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3.4 Komposition als Ordnung der Form und als konstruktive Logik des Bauens - Entwurfslehren von 1990 - 2004

3.4.1 Zeitlicher Überblick - Das Gebäude als Kunstwerk und Handwerk

3.4 Komposition als Ordnung der Form und als konstruktive Logik des

nicht durch Differenzierung und Spezifikation gekennzeichnet, sondern liegt in der Integration unterschiedlicher Nutzungen, die vielfältige Handlungsmöglichkeiten er-öffnen. In Hertzbergers Lehrbuch spiegelt sich die soziale Funktion der Architektur in der Verwendung typologischer Modelle des öffentlichen Raumes wie Dorf, Straße oder Platz als Grundmuster des Entwurfs.

Throll kritisiert, dass der Lehrer innerhalb eines formalistischen und individuell-künstlerischen Entwurfsansatzes entweder zum nachahmenswerten Vorbild oder zum Moderator und Vermittler beliebiger Trends wird. Anatol Ginelli, der an der Techni-schen Universität Graz 'Baukunst' unterrichtet, verweist gerade auf die Verwandt-schaft von Architektur und Kunst, wenn er fragt: "Sind Kunst und Architektur jedoch überhaupt lehrbar?"432 In der Entwicklung eines Konzeptes sollen mit dem Ziel einer künstlerischen Architektur "indoktrinierte Erfahrungsmuster" überwunden werden.

Gerade in der Nutzlosigkeit der Architektur erkennt Ginelli den Kunstcharakter als ihr eigentliches Wesen, das nicht gelehrt, sondern nur durch Beispiel vorgelebt werden kann. Throll schlussfolgert aus seiner Kritik, dass die Architekturlehre sich um die wirklichen Planungsaufgaben kümmern muss, die er in der Ökologisierung des Bau-ens, der besseren Anpassung der Bauformen an menschliche Bedürfnisse und der Analyse ethnisch und regional verschiedenartiger Bauformen sieht. Seine soziologi-sche und ökologisoziologi-sche Ausrichtung und die Gleichsetzung von Gestaltung mit subjek-tiver Beliebigkeit erinnert an die Kritik künstlerischen Entwerfens in den sechziger Jahren und an die Forderung nach Verwissenschaftlichung der Lehre. Einer derartigen Kritik verbunden, fordert Throll, Entwerfen erneut als "forschende Planung" im Wis-senschaftsbetrieb zu verankern. Allerdings sieht er eine derartige Perspektive nicht in der Rückbesinnung auf das Architektonische und seine spezifische Sprache, wie sie Pierre von Meiss in seiner Entwurfslehre vorstellt, sondern in einer wiederum gestal-tungsfernen gesellschaftlichen Ausrichtung. Nach der Kritik an einer beliebigen, auf eine formal-ästhetische Auseinandersetzung reduzierten Gestaltung disqualifiziert er auch ein Entwerfen, das an technischen Erfordernissen ausgerichtet ist, wenn er bemerkt: "Bereiche, die das Entwerfen vorwiegend von den technischen Seite her angehen, gehören eigentlich nicht an die Universität, sondern an eine entsprechend aufgewertete Technische Fachhochschule.433 Obwohl diese Bemerkung sich zuerst gegen den "Architekten als Vertreter technischer Systeme" des industrialisierten und typisierten Bauens richtet, verkennt er das Potenzial der Erneuerung architektoni-scher Gestaltungsgrundlagen aus der Anschaulichkeit der technisch-konstruktiven Logik des Bauens.

Die Hinwendung zur Stadt und zu ihren räumlichen Grundmustern wird in dem Kon-zept der kritischen Rekonstruktion der internationalen Bauausstellung Berlin (IBA) in den achtziger Jahren deutlich. Die Stadtfeindlichkeit der Moderne, die in kontextver-neinenden und funktional organisierten Einzelobjekten ihren Ausdruck findet, wird durch Konzepte überwunden, in denen sich das Bauwerk der Stadtgestalt unterord-net. Mit der Diskussion des Begriffs der Tektonik wird seit Anfang der neunziger Jahre die formal-ästhetische Ausrichtung der Architektur hinterfragt und in der Folge auch der von der avantgardistischen Moderne ausgehende Zwang zu immerwähren-der kreativer Neuschöpfung kritisiert. Kreativ-schöpferisches Entwerfen soll nicht mehr aus der Originalität und Neuartigkeit eines Entwurfs und einer Bindung der Architektur an die Kunst ableitet werden, sondern aus seiner Handwerklichkeit und,

