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Drei systemtheoretische Perspektiven

3. Das "Konnektivitätsmodell"

Während das "Oberflächenmodell" sich in erster Linie auf die mikrosoziale Ebene interpersoneller Interaktionen und das "Differenzierungsmodell"

eher auf die Mesoebene der Rollenstrukturen und Organisationen bezieht, so wird die Diskussion über die Makrostruktur und die Politik kleiner Staa­

ten stark durch eine dritte Modellvorstellung beherrscht, die einen Zusam­

menhang zwischen Systemgrösse und dem Verknüpfungsgrad seiner Teilele­

mente postuliert.

Die Vorstellung, dass in kleinen Kollektiven ein besonders dichtgewobe­

nes Netz sozialer Beziehungen bestehe, kommt beispielsweise in der populären Vorstellung zum Ausdruck, dass in kleinen Dörfern "jeder jeden kenne" und dass intermediäre parapolitische Organisationen wie Verbände oder Parteien deshalb kaum notwendig seien, weil jeder Bürger mit minde­

stens einem Behördemitglied eng genug bekannt sei, um ihm sein Anliegen persönlich vorzutragen (vgl. z.B. Wurzbacher/Pflaum 1954).

Und auch von ungleich umfangreicheren politischen Gemeinwesen wird oft behauptet, dass innerhalb ihrer Eliten ein einheitliches, zusammenhän­

gendes Beziehungsnetz bestehe: mit der Folge, dass in der Politik eher

"Konkordanz" anstatt "Konkurrenz" vorherrschend sei, weil auch die Führer potentieller Oppositionsgruppen mittels "Ko-option" in die Zen­

tren der Entscheidungsfindung, einbezogen würden (vgl. z.B. Lijphart 1977: passim; Lehmbruch 1975; Geser 1980; Geser 1991 u.a.).

. Ebenso gehört dazu die Vorstellung, dass Kleinstaaten auf formelle Strukturen sozialer. Kontrolle (und. damit auch: auf stark zentralisierte Herrschaftsstrukturen) weitgehend verzichten könnten, weil in hinreichen­

dem Masse informelle:Sozialkontrollen (im horizontalen Verhältnis zwi­

schen einzelnen Bürgern) wirksam wären. Negativ gewendet heisst es dann, Kleinstaaten könnten kein Klima wahrer Freiheit erzeugen, weil diese Informalkontrollen durch keinerlei staatliche Liberalisierungsmassnahmen verririgertoder eliminiert werden könnten.

Wenn man derartige (und vielerlei analoge) Argumentationen bis an ihre logischen Wurzeln zurückverfolgt, gelangt man ebenfalls auf eine formale mathematische Gesetzmässigkeit, die man genau verstehen sollte, weil sie für die Theoriebildung ebenfalls einen sicheren Ausgangspunkt anbietet.

Es handelt sich dabei um die erstmals von Caplow (1957) expliz ierte Regularität, dass die Gesamtzahl von Interaktionsbeziehungen, die. zwi­

schen Angehörigen einer sozialen Gruppe möglich sind, im progressiven Verhältnis zur Gruppengrösse steigt. Wenn man dann zweitens noch annimmt, dass jeder Einzelne auf Grund psychischer Kapazitätsgrenzen nur mit einer beschränkten Zahl anderer Personen Beziehungen pflegen kann, so folgt daraus, dass der "interaktive Sättigungsgrad" eines sozialen Systems (d.h., der Prozentanteil logisch möglicher Beziehungen, die auch aktualisiert sind) mit zunehmender Systemgrösse drastisch sinkt.

Nimmt man beispielsweise an, dass jedes In dividuum nur