer von Mies van der Rohe ge-prägten Moderne werden aber zwei gemäßigt moderne und regional gefärbte Ent-wurfslehrer gegenübergestellt. Diese Parität charakterisiert die Architektenausbildung an der TH München für die nächsten 20 Jahre.155

Entwurfslehrbücher 1948-1959

In der Orientierungslosigkeit der Nachkriegszeit versuchen erste Publikationen zur Architektur neue Horizonte zu eröffnen und Hilfestellung für die Bewältigung der vielfältigen und dringenden Entwurfsaufgaben zu geben. Bis dahin ist einzig das Ent-wurfslehrbuch "Die Baugestaltung"156 von Karl Ermannsdorffer verfügbar. Dieses Werk ist seit 1936 in mehreren Auflagen erschienen und verbreitet eine

152 Winfried Nerdinger, Katharina Blom (Hrsg.), Architekturschule München 1868-1993 - 125 Jahre Techni-sche Universität München. Klinkhardt und Biermann, München 1993, S. 210

153 Wiltrud und Joachim Petsch, Bundesrepublik eine neue Heimat? Städtebau und Architektur nach '45.

Verlag für Ausbildung und Studium, Berlin 1983, S.11 f.

154 W. Nerdinger / K. Blom, 1993, S. 102

155 W. Nerdinger / K. Blom, 1993, S. 115

156 Karl Erdmannsdorffer, Die Baugestaltung. Verlag Georg D.W. Callwey, München 1936

ge Baukultur gemäß der Ideologie des nationalsozialistischen Heimatstils. Die Moder-ne wird darin konsequent verschwiegen. Die angeführten Beispiele beziehen sich einzig auf den ländlichen Raum. Von den hundertfünfzig Seiten des Buches sind über vierzig Seiten allein dem Dach gewidmet. Insbesondere die unterschiedlichen Dach-formen werden mit Ausnahme des Flachdachs ausführlich behandelt. Am Dach soll sich die richtige Baugesinnung erweisen. Funktionale, organisatorische und konstruk-tive Aspekte werden nicht erörtert, dafür nimmt die gestalterische und baukonstruk-tive Beschreibung einzelner Bauteile wie Gauben, Außenputze, Fenster, Türen, Trep-pen, Schornsteinköpfe, Erker, Freisitze und Berankungen einen breiten Raum ein.

In der Zeit zwischen 1947 und 1959 werden im Wesentlichen drei Bücher veröffent-licht, die über die Behandlung bautechnischer Fragen hinaus reichen und durch die Vorstellung formaler Bewertungskriterien als Lehrbücher des Entwerfens bezeichnet werden können. Die erste Entwurfslehre erscheint 1947 mit dem Titel "Ein Architekt geht über Feld" von Walther Schmidt, der ein prominenter Vertreter der bayerischen Postbauschule gewesen ist. Martin Elsaesser veröffentlicht 1950 in der Reihe "Das kleine Baufachbuch" einen schmalen Band, den er "Einführung in das Entwerfen"

nennt. Der Dozent an der Polytechnischen Fachschule im hessischen Friedberg Robert Karl Schlott tritt 1959 mit einem umfangreichen Buch mit dem Titel "Baugestal-tungslehre" an die Öffentlichkeit. Alle drei Werke entstehen in der Zeit des Wiede-raufbaus und spiegeln die Auseinandersetzung um die Frage nach einer geschichtli-chen Kontinuität im Anknüpfen an die Zeit vor 1933 und einen Neubeginn ohne den Ballast der Tradition wider.