432 Anatol Ginelli, Entwerfen lehren - Entwerfen lernen. In: Baumeister, Heft 11, 1995, S. 16-18, S.16

433 M. Throll, 1995, S. 50

wie Hans Kollhoff, Berliner Architekt und Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich, bemerkt, aus dem schöpferischen Umgang mit den anscheinend widersprüchlichen Paaren "Erscheinung und Konstruktion, Kunst und Technik"434. Das durch die avantgardistische Moderne errichtete und bis heute wirksame Paradigma des Neuen wird zu Gunsten eines durch Handwerklichkeit legitimierten Konventio-nellen infrage gestellt. Für die Lehre des Entwerfens folgert Kollhoff weiter: "(...) so kann es heute nur darum gehen, den vermeintlichen Phantasieüberschuß in rationale Bahnen zu lenken, was nichts anderes heissen kann, als ihn dem Massstab der Über-lieferung zu stellen."435

3.4.2 Horst Ermel: "Grundlagen des Entwerfens" (1999 /2004) - Von abs-trakter Form und integrierter Funktion

Horst Ermel absolviert sein Architekturstudium an der Technischen Universität Darm-stadt. Nach seinem Diplom 1967 wird er 1974 an die Universität Kaiserslautern be-rufen, wo er den Lehrstuhl für Grundlagen des Entwerfens besetzt. 1981 gründet er mit Leopold Horinek das Architekturbüro ASPLAN, in welchem er bis heute wirkt. Das Büro zeichnet sich insbesondere durch Instituts- und Laborbauten für Universitäten aus. Einfache geometrische Baukörper, geprägt durch die Transparenz mehrfach strukturierter Stahl-Glasfassaden, kennzeichnen eine Gebrauchsarchitektur, die durch eine klare, rationale Formensprache Funktionalität und Machbarkeit ausdrückt.

Ausgehend von seiner Lehre der Grundlagen des Entwerfens an der Universität Kai-serslautern stellt Ermel die Prinzipien seines Unterrichts 1999 in dem Lehrbuch

"Grundlagen des Entwerfens - Gestaltungsmethodik"436 vor. Der Begriff der Struktur als systematische Zusammenfügung von Einzelelementen, die bestimmten Regeln folgt, bildet die Grundlage seiner Gestaltungsmethodik. In den Kapiteln "Raumfolge",

"Körper und Raum", "Gegliederter Körper und Innenraum" beschreibt er in der Art eines Kataloges Gestaltungsmerkmale, die er in Bezug auf den Raum von der Bewe-gung, in Bezug auf den Körper vom Zwischenraum und in Bezug auf den Innenraum von der Grenze ableitet. Das Gebäude wird als eine Folge von Räumen beschrieben, die durch Einzelräume und ihre jeweilige Beziehung (Kette, Band, Kreuz) gekenn-zeichnet ist. Dabei bilden Proportion, Abstand und Richtung, Schwerpunkt, Komposi-tion und Wegeführung wesentliche räumliche Merkmale ab. Die Ausführungen zum architektonischen Körper orientieren sich an seinem Verhältnis zur Umgebung. Der kontinuierliche Raum im rhythmischen Wechsel von Figur und Grund bildet das Grundmodell des Körper-Raum-Verhältnisses. Die Beziehung der Körper im Raum ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch ihre Lage sowie durch Größe, Form, Gliede-rung und Materialität der umschließenden Flächen. Ein besonderes Kapitel widmet Ermel dem Innenraum, seinem Innen-/Außen-Verhältnis und der Bewegung im Raum.

