Drei systemtheoretische Perspektiven
1. Zur historischen und funktionalen Bedeutung des Klein
staats: Drei induktive Generalisierungen 1.1 Der Kleinstaat als überhistorisches Universalphänomen
Als erste induktive Verallgemeinerung drängt sich fast gebieterisch die Fest
stellung auf, dass der "Kleinstaat" ein über die Geschichte hinweg äusserst invariantes Phänomen darstellt, weil es schon seit den frühesten Zeiten poli
tischer Organisation bis heute immer neben grösseren politischen Gebilden auch kleine und kleinste Staaten gegeben hat, die mit ihren mächtigeren Nachbarn durchaus in Beziehungen stabiler Koexistenz und funktionaler Komplementarität gestanden haben.
Und noch weiter gehend darf man behaupten, dass Kleinstaaten hin
sichtlich der meisten Kriterien, an denen man den Erfolg einer Gesellschaft misst, eine durchaus sehenswerte Bilanz aufweisen.
Ihre Chancen beispielsweise, langfristig bestehen zu bleiben und ihre Autonomie zu wahren, sind keinesfalls unterdurchschnittlich (vgl. z. B. Fox 1959; Ralston 1969). Sicher verfügen grössere Länder über mehr Kapazitä
ten zur Bewältigung äusserer Gefahren; aber diese Vorteile werden häufig genug (über-)kompensiert durch den erhöhten Aufwand, den sie zur Siche
rung des inneren Zusammenhalts oder zur Bewältigung ihrer aussenpoliti-schen Abenteuer aufbringen müssen. ;
Auch dass Kleinstaaten ihrer äusseren Umwelt abhängiger und verletzli
cher gegenüberstünden, lässt sich nicht ohne weiteres behaupten. Denn gerade dank ihrer Kleinheit sind sie oft besser als Grossstaaten in der Lage, unauffällig ihre eigenen Politiken zu betreiben und sich mittels einer hohen Diversifikation und Flexibilität ihrer Aussenbeziehungen erstaunlich weit
gehende Autonomiespielräume zu sichern (vgl. z.B. Vogel 1983: 67).
Uber-dies haben sie häufig geographische Nischen besetzt, die dank ihrer Unat-traktivität und/oder schwierigen Zugänglichkeit Schutz vor Fremdherr
schaft geboten haben.
Schliesslich hängen auch die Chancen der sozioökonomischen Entwick
lung, der technischen Innovation oder der kulturellen Entfaltung nach allen heute vorliegenden Kenntnissen nicht wesentlich mit der Bevölkerungs-grösse oder der Ausdehnung des staatlichen Territoriums zusammen. Wenn man heute beispielsweise beliebige In dikatoren des Entwicklungsniveaus mit der Staatsgrösse korreliert, sind die resultierenden statistischen Bezie
hungen alle sehr geringfügig oder gleich null (vgl. z.B. Dahl/Tufte 1973:19;
Skuhra 1983: 74).
Angesichts der neuesten Proliferation von Kleinstaaten (in der Dritten Welt sowie im postsozialistischen Raum) einerseits und den ambitiösen supranationalen Einigungsprozessen einer Europäischen Gemeinschaft andererseits ist die Feststellung wichtig, dass es auf zwec krational-utilitärer Ebene kaum überzeugende Argumente gibt, die zur Befürwortung oder Ablehnung derartiger Entwicklungen verwendet werden könnten.
Umso stärker werden Diskussionen über das Für und Wider kleiner Staaten von wertrationalen und emotionalen Argumentationen beherrscht:
etwa von der Sehnsucht verschiedenster Ethnien, im Medium der National
staatlichkeit ihre partikuläre kulturelle Identität zu artikulieren oder von der idealistischen Hoffnung, im Rahmen supranationaler Staatlichkeit eine bis
her entbehrte Solidaritäts- und Friedensordnung zu realisieren.
Vieles spricht dafür, dass eine militärisch befriedete Welt mehr denn je eine Welt der Kleinstaaten sein würde: weil das Motiv wegfällt, zum Zwecke erfolgreicher Kriegsführung weitreichende Allianzen zu bilden und als Resultat von Eroberungen verschiedene Ethnien in denselben politi
schen Staatsverband zu integrieren.
1.2 Der Kleinstaat als" Modellstaat"
Mit auffallender Regelmässigkeit sind kleine Staaten in verschiedensten historischen Epochen immer wieder in den Rang von "Modellstaaten"
erhoben worden, denen man nachsagte, dass es ihnen besonders gut gelun
gen sei, bestimmte - allgemein erwünschte und angestrebte - gesellschaftli
che Zustände oder Formen politisch-sozialer Organisation approximativ zu realisieren.