3.1.2 Walther Schmidt: "Ein Architekt geht über Feld" (1947) - Entwerfen als geistige Vorstellung und Niederschrift

Walther Schmidt war Schüler Theodor Fischers an der TH München. Von 1924 bis 1930 arbeitet er mit Robert Vorhoelzer an der Realisation von Postämtern, die als süddeutscher Beitrag zum "Neuen Bauen" überregionale Bedeutung erlangen. Mies van der Rohe lädt Vorhoelzer und Schmidt 1931 ein, an der von ihm organisierten Bauausstellung in Berlin teilzunehmen. Die beiden Architekten realisieren als Münch-ner Vertreter des modernen Bauens für die Ausstellung ein Boardinghaus in der Form eines einfachen Kubus mit durchgehenden Fensterbändern auf schlanken Stahlstüt-zen mit einem offenen Erdgeschoss. Die Bauhauslehrer Lilly Reich und Josef Albers gehören zu den Innenarchitekten ihres Ausstellungsbeitrags.157 Dieses Gebäude bleibt jedoch eine Ausnahme im Werk der Architekten. Walther Schmidts Bauauffas-sung ist traditionell-handwerklich ausgerichtet. An der avantgardistischen Moderne kritisiert er die schlechte Bauausführung, den manierierten Umgang mit der Kon-struktion und die Verwendung von Materialien gemäß der ästhetischen Zwänge eines neuen Stils anstatt der Befolgung der Regeln eines "baumeisterlichen Verstandes".158 Innerhalb der großen Zahl der realisierten Postbauten entsteht 1931 bis 1933 zu-sammen mit Vorhoelzer auch das bekannte Postamt am Goetheplatz in München, das

157 Florian Aicher / Uwe Drepper, Robert Vorhoelzer - Ein Architektenleben. Callwey, München 1990, S. 234

158 F. Aicher / U. Drepper , 1990, S. 182

nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 beispielhaft als "kultur-bolschewistisches Machwerk" diffamiert wird. Durch Protektion entgeht Schmidt ei-nem Berufsverbot und arbeitet weiterhin für die Post. 1936 wird er in das Postminis-terium nach Berlin versetzt. Qualität und Geschwindigkeit seiner Arbeit beschleuni-gen auch hier seine Beförderung. Er plant und realisiert eine Reihe umfangreicher Projekte, die der von den Nazis gewünschten Architekturauffassung entsprechen.

Nach dem Krieg tritt er durch Veröffentlichungen zu den bayerischen Postbauten und zum baulichen Umgang mit kriegszerstörten Gebäuden hervor und veröffentlicht 1947 sogar einen Roman. Von 1951 bis 1967 bekleidet er das Amt des Stadtbaurats von Augsburg, wo er versucht die Stadt weiterzuentwickeln, ohne ihre geschichtliche Gewachsenheit zu zerstören.

"Ein Architekt geht über Feld" - Themen und Fragestellungen

Walther Schmidt veröffentlicht 1947 ein Lesebuch mit dem Titel "Ein Architekt geht über Feld".159 Nach der Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur, die auch die Architektur ideologisch vereinnahmt hatte, und nach den immensen Zerstörungen des Krieges wird hier zum ersten Mal wieder der Versuch unternommen, elementare Grundprinzipien für das Entwerfen zu formulieren. Das Buch ist nicht als Lehrmittel konzipiert, sondern wendet sich an alle, die mit dem Bauen zu tun haben und jetzt dringend verlässlicher Grundsätze für die Gestaltung bedürfen. Schmidt sucht den Ausgangsstandpunkt, "von dem aus bei den großen baulichen Aufgaben, (...) die Fragen der Gestaltung angegangen werden können."160 Dabei formuliert er schon in der Einleitung des Buches sein zentrales Anliegen in der Frage: " Lassen sich die im Widerspruch stehenden Prinzipien der Neuerung aus den Grundlagen heraus und der Beharrung im Gewordenen auf höherer Ebene zu einer Einheit zusammenführen?"161 Hiermit beschreibt er die Grundzüge einer Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne, die für die Nachkriegszeit der fünfziger Jahre kennzeichnend ist.

Der Stil des Buches ist erzählerisch, die Überschriften der einzelnen Kapitel sind oft poetisch gewählt ohne den Inhalt, für den sie stehen, zu entschlüsseln. In den einge-streuten Gedichten und der zuweilen poetischen Sprache versuchen sich Emotionali-tät und Empfindsamkeit Ausdruck zu verschaffen, die lange Jahre vermisst wurden, die aber auch in der Betonung des Individuellen die besondere Haltung Schmidts zum Entwerfen widerspiegelt. Ein stilistisch vergleichbares Beispiel dieser für ihre Zeit typischen Art der empfindsamen Architekturbetrachtungen ist ein schmaler Band mit dem Titel "Heitere Baukunst", den Hans Döllgast 1951 veröffentlicht. Schmidts Lehr-buch erhebt keinen wissenschaftlich-theoretischen Anspruch. Er verzichtet darauf, seine Ausführungen in einen architekturtheoretischen Kontext einzubinden. Er führt weder Autoren noch Werke an, die die Herausbildung seiner Haltung beeinflusst ha-ben und enthält sich jeglicher bibliographischer Verweise. Die erzählerische Form des Buches erschwert eine präzise inhaltliche Gliederung. Der Autor springt häufig bei der Behandlung seiner Themen und knüpft Verbindungen in die unterschiedlichsten

159 Walter Schmidt, Ein Architekt geht über Feld. Otto Maier Verlag, Ravensburg 1947

160 W. Schmidt, 1947, S. 7

161 W. Schmidt, 1947, S. 7

reiche der Architektur, die dann spontan zu selbstständigen Themen werden, ohne dass eine übergeordnete Gesamtvorstellung wirklich sichtbar wird.