434 Hans Kollhoff, Der Mythos der Konstruktion und das Architektonische. In: Hans Kollhoff (Hrsg.), Über Tektonik in der Baukunst. Vieweg, Braunschweig / Wiesbaden 1993, S. 17

435 Hans Kollhoff, Architekturlehre Hans Kollhoff. Niggli Verlag, Sulgen-Zürich 2004, S. 13

436 Horst Ermel, Grundlagen des Entwerfens - Gestaltungsmethodik. Verlag Das Beispiel, Darmstadt 1999

Die knappen, reich bebilderten Textteile sind in fünf Kapitel zusammengefasst, denen jeweils eine Dokumentation von Studentenarbeiten aus den Jahren 1972-1998 an-gefügt ist. Den Kapitelinhalten entsprechend zeigen sie Arbeitsergebnisse zu Struk-tur, Raumfolge, Körper und Raum, gegliederter Körper sowie zum Innenraum. Sie besitzen den Charakter grundsätzlicher, abstrakt-räumlicher Untersuchungen zu bestimmten formal-gestalterischen Themen wie dem Erstellen einer systematischen Ordnung, und sie dienen dem Training gestalterischer Mittel im Vorfeld des Entwer-fens. Die Textpassagen enthalten bis auf vereinzelte Ausnahmen keinen Verweis auf ihre Quellen. Eine Literaturliste ist nicht angefügt. Die Texte werden durch Beispiele der klassischen Modernen Architektur u.a. von Le Corbusier, Rietfeld, Mies van der Rohe und durch Architekturen abstrakter und geometrischer Formen u.a. von Kahn, Ungers, Meier, Eisenman und durch Beispiele formaler Reduktion in der Architektur u.a. von Heerich, Ando, Chipperfield und Herzog & DeMeuron illustriert.

Obwohl von Anbeginn als mehrbändiges Werk geplant, dauert es bis 2004, bis der zweite Band mit dem Titel "Grundlagen des Entwerfens - Funktion"437 herausgegeben werden kann. Es erscheint ein Lehrwerk, das den Zusammenhang von Funktion und Gestaltung systematisch zu erfassen versucht. Bildet der erste Band die Arbeit im ersten Semester ab, so folgt der zweite Band mit den Kapiteln Basis, Ordnung, Kontext, Erschließung und Raum dem Thema Funktion, das im zweiten und dritten Semester den Schwerpunkt der Lehre bildet. Die kontextuellen Bedingungen und programmatischen Notwendigkeiten des architektonischen Raumes sollen einer aus-führlichen Untersuchung unterzogen werden. Das Lehrbuch beschreibt, welche Funktion ein Gebäude erfüllen muss und wie eine an Funktionen ausgerichtete Ord-nung erstellt werden kann. Wesentliche Strukturen der architektonischen OrdOrd-nung werden dabei durch die räumliche Organisation sowie durch kontextuelle Bezüge wie Topographie, Nachbarschaft oder soziale, gesetzliche oder symbolische Faktoren gebildet. Die Erschließung des Gebäudes und die Wegeführung in Bezug auf Ökono-mie, Flexibilität, Begegnung und Erlebnis und räumliche Faktoren wie der Innen-/Außenbezug treten hinzu. Im Gegensatz zum ersten Band verzichtet Ermel im zweiten auf eine Dokumentation von Studentenarbeiten. Dafür werden Beispiele der Architekturen Louis Kahns zur räumlichen Ordnung von Programmen, von Luigi Snozzi und Gion A. Caminada zur kontextuellen Einbindung, von Le Corbusier und Ben van Berkel zur Erschließung sowie von Rem Koolhaas zur räumlichen Umsetzung von Programm vorgestellt und analysiert.

Gestaltung im Vorfeld des Entwerfens

Schon im ersten Kapitel des ersten Bandes der Entwurfslehre Ermels wird deutlich, dass er seinen Unterricht in der Tradition der Bauhauspädagogik versteht. Die von ihm identifizierten Grundprinzipien des Bauhauses "Fläche, Körper, Raum" sollen durch die Klärung ihrer Beziehung weiter ausdifferenziert werden.438

Ermel stellt, wie Moholy-Nagy, den Begriff der Struktur an den Anfang seiner Aus-führungen, ohne jedoch dessen Übertragung auf den Entwurfsprozess näher zu be-gründen. Moholy-Nagy versteht unter Struktur "die unveränderbare Aufbauart des