So galt das antike Athen beispielsweise nicht bloss für Plato und Aristote
les, sondern auch noch für Montesquieu, für Jakob Burckhardt und für
Hannah Arendt als beispielhafter Prototyp für politische Demokratie. Bis weit ins 18. Jahrhundert blieb man der Auffassung der griechischen Philo
sophen treu, dass sich wahre Demokratie nur in einem eng begrenzten Gemeinwesen von optimal ungefähr 5000 Bürgern realisieren liesse, die sich alle zur selben Zeit auf demselben Beratungs- und Entscheidungsplatz ver
sammeln könnten. • .
Erst Madison hat die Amerikaner, die als erste gleichzeitig sehr gross und sehr demokratisch sein wollten, von ihren quälenden Selbstzweifeln erlöst:
indem er darauf hinwies, dass grosse Staaten dank der höheren Kompetiti-vität verschiedener Gruppierungen viel weniger als Kleinstaaten Gefahr lie
fen, zum Spielball pri vater Interessen zu werden. Im weiteren haben die Amerikaner sich aber ein vielleicht allzu gutes "politisches Gewissen" verr schafft, indem sie - unter dem Einfluss von Schumpeter, Schlesinger und anderen - eine am Prinzip der Kompettfivität festmachende Demokratie
theorie entwickelt haben, die auf Grossstaaten tatsächlich bessere Anwen
dung als auf. die Kleinstaaten - in denen oft "Konkordanzpolitik" vor
herrscht - findet (vgl. z.B. Dahl/Tufte 1973: passim).
Venedig und Genua als .vielbeneidete und oft erfolglos kopierte Handels
staaten, die föderalistische Schweiz als "Modell Europas", Schweden als Prototyp des voll ausgebauten Wohlfahrtsstaats, Singapur als ein auf ga nz Asien ausstrahlender Modellfall erfolgreicher ökonomischer. Entwicklung und politischer Binnenstabilisierung - sie alle illustrieren die Regularität, dass grössere Länder häufig auf Kleinstaaten hinblicken, um ihren eigenen zukünftigen Entwicklungsweg zu konkretisieren und ihnen dadurch zu einer weltgeschichtlichen Bedeutung verhelfen, die zu ihrem geringen poli-tisch-militärischen Gewicht im krassen Missverhältnis steht.
Die Gründe dafür liegen zum einen wohl einfach darin, dass kleine Staa
ten dank ihrer grösseren Anzahl allein aus statistischen Gründen eine grös
sere Bandbreite verschiedener Strukturformen und Entwicklungsstrategien realisieren, unter denen dann auch einige wenige eine ungeteilt positive Beachtung verdienen. Die unvermeidliche Kehrseite dieser selben Regula
rität besteht dann darin, dass man im Bereich kleiner Staaten auch prototy
pische Beispiele von besonders krass missglückten sozio-politischen Zuständen und Entwicklungen findet: Fälle wie Libanon, Kambodscha, Haiti oder Albanien, die als Negativmodelle zu vermeidender Entwicklun
gen internationale Beachtung finden.
Zum zweiten ist die Funktion des Kleinstaats als Prototyp wohl darin begründet, dass neuartige Modelle politisch-sozietaler Organisation nahe
liegenderweise zuerst im Kleinen (wo der erforderliche Innovationsauf
wand relativ gering ist und die Misserfolgsrisiken noch relativ gut tragbar sind) exploriert und erprobt werden, bevor sie dann in umfassenderen Ter
ritorien verankert werden oder gar weltweit diffundieren.
So haben die antiken griechischen Stadtrepubliken jenen "variety pool"
aus politisch-rechtlichen Strukturen und kulturellen Innovationen erzeugt, aus denen dann z. B. das IMPERIUM ROMANUM die "erfolgreichsten"
Varianten auswählen konnte (vgl. z.B. Gladden 1972: 73); und die fragmen
tierte alteuropäische Staatenwelt hat in ähnlich fruchtbarer Weise Innova
tionen generiert, die neuerdings von den USA und Japan auf ein noch höhe
res N iveau der Institutionalisierung und Perfektion gehoben werden (vgl.
z.B. Ben-David 1973).
• Dies erinnert an die in der Organisationssoziolögie bekannte Erschei
nung, dass bei der Genese neuer Produktmärkte oder Branchenzweige zuerst zahlreiche kleine Anbieter auf dem Markt erscheinen ("r-selection"), während in späteren Phasen einige w enige Grossproduzenten ("K-selec-tion") das Feld beherrschen (vgl. z. B. Brittain/Freeman 1980).