Das Buch kann inhaltlich in die drei Themengruppen Grundlagen, Vorgang und Ge-genstand des Entwerfens, sowie Ausblick unterteilt werden. Zuerst versucht Schmidt, eine grundsätzliche Haltung zu bestimmen, die zu einer Basis von Entwurfs-entscheidungen werden kann. Die Frage nach einem "Ausgangs-Standort" für das Entwerfen untersucht er anhand der ländlichen, einfachen und anspruchslosen Bau-ten, die ihm zufolge "die Grundnote eines verläßlichen Menschentums in das Land-schaftsbild einführen".162 Er knüpft hier an seine schon in den dreißiger Jahren for-mulierte Kritik des fehlenden "baumeisterlichen Verstandes" in der avantgardisti-schen Moderne an. Er streicht die Bedeutung der Heimatschutzvereine163 gegen das schlechte Bauen heraus, kritisiert aber das Festhalten an erstarrten Traditionen und Formen. Denn "eine grundlegende Besserung wird nur zu erzielen sein, wenn den in den Grundströmungen unserer Zeit zutiefst ruhenden Prinzipien Rechnung getragen wird, die, soweit sie denen früherer Zeiten entgegengesetzt sind, auch entgegenge-setzte Wege erfordern."164 Schmidt versucht, den "Ausgangs-Standpunkt" für das Entwerfen im Ausgleich der Extreme zu erfassen.

Das zentrale Thema der Entwurfslehre zeigt sich im zweiten Teil des Buches in der Beschreibung des Entstehens eines Entwurfs und der wesentlichen Elemente des Bauens, die ihm zu Grunde liegen. Schmidt untersucht die Bedeutung der Idee für den Entwurfsprozess, ihre Fixierung in einem Plan sowie die Prinzipien der Konstruk-tion, der Komposition und der Proportion. Hier hinterfragt er auch die Bedeutung der Baustoffe und der Bautechnologie und setzt sich mit spezifischen Problemen wie der Behandlung von Treppen im Fassadenbild auseinander.

Im weiteren Verlauf seiner Abhandlung schließlich greift er den eingangs formulierten Gedanken des Ausgleichs wieder auf, in welchem eine zukünftige Vereinigung von Tradition und Moderne vorhergesagt wird. Hier beschäftigt ihn die Frage, inwieweit der von der unmittelbaren Realität des Wiederaufbaus erzwungene Pragmatismus regulierend wirkt. Er bemerkt dazu:

"Die Wirklichkeit wird dafür sorgen, daß nur Wiederherstellbares und selbst von diesem nur das Wichtigste wiederhergestellt wird. (...) Andererseits wird die Notwendigkeit meist auch einem radikal andersartigen Neubau der Städte entgegenstehen. Straßen, Ver-kehrswege, Tiefbauprojekte aller Art, die ja zumeist erhalten geblieben sind, stellen zu große Werte dar, als daß leichtfertig auf ihren weiteren Gebrauch verzichtet werden könnte."165

Trotz der Dringlichkeit und Größe der Probleme des Wiederaufbaus plädiert er für eine Architektur, die über die bloße Erfüllung eines Zwecks hinaus weist und "(...)

162 W. Schmidt, 1947, S. 9

163 1948 diskutiert Schmidt in einem Artikel die Bedeutung des Heimatschutzes. Er plädiert für eine Hei-matschutzbewegung, die nicht einseitig rückwärtsgewandt ist, sondern die Belange des Kontextes, der Region, der Geschichte und der Tradition in Entwurfsüberlegungen einbezieht.