437 Horst Ermel, Grundlagen des Entwerfens - Funktion. Verlag Das Beispiel, Darmstadt 2004

438 H. Ermel, 1999, S. 4

Materialgefüges".439 Ermel erweitert den Begriff, indem er die Strukturalismusdiskus-sion der sechziger und siebziger Jahre, die von den Sprachmodellen der Linguistik und den ethnologischen Studien Claude Levi-Strauss' ausgeht, wieder aufnimmt. Den prägenden Charakter einer Struktur sieht Ermel in der Art der Beziehungen, die ver-änderbare Elemente zueinander aufbauen. Im Entwerfen entsteht eine Ordnung, die eine besondere Beziehung zwischen räumlichen Elementen herstellt. Daraus folgt, dass Ermels Aufgabenstellungen zur Struktur keine Materialübungen zu sinnlich er-fahrbaren Eigenschaften sind, wie Moholy-Nagy sie formuliert hatte, sondern Unter-suchungen zu abstrakten Ordnungssystemen, die mit unterschiedlichen Elementen bestimmte räumliche Strukturen abbilden wollen. Die Bedeutung der Aufgaben liegt weniger im Herausarbeiten eines besonderen thematischen Ansatzes als in der Einar-beitung in eine konzeptionelle Denkweise, die die Beziehung von Teilen unter einem bestimmten Thema organisiert und damit einen beabsichtigten Ausdruck erzielt.440 Übertragen auf die Gestaltung entwickelt die Entwurfslehre Ermels ein Repertoire der formalen Merkmale des Räumlichen, die, zu Systemen zusammengefügt, räumliche Strukturen in Bezug auf einen im Entwurfskonzept bestimmten Ausdruck abbilden.

Ermel sieht seine Gestaltungslehre als eine vorbereitende Einführung in das Entwer-fen von Architektur. Analog der Vorkurspädagogik des Bauhauses trennt er zwischen Gestaltung und Entwerfen im Ausbildungsprozess, wie es in den meisten Studienplä-nen an deutschen Hochschulen vorgesehen ist.441 Allerdings macht er die allgemein abstrakten Gestaltungsgrundlagen zu einem wesentlichen Inhalt des Entwerfens selbst, indem er den architektonischen Raum auf die Beziehung abstrakter Formen reduziert, wie es Klee und Kandinsky in ihrem Unterricht gelehrt hatten, und wie sie es in den von ihnen publizierten Lehrmitteln für die Malerei darstellen. Im Gegensatz zur Bauhauslehre der zweiten und dritten Phase (Direktorat Meyer und Mies van der Rohe) finden in Ermels Lehrkonzept weder funktionale (siehe Unterricht von Hans Meyer) noch konstruktive Aspekte (siehe Unterricht von Josef Albers) Berücksichti-gung. Ermel entkoppelt die funktionale Ausrichtung der architektonischen Form von ihrer Gestaltung. Funktionale Aspekte werden erst in den nachfolgenden Semestern zu einem eigenen Thema. Es ist das erklärte Ziel des Autors, ein "nutzungsneutrales Gestaltungsprinzip" zur Grundlage des Entwerfens zu machen. Eine Diskussion des funktionalistischen Prinzips der Moderne, das die Entwurfslehren der sechziger und siebziger Jahre weiterentwickeln wollten und das die Entwurfslehren der achtziger Jahre durch die Rückbesinnung auf Entwerfen als Gestaltung überwanden, findet vorerst nicht statt. Die Entwurfslehre Ermels steht in der Tradition eines Raumver-ständnisses, das nicht den Raum nutzenden Menschen, sondern den Raum erleben-den Menschen in ihr Zentrum rückt, ohne jedoch ausdrücklich auf die Wahrneh-mungspychologie und das daraus abgeleitete phänomenologische, typologische und symbolische Raumverständnis zu verweisen. In der Entwurfslehre Meisenheimers führt der einer leibräumlichen Wahrnehmung eingeschriebene Bewegungscharakter zu einer Definition des Raumes als Handlungsraum, in welchem sich das Individuum seines Da-Seins immer wieder neu im Gebrauch des Raumes vergewissert. Ermel verweist auf August Schmarsow, der den Raum durch die Bewegung des Betrachters in Abhängigkeit vom menschlichen Körper, als eine Folge von Eindrücken, als

439 Laszlo Moholy-Nagy, 1968, S.33

440 H. Ermel, 1998, S. 23 ff.

441 Siehe: P. Liebl-Osborn, 2001, S. 66 ff.

nisraum beschreibt.442 Wie Schmarsow ist Ermel nicht an einer wissenschaftlichen Begründung von Gestaltung durch die Erkenntnisse der experimetellen Wahrneh-mungspsychologie interessiert, sondern an einem Erleben der Architektur als Raum-kunst.

