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Der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates

I. Problem, Aktualität, Aufgaben und Chancen der Verfassungslehre in Sachen Kleinstaat

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Die Verfassungslehre als Wissenschaft vom Typus "Verfassungsstaat" hat heute aus vielen Gründen in Sachen Kleinstaat besondere Aufgaben und Chancen. Ihr obliegt es, den Kleinstaat in der ganzen Bandbreite seiner viel­

fältigen Erscheinungsformen zu erforschen und ihn in das Koordinaten­

system des Verfassungsstaates ebenso zu integrieren wie dies etwa bei den Entwicklungsländern dank der Aufdeckung ihrer schöpferischen Beiträge zur weltweiten Textstufendifferenzierung möglich ist.' Dabei hat die Ver­

fassungslehre sensibel zu werden für besondere Bereicherungen und Mög­

lichkeiten, die der Kleinstaat dem Verfassungsstaat insgesamt in dessen

"Weltstunde" heute vermittelt. Eine demokratische Verfassungslehre, die den Kleinstaat einfach überginge, wäre ebenso unvollständig wie wenn sie den Föderalismus, die Regionen oder die Entwicklungsländer ausliesse. Der Kleinstaat liefert, zumal in einem "Europa der Regionen", aber auch überall dort, wo es zu staatenübergreifenden Regionalstrukturen kommt, schöpfe­

rische Beiträge für die Lehre vom Verfassungsstaat. Der Kleinstaat ist eine wachsende Herausforderung für die Verfassungslehre, die hier freilich nur skizziert werden kann. Er gibt ihr aber auch eine grosse Chance der Bewährung besonders in Europa. In der einen, immer enger zusammen­

rückenden Welt von heute werden die "Grossstaaten" kleiner und die Kleinstaaten grösser.

Ein Wort zur Offenlegung von " Vorverständnis und Methodenwahl*:

Zugrundegelegt wird hier ein Verständnis der Verfassungslehre als juristi­

scher Text- und Kulturwissenschaft. Verfassungslehre hat den Typus ver­

fassungsstaatliche Verfassung zum Gegenstand; er basiert auf der Men­

schenwürde als kulturanthropologischer Prämisse u nd hat, darauf aufbau­

end, die freiheitliche Demokratie zur organisatorischen Ko nsequenz. Ele­

1 Dazu P. Häberle. Die Entwicklungsländer im Prozess der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, VRÜ (23), 1990, S. 225 ff.

mente sind die Menschen- und Bürgerrechte, das Prinzip des sozialen Rechtsstaates und des Kulturstaates (darin bestimmte Gemeinwohlaufga­

ben), die Gewaltenteilung im engeren (staatlichen) und weiteren (gesell­

schaftlichen) Sinne, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Parteienvielfalt und die Oppositionsfreiheit etc.2

"Juristische Text- und Kulturwissenschaft" ist die mit diesem Vortrag den Kleinstaat integrierende Verfassungslehre aus folgenden Gründen: Konsti­

tuierend sind die Verfassungstexte im engeren Sinne, also die "positiven"

juristischen Texte der geschriebenen Verfassung, aber auch die sog. unge­

schriebenen Verfassungssätze, Verfassungsprinzipien, allgemeinen Rechts­

grundsätze bis hin zur Möglichkeit und Wirklichkeit "gemeineuropäischen Verfassungsrechts"3. Konstituierend für den Typus Verfassungsstaat sind überdies die Verfassungstexte im weiteren Sinne: die Klassikertexte eines /. Locke und Montesquieu, einesJ.-J. Rousseau und I. Kant - sie lesen wir ja immer mit, wenn wir verfassungsjuristisch arbeiten. Sie bilden den intensiv­

sten kulturellen Kontext, in dem die Verfassungsnormen stehen bzw. dank dem sie wirken. "Verfassung" wird also weit verstanden. Mit bloss juristi­

schen Umschreibungen, Texten, Prinzipien und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von die­

sen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren - sie wirkt wesent­

lich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger; Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives "Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulture llen Erbes und Funda­

ment seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfas­

sungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kultu­

relle (Re-)Produktion und Rezeption sowie Speicher von überkommenen kulturellen Informationen, Erfahrungen, Ergebnissen, Weisheiten. Entspre­

chend tiefer liegt ihre - kulturelle - Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von //. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei

"geprägte Form, die lebend sich entwickelt".