Siehe: Walther Schmidt, Problematik des Heimatschutzes. In: Bauen und Wohnen, 1948, Heft 11, S. 294:

"Gerade im Zeichen dieser Vorstellung erscheint uns der Heimatschutz im Dienste des Lebens als sinnvoll:

seine Aufgabe wäre es, gerade angesichts des schnellen Tempos und der gefährlichen Stoßkraft der ge-genwärtigen Entwicklungen, zurückzuhalten, zu bremsen, allzu scharfe Ausschläge abzufangen, das Ge-wicht des Vergangenen in die Waagschale zu legen - alles zum Zweck, allzu radikale Veränderungen von Menschenhand aus einseitig überwuchernde Strebungen zu verhindern, in das Parallelogramm der Kräfte die Komponenten einzuführen, die das blind fortschreitende Leben nicht kennt, sondern, die dem Blick auf das Gewordene entsprechen, zur Ganzheit menschlichen Lebens und Wesens aber unerläßlich sind."

164 W. Schmidt, 1947, S. 18

165 W. Schmidt, 1947, S. 117

Wesentliches aussagt, Typisches, Allgemeingültiges; alles was Symbolcharakter be-sitzt (...)"166 mit einbezieht.

In "Ein Architekt geht über Feld" will Schmidt weniger ein fertiges Lehrkonzept vor-stellen als Reflexion und vorsichtige Formulierung eines Standpunktes anbieten.

Hierbei versucht er das für ihn Elementare des Entwerfens herauszuarbeiten. Das schöpferische Individuum, der ein Kunstwerk schaffende Architekt, ist dabei sein Ausgangspunkt. Er schreibt: "Jedes wahre Kunstwerk ist aus dem "Gefühl" als einer nicht mehr auflösbaren Synthese aller auf das Werk gerichteten lebendigen Kräfte des Schöpfers entstanden, in die Kräfte des Verstandes organisch mit hinein verwo-ben sind."167

Der Vorgang des Entwerfens in "Ein Architekt geht über Feld"

Bevor der eigentliche Entwurfsprozess untersucht wird, beschreibt Schmidt mit Hilfe einer chinesischen Parabel, welche von der handwerklichen Arbeit und Sorgfalt eines Bogenschnitzers erzählt, die richtige Einstellung des Architekten zum Entwerfen.

Können und Erfahrung sind selbstverständliche Voraussetzungen für das Schaffen eines Werkes. Noch wichtiger ist jedoch bedingungslose Verpflichtung der gestellten Aufgabe gegenüber und Befreiung von allen Nebensächlichkeiten. Der zentrale As-pekt im Verhältnis zwischen Architekt und Bauaufgabe ergibt sich aus dem "Zusam-menklang von Mensch und Stoff". Kein vorgefasster Formwille soll der Bauaufgabe aufgedrückt werden, sondern Material, Zweck und Landschaft sollen zu Quellen des Schöpferischen werden, wobei dem Material eine besondere Bedeutung zukommt.

Die Parabel thematisiert die absolute Verpflichtung des Schöpfers gegenüber seiner Aufgabe als Voraussetzung für das Entstehen eines Werkes. Eine Unterscheidung zwischen Künstler und Kunsthandwerker ist hier noch nicht getroffen, so dass der wesentliche Charakter der Zweckhaftigkeit architektonischen Handelns nicht im Wi-derspruch zur Zweckfreiheit des Kunstwerks steht. Schmidt kann das Gleichnis so auch auf seine Vorstellung des schöpferisch tätigen Künstler-Architekten übertragen.

An den Anfang des Entwurfsvorgangs stellt Schmidt die Idee. Idee meint hier nicht einen spontanen Einfall, sondern eine "geistige Vorstellung". Schmidt nennt dies den Zustand der "Schwebe", in welchem sich langsam konkreter werdende Vorstellungen des Raumes herausbilden. Er fordert, dass der geistige Prozess der Herausbildung einer Idee möglichst umfassend erfolgt, damit "sie sich den Anforderungen, die das weitere Durcharbeiten stellt, als gewachsen erweist."168 Seine Kernthese zeigt sich in dem Satz: "Der Architekt erziehe sich dazu, im Kopf zu entwerfen."169 Und er fügt hinzu: "Das Baumeisterliche, Handwerksnahe, Gewicht und Art der Baustoffe leben unmittelbar in einem im Kopf entstandenen Entwurf".170 Schmidt folgt hier ganz den Vorstellungen Friedrich Ostendorfs, ohne sich aber ausdrücklich auf ihn zu beziehen.