Die Darstellung des Entwerfens konzentriert sich bei Ermel, gleich den Entwurfsleh-ren von Wagner, Wienands und Meisenheimer, auf den Ausschnitt der formalen Ges-taltung von Raum. In den "Grundlagen der GesGes-taltung" findet eine noch weiterge-hende Verengung statt, indem typologische Aspekte und Bedeutungsaspekte des Raumes weitgehend ausgeklammert werden. Reduziert auf die abstrakte Form geo-metrischer Körper vollzieht sich eine Annäherung an die Formprinzipien des Bauhau-ses, jetzt jedoch losgelöst von der Abhängigkeit gegenüber der Funktion. Folgerich-tig zeigt die Dokumentation der Studentenarbeiten abstrakte Formkompositionen, die ihre Legitimation durch die Originalität der räumlichen Inszenierungen aus Form, Oberfläche und Licht erhalten. Diese Inszenierungen verhalten sich bedeutungs-neutral und beziehen sich auf ihren Empfindungsgehalt, der sich zuerst durch die Formbeziehungen und die Beschaffenheit von Oberflächen mitteilen soll.443

In ihrer Bezugnahme auf die Bauhauspädagogik weisen die Entwurfslehren von Friedrich-Christian Wagner und Horst Ermel strukturelle Ähnlichkeiten auf. Beide Entwurfslehren verstehen sich als Vorschule zu einer allgemein gestalterischen Vor-bereitung auf das Entwerfen. Dabei sind für beide Entwurfslehren Kompositionsprin-zipien der Malerei und GestaltprinKompositionsprin-zipien der Plastik unter Ausblendung funktionaler und konstruktiver Entwurfsaspekte grundlegend. Die Weckung der Kreativität der Studierenden in Hinblick auf einen persönlichen Ausdruck mit dem Ziel der Originali-tät und Neuschöpfung steht im Mittelpunkt der Bauhauslehre von Johannes Itten.

Beide Entwurfslehren führen dieses, die avantgardistische Moderne auszeichnende Selbstverständnis fort. Wagner überträgt den kreativen Prozess vom Individuum auf die Gruppe. Die Dokumentation der Studentenarbeiten aus Ermels Unterricht zeigt das kreative Potenzial des schöpferisch tätigen Individuums. Sie beschreiben die an einem Konzept ausgerichteten Beziehungen abstrakt-räumlicher Elemente. Entwerfen soll hier nicht planungswissenschaftlich oder mit Hilfe der Wahrnehmungspsychologie begründet werden, sondern wird wieder zum künstlerischen Ausdruck. Der Entwerfer ist nicht Moderator technisch-industrieller oder gesellschaftlicher Anliegen. Er ver-mittelt auch nicht Identität durch die Ausrichtung des Entwerfens auf die formal-ästhetische Erzeugung von Gestaltganzheit. Der Entwerfer versteht sich als Regisseur abstrakter Formen zur Inszenierung eines Erlebnisses, dessen Qualität in seiner Ori-ginalität zu bestehen scheint.

Versucht Wagner in seinem morphologischen Modell die bildnerischen Mittel des Bau-hauses weiterzuentwickeln, indem er Punkt, Linie und Fläche um die leibräumlichen Phänomene Raum, Zeit, Licht und Schall ergänzt,444 so ist Ermel zuerst an der Bezie-hung der abstrakten Formen interessiert, die ein räumliches Erleben hervorrufen.