Man mag aus diesen Überlegungen beispielsweise ableiten, dass der Zer
fall der postsozialistischen Welt in zahlreiche Kleinstaaten eine durchaus funktionale Erscheinung darstellt. Denn weil es für das Überwechseln vom Staatssozialismus zur Marktwirtschaft bislang keine bewährten Erfolgsre
zepte gibt, ist es am ratsamsten, dass viele Staaten unabhängig voneinander ihre je eigenen' Wege beschreiten: so dass wenigstens einer von ihnen viel
leicht "zufällig" jenen chancenreichsten Weg findet, der sich dann als modellhaft für andere erweist.
1.3 Der Kleinstaat als (unfreiwilliger) Pionierstaat
Als dritte - vielleicht bisher am wenigsten bekannte - empirische Verall
gemeinerung könnte man formulieren, dass Kleinstaaten immer wieder dazu gezwungen sind, eine P ionierrolle zu übernehmen, weil sie als erste mit gewissen neuartigen Problemen konfrontiert werden, die bei grösseren Ländern erst in späteren gesellschaftlichen Entwicklungsphasen bedeutsam werden.
1) Lange vor dem heute üblichen globalen Reiseverkehr waren die Bewoh
ner der kleinen Handelsstaaten die ersten, die mit Angehörigen fremder Kulturen und Religionen alltäglichen Umgang hatten. Dadurch wurden sie zur Herausbildung jener universalistischen Normen der Toleranz
und Verständigung gezwungen, die heute zum allgemeinen Bestand der
"Weltzivilisation" gehören."'
2) Länge vor der Entfaltung des modernen weltweiten Handelsverkehrs haben die Kleinstaaten als erste erfahren, was es bedeutet, unentbehrlich
ste Güter des täglichen Gebrauchs aus fremden Stäaten importieren zu müssen, weil man sie nicht innerhalb eigener Grenzen herstellen kann.
Entsprechend frühzeitig haben sie ein Interesse an der Etablierung und Sicherung zwischenstaatlicher Verträge und völkerrechtlicher. Normen gewonnen, die für regularisierte ökonomische Austauschbeziehungen die notwendige Voraussetzung bilden.
3) Lange bevor es Atomsprengsätze und Fernlenkwaffen gab, mussten die Bewohner sehr kleiner Staaten schon mit der Tatsache zurechtkommen, in einem militärisch verwundbaren, von den Waffen des Feindes jeder^
zeit erreichbaren Territorium zu leben und einen externen Angriff als
"totalen Krieg" zu erfahren, der alle öffentlichen und privaten Ressour
cen bindet und das Uberleben des gesamten Staatswesens bedroht.
So haben sie viel früher als grössere Staaten gelernt, dass militärische Expansiorisstrategien einerseits keine brauchbare Option darstellen und dass es andererseits sehr viel attraktivere Wege staatlicher Selbstbehaup
tung (z. B. mittels der Kontrolle von Handels- und Finanztransaktionen) gibt.
4) D en Kleinstaaten war immer die Vorstellung geläufig, dass "staatliche Souveränität" etwas höchst Relatives darstellt, das im Austausch für äus
sere Sicherheit oder attraktive Tauschbeziehungen partiell zur Disposi
tion gestellt werden muss. Dementsprechend fällt ihnen der Eintritt in ' supranationale Staatengemeinschaften wie die EG eher leichter als grös
seren Staaten, die von ihrem (in der absolutistischen Ära fixierten) Kon
zept ungeteilter nationaler Souveränität Abschied nehmen müssen (vgl.
z.B. Waschkuhn 1990).
So ergibt sich das Paradox, dass Kleinstaaten aus Gründen der, Integration und Identitätserhaltung einerseits meist eine ausgeprägte Traditionalität aufrechterhalten (vgl. 2.3), zur Bewältigung ihrer Adaptationsprobleme andererseits aber zu ausgesprochen modernen Entwicklungen hingedrängt
Bezeichnenderweise ist beispielsweise auch das Fremdarbeiterproblem in der Schweiz bereits sehr, frühzeitig (Anfang der 70er Jahre) politisch akut geworden, während es in den grösseren Ländern Westeuropas (z.B. BRD, Frankreich und Grossbritannien) erst jetzt an Bedeutung gewinnt.
werden, die häufig erst mit Verzögerung von grösseren Staaten nachvollzo
gen werden.
Es mag dahingestellt bleiben, inwiefern es sinnvoll ist, von einer "Helve-tisierung Europas" (Denis de Rougemont) zu sprechen oder neuerdings auch die "Liechtensteinisierung der Schweiz" (vgl. z.B. Frei 1991) zu dia
gnostizieren.
Die soziologische Beschäftigung mit dem Phänomen der Kleinstaatlich
keit gewinnt aber sehr wohl ein zusätzliches Interesse angesichts der Aus
sicht, dabei etwas über die Zukunft grösserer Staaten zu lernen (vgl. z.B.
Katzenstein 1985:21f., 200ff.).
2. Drei systemtheoretische Modelle des Kleinstaats