Für Ostendorf bildet die Idee als geistige Vorstellung den zentralen Kern des

166 W. Schmidt, 1947, S. 126

167 W. Schmidt, 1947, S. 21

168 W. Schmidt, 1947, S. 27

169 W. Schmidt, 1947, S. 27

170 W. Schmidt, 1947, S. 28

fens überhaupt. Entwerfen als "mit dem Geist erfassen" führt zum Postulat einer einfachen Architektur, denn nur das "Einfache und Gesetzmäßige" lässt sich als Idee klar ausdrücken.171 Für Schmidt liegen der Idee Formabsichten zu Grunde, die von überpersönlicher Art und in die jeweilige Kultur eingebettet sind. Dabei sollen Fragen des Materials, des Zwecks und der Konstruktion die schöpferischen Kräfte des Archi-tekten nicht dominieren, denn allein aus "kaltem Verstand, purer Berechnung" kann kein Kunstwerk entstehen.

In Schmidts Entwurfskonzept muss die Idee durch eine Fülle von Überlegungen rei-fen, erst dann darf sie zeichnerisch niedergelegt werden. Diese Auffassung grenzt sich vehement vom zeichnerischen Entwerfen ab, bei dem sich nach und nach in einer Unzahl von Überarbeitungsschritten durch das immer neue Einfügen zusätzli-cher Faktoren ein Entwurf herausschält. Im Gegensatz zum Entwerfen als Vorstel-lung, der ein Entwurfsziel implizit ist, verurteilt er das zeichnerische Entwerfen als einen tastenden Prozess, der nur durch das Werk gerechtfertigt werden kann, aber nicht selbst das Werk rechtfertigt.

Im Verweis auf das Schöpferische im Entwurfsprozess kommt der "Idee" eine beson-dere Bedeutung zu. Die Herausbildung der Idee nennt Schmidt an anbeson-derer Stelle seines Buches "die ungreifbaren Vorgänge"172 Dies kennzeichnet seine Haltung zum Entwerfen als einem nicht zu beschreibenden Phänomen, in dem sich seine Vorstel-lung vom Architekten als Künstler widerspiegelt.

Nach der sorgfältigen Entwicklung der Idee erfolgt dann die Durcharbeitung des Ent-wurfs. Ist die Idee richtig formuliert, so ist die Durcharbeitung nur noch ein techni-scher Prozess, der bestimmten Verfahren folgt und verschiedene Mittel zum Einsatz bringt. An erster Stelle steht die zeichnerische Niederlegung der geistigen Konzeption im Vorentwurf. Hier legt Schmidt besonderen Wert auf größtmögliche Präzision, da-mit in den folgenden Ausarbeitungsschritten genau auf den Vorentwurf Bezug ge-nommen werden kann. Die weitere Entwicklung des Entwurfs beschreibt er mit Ent-wurfs- und Ausführungsplanung in ihren jeweiligen Maßstäben. Er macht jedoch dar-auf dar-aufmerksam, dass diese Abfolge nicht einer zweckmäßigen Entwurfstechnik ent-spricht, da ein Wechsel zwischen den verschiedenen Maßstäben schon beim Vorent-wurf zur Klärung bestimmter Fragen, wie zum Beispiel der Fassade, erfolgen muss.

Im Gegensatz zum perspektivischen Skizzieren lehnt Schmidt das Modell als Ent-wurfsmittel ab, "weil es zu Bequemlichkeit führt und die Beurteilung eher auf das Niveau des "Geschmacks" abgleiten läßt."173 Als Mittel der Überprüfung von Ent-wurfsvorstellungen weist er der Perspektive in ihrer Messbarkeit der räumlichen Be-züge einen höheren Objektivitätsstatus zu. Die Darstellung eines Entwurfs im Modell hat eine Übersetzungsleistung zur Voraussetzung, die zu einer eigenen Realität wer-den kann. Außerdem hat das Betrachten eines Modell häufig eine Veränderung des Standpunktes des Betrachters zur Folge, wodurch der Gesamteindruck verfälscht wirken kann. Hier scheint sicherlich etwas von der persönlichen Entwurfsmethode Schmidts durch, der gewöhnlich ohne variantenreiche Umwege einen formulierten Baugedanken zu Papier bringt. Die räumliche Wirkung überprüft er in präzisen per-spektivischen Studien.174 Der knappen Behandlung des eigentlichen

171 F. Ostendorf, 1914, Bd. II, S. 129

172 W. Schmidt, 1947, S. 51

173 W. Schmidt, 1947, S. 34

174 F. Aicher / U. Drepper 1990, S. 182

gangs liegt die Auffassung von der Nichtbeschreibbarkeit und Nichtlehrbarkeit des schöpferischen Prozesses zu Grunde. Um so ausführlicher widmet sich Schmidt in den folgenden Kapiteln Ent-wurfsprinzipien, die den schöpferischen Prozess leiten sollen.