Wagners phänomenologische Betrachtung des Entwerfens führt zu archetypisch be-gründeten Akten der Raumbildung wie Aufhäufen, Aufrichten oder Abgrenzen und zu daraus abgeleiteten Raumtypen. Ermel zeigt in Bezug auf den Ort auch archetypische Strukturen, wie die Abgrenzung eines Gebietes als Initial für die Bildung von

442 H. Ermel, 1999, S.28

443 H. Ermel, 1999, S.93

444 F.-Chr. Wagner, 1981, S. 30

gen auf, wie sie auch Norbergs-Schulz anführt.445 Dennoch ist für ihn die Aussage einer Form zuerst nicht psychologisch oder archetypisch begründet. Er bemerkt dazu:

"Körperaussage ist eine Konvention über die Bedeutung der genannten Gestalt- und Wesensmerkmale. Diese Übereinkunft ist von kulturellen und sozialen Systemen abhängig und kann deshalb nicht isoliert betrachtet werden."446 In der Weiterent-wicklung der Bauhaus Grundprinzipien Fläche, Körper und Raum beschränkt er sich daher auf die Beziehung abstrakter Formen und einem durch Bewegung hervorgeru-fenen räumlichen Erleben.

Formale Abstraktion und sinnliches Erleben

Ermel beschreibt die architektonischen Formen anhand der einfachen, regelmäßigen Körper, die durch Extrusion oder Rotation aus den elementaren Umrissen Kreis, Drei-eck und Quadrat gebildet werden. In seiner Darstellung der Wirkung dieser Körper als eine Folge ihrer Lagerhaftigkeit in Abhängigkeit von Richtung und Stabiltät zeigt sich trotz der informationstheoretischen Ausrichtung seines Entwurfsansatzes ein leibräumliches Wahrnehmungsmuster. Die geometrischen Körper sollen innerhalb eines architektonischen Gefüges entsprechend ihrer Wirkung im Raum eingesetzt werden. In seiner Entwurfslehre spricht Ermel nicht von Gestaltungsmitteln, die beim Entwerfen Anwendung finden, sondern von Merkmalen der Gestalt, die im Entwurfs-prozess herausgearbeitet werden. Als Gestaltmerkmale eines Körpers nennt er neben Materialität und Oberfläche die Proportionen mit dem Goldenen Schnitt und dem Modulor Le Corbusiers, Schwerpunkt und Symmetrie sowie die Gliederungseigen-schaften Teilung, Hinzufügung, Wegnahme, Reihung, Knickung und Faltung.447 Ermel stellt keinen direkten Bezug zur Gestalttheorie und dem Entwurfsziel Gestaltganzheit her, wie es für die Entwurfslehren der achtziger Jahre typisch gewesen ist. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass sich eine entsprechende Beschreibung von Gestaltmerkmalen in ähnlicher Form, aber in unterschiedlicher Ausführlichkeit auch in den Entwurfslehren von Döring, Wagner, Wienands und Meisenheimer findet. Wie-nands spricht hier von Ordnungshilfen und Handlungsmöglichkeiten beim Gestalten.

Meisenheimer überschreibt ein entsprechendes Kapitel mit "Gliederung - Innere Ord-nung und Teilungen von Körpern und Räumen".448 Es wird deutlich, dass die Geo-metrie abstrakter, geometrischer Körper und ihre Anordnung zu einer allgemeingülti-gen Grundlage für die Komposition von Formen geworden ist. Der differenzierten, wahrnehmungspsychologischen Interpretation in den Entwurfslehren von Wagner, Wienands und Meisenheimer stellt Ermel ein allgemeines Empfinden der Formen entgegen, das er mit Adjektiven wie aggressiv, umgreifend, sich öffnend, überla-gernd oder ich-bezogen bezeichnet.449

Wie Meisenheimer definiert auch Ermel den architektonischen Raum in Abhängigkeit von der menschlichen Wahrnehmung als Ort- Wegraum. Er bemerkt: "Die menschli-che Wahrnehmung ist stets eine Folge aus Eindrücken und Bildern, wesentlich ist also der Zusammenhang der Räume, die aufeinander folgen, einander zugeordnet

445 H. Ermel, 1999, S. 29

446 H. Ermel, 1999, S. 94

447 H. Ermel, 1999, S. 84 ff.

448 W. Meisenheimer, 1988, Inhaltsverzeichnis

449 H. Ermel, 1999, S. 94 f.

sind."450 Ort- und Wegräume sollen in überschaubarer, nachvollziehbarer Form in den Kategorien Kette, Band und Kreuz verknüpft werden. Hierbei bezeichnet Kette eine direkte Aneinanderreihung von Räumen, Band eine Folge von Orträumen, die durch ein Wegelement miteinander verbunden sind, und Raumkreuz eine kompakte Organi-sation um ein Zentrum. Als Gestaltungsmerkmale werden u.a. Proportion, Abstand, Richtung und Schwerpunkt genannt. Bei der Anordnung von Raumfolgen bildet die Wegeführung das entscheidende Mittel zur Orientierung. Hierbei sind Elemente mit Leitfunktion wie Wandscheiben, die Einführung von Gelenken als funktionale oder räumliche Ausbildung von Punkten, an denen die Richtung einer Wegeführung sich verändert, die Art, Lage und Größe von Raumöffnungen und der Rhythmus der räumlichen Sequenz entscheidend. Für Meisenheimer ist der topologische Raum als Ort-Wegeraum durch die Bewegung in einer Zeit gekennzeichnet. Aus der Bewegung leitet er die Vorstellung vom architektonischen Raum als Handlungsraum ab.451 Der funktionale Charakter von Bewegung und Handlung bildet im zweiten Band von Er-mels "Grundlagen des Entwerfens" die Basis für eine Beschreibung des funktionalen Raumes als Handlung ermöglichenden Raum.

Die Beziehung zwischen Körper und Raum beschreibt Ermel mit dem Figur-Grund-Phänomen, das die Gleichzeitigkeit von Masse und Volumen, Objekt und Umraum in Architekturen zum Ausdruck bringt. Hier bildet der Raum ein Kontinuum sich ent-sprechender Positiv-Negativ-Beziehungen. Wie in den Entwurfslehren der achtziger Jahre, ausgehend von Slutzky, Rowe und Hoesli, wird der architektonische Raum zu einem permanenten Zwischenraum in Abhängigkeit von der jeweiligen Innen- und Außenwahrnehmung. Ermel betont aber auch die Köperhaftigkeit der räumlichen Beziehungen, wenn er das Verhältnis zwischen Körper und Raum analog zu Pierre von Meiss mit dem Kraftfeldmodell beschreibt.452 Nach Ermel bezeichnen die Kraftfel-der "die wahrnehmbare Tendenz eines Körpers, seine Richtung und Ausprägung fort-zusetzen und zu verstärken".453 Dieses Modell weist dem Körper als Objekt eine grö-ßere Bedeutung zu. Der Körper löst sich nicht im Zwischenraum auf, sondern bleibt Körper im Kontext mit anderen Körpern (vgl. Akropolis), die in Abhängigkeit von Dimension und Lage die Dichte des Raumes definieren. Die Strahlkraft des Körpers kann hier auch so stark sein, dass er als Objekt ein Feld beherrscht und den Zwi-schenraum in den Hintergrund treten lässt.

Die Konzentration auf die Beziehung abstrakt-geometrischer Formen, auf das Erleben räumlicher Zusammenhänge, Materialien und Oberflächen durch ihren sinnlichen Ausdrucksgehalt führt, wie die Dokumentation der Übungen in der Entwurfslehre zeigt, zu einer formalen Reduktion der Architektur. Der formale Gestaltungsansatz Ermels verweist auf den Minimalismus454 in der Architektur, der versucht, den Raum auf das Wesentliche zu reduzieren. Der englische Architekt John Pawson beschreibt dieses Wesentliche des Raumes: "Es geht dabei um die Schaffung von Räumen, um Bewegung, Kompression, Freisetzung, Proportion, Größenordnungen und Licht und um die schiere Physikalität der Raumschaffung."455 Das Bemühen um Reduktion zeigt

450 H. Ermel, 1999, S. 34

451 W. Meisenheimer, 1988, Exkurs 1.14

452 P. v. Meiss, 1993, S. 38

453 H. Ermel, 1999. S. 63

454 Siehe: Anatxu Zabalbeascoa, Javier Rodriguez Marcos, Minimalisms. Gustavo Gili, Barcelona 2000, S. 9: "In effect, in an era dripping with images, forms and sounds, to reduce, purge or filter ends up being the most eloquent gesture. When absence can be the most emphatic form of presence, stopping doing something manages to become a positive gesture."

455 John Pawson, Minimum. Ginko Press, Hamburg 1998, S. 17