2 Einzelheiten in meinen Studien: Verfassungslehre als Ku lturwissenschaft, 1982; Die Men­

schenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HdBStR Bd. I (1987), S. 815 ff.

3 Dazu P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. - Dabei kann es auch subtile Formen geben: so wenn vier der ungarischen Verfassungsrichter der­

zeit (1991) Humboldt-Stipendiaten sind (FAZ vom 11. Sept. 1991, S. 2), wodurch sie das deutsche Verfassungsrecht besonders studiert haben.

Ein Wort zur aTextstufenanalyse". Sie b esteht in einem Vergleich d er Verfassungstexte im engeren Sinne in Raum und Zeit und arbeitet den Tex­

ten entlang historisch k omparatistisch und zeitgenössisch kom paratistisch.

Da die Verfassungstextgeber heute in einem weltweiten Produktions- und Rezeptionszusammenhang wirken und voneinander schöpferisch

"abschreiben", kommt ein Stück der sich zu, neben oder mitunter sogar gegen die Texte entwickelnder Verfassungswirklichkeit samt politischem Prozess, Verfassungsgewohnheitsrecht, richterlichen Entscheidungen • im Laufe der Zeit immer mit ins Bild. Sie wird ganz oder doch zu einem Teil von den jüngeren, je nationa len Verfassunggebern auf den Begriff bz w. auf den Verfassungstext gebracht. Das lässt sich an vielen Beispielen belegen:

etwa an Medienartikeln, an der textlichen Neufassung von Grundrechtsga­

rantien, die die aktuellen Entwicklungen der Dogmatik und Rechtspre­

chung in Texte umgiessen, oder an Artikeln zu den politischen Parteien und zur demokratischen Opposition.4 Sie alle belegen, wie sehr Verfassungs­

wirklichkeit in die Textstufenentwicklung eingeht.

Diese intensiv vergleichende Vorarbeit jeder heutigen Verfassunggebung hat ihre Entsprechung im Prozess der Verfassurigsinterpretation. M. E. ist angesichts der universalen Kraft des Verfassungsstaates unserer Zeit der tra­

ditionelle Methodenkanon zu erweitern. Nach Savignys klassischen vier Auslegungsmethoden ist die Rechtsvergleichung als "fünfte" zu inthroni­

sieren und zu integrieren. Der Verfassungsinterpret hat von vornherein auch rechtsvergleichend vorzugehen.5 Das gilt in Europa vor allem für den Grundrechtsbereich. Diese spezifische Offenheit nach aussen, Merkmal des

"kooperativen Verfassungsstaates", kennzeichnet , alle Verfassungsstaaten.

Sie haben besonders in jüngerer Zeit schon viele Instrumente und Verfahren der Öffnung entwickelt, etwa im textlichen Verweis auf internationale und universale Menschenrechtspakte, in der Übernahme völkerrechtlicher Ver­

träge oder in der Übertragung von Hoheitsrechten auf z wischenstaatliche Einrichtungen. In dieser Offenheit für Rezeptionen, Rechtsvergleichung, Anerkennung transnationaler Rechtsprechung bis hin zu "fremden" Rich­

tern liegt ein Spezifikum des Kleinstaates: mit Vorbildfunktionen. Das sei schon jetzt angedeutet.

4 Nachweise in meinem Beitrag: Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 ff.

5 Einzelheiten erstmals in meinem Beitrag: Grundrechtgeltung und Grundrechtsinterpreta­

tion im Verfassungsstaat - Z ugleich zur Rechtsvergleichung als "fünfter" Auslegungsme­

thode, JZ 1989, S. 913 ff.

Eine letzte Vorbemerkung: Die Verfassungslehre der hier skizzierten Art ist im Verbund mit anderen Wissenschaften, etwa der Politologie und der die soziale Marktwirtschaft erforschenden Nationalökonomie, ein vitales Element in der Konstituierung des Verfassungsstaats als Ide altyp und der Realtypen seiner Beispiele. So bescheiden all diese politischen Wissenschaf­

ten bleiben müssen: sie begründen ein politisches Gemeinwesen und seine Verfassung des Pluralismus mit. Das gilt auch und besonders für den Klein­

staat Liechtenstein und sein Institut in Bendern, erhöht unsere Verantwor­

tung auf dieser Tagung und ermutigt die heutigen Versuche in diesem Kreis.6

II. Begriff und Bestandsaufnahme