Entwurfsprinzipien Zweck, Konstruktion, Form

Gemäß seinem Anliegen einer grundsätzlichen Standortbestimmung beschreibt Schmidt in drei Kernsätzen die wesentlichen Elemente des Bauens, die die Entwick-lung von einer Idee zum Entwurf bestimmen. Sie betreffen den Zweck, die Konstruk-tion und die Form.

“Die erste Frage muß dem elementaren Sinn allen Bauens gelten. Die Antwort: Der Sinn allen Bauens ist Abtrennung eines Teilraums aus dem großen Erdenraum, als Gehäuse zur Ergänzung der Physis des Menschen." (...) Die zweite Frage gilt der Technik. Was ist alles Bauen, technisch gesehen? Die Antwort: Alles Bauen ist eine Auseinandersetzung mit der Schwerkraft. (...) Ein Drittes: "Die Antwort: Alles Bauen wird mitbestimmt durch Formab-sichten, vor allem auch überpersönlicher Art."175

Die Schutz- und Werkzeugfunktion benennt Schmidt als den wesentlichen Zweck des Bauens. Das Haus soll gleich einer "Prothese" den an sich unvollkommenen Men-schen ganz machen. Dieser Aspekt verweist auf den Zweck und Gebrauch des Ge-bäudes, ohne jedoch einen dezidiert funktionalistischen Ansatz zu implizieren. Der Begriff der Prothese deutet weniger auf die auszuführende Handlung hin, als dass er die Versehrtheit des Trägers herausstreicht. Für Schmidt ist der Zweck des Gebauten zuerst eine phänomenologische Kategorie, der als Schutz einen Daseinsmangel korri-giert.

In dem Kapitel "Das Unscheinbare" verweist Schmidt auf den Zusammenhang von Gestaltung und Funktion. Er wendet sich gegen eine "absolute Gestaltung" und plä-diert für das Ungestaltete und Unbeabsichtigte, das Unscheinbare. "Auch in unserer baulichen Umgebung, in unserem Haus, unserer Wohnung brauchen wir dieses Ele-ment des Unscheinbaren. Wir brauchen es als praktischen und seelischen Spiel-raum."176 Wohnen als Prozess der Aneignung von Raum vollzieht sich im Dialog der Persönlichkeit des Benutzers mit dem gestalteten Raum und nicht in der Effizienz einer funktionalen Spezifizierung. Die Voraussetzung für einen derartigen Dialog besteht darin, dass die Gestaltung dem Benutzer Platz zur eigenen Entfaltung und zur Veränderung ermöglicht. Schmidt führt hier das Beispiel eines Schuppens zum Selbstausbau an, der sich nach außen in einer absichtsvoll gestalteten Form auf den Kontext bezieht und im Inneren Möglichkeiten zur freien Entfaltung bietet. So un-scheinbar dieses Beispiel erscheinen mag, so weist es doch weit über seine Zeit hin-aus auf ein Entwurfsverständnis, das nicht auf Nutzungsdifferenzierung hin-ausgerichtet ist, sondern eine auf Gebrauch ausgerichtete Aneignung des Raumes in den Mittel-punkt rückt, wie sie später durch Aldo van Eyck und Herman Hertzberger mit dem Begriff der "Polyvalenz der architektonischen Form"177 beschrieben werden sollte.

Schmidt leitet die technischen, Konstruktion und Material betreffenden Fragen des Bauens aus der "Auseinandersetzung mit der Schwerkraft" ab. Im Erstellen der

175 W. Schmidt, 1947, S. 39-43

176 W. Schmidt, 1947, S. 101

177 Herman Hertzberger, Vom Bauen - Vorlesungen über Architektur. Aries Verlag, München 1995, S. 144 f. Zuerst: Lessons for Students in Architecture. Uitgeverij 010 Publishers, Rotterdam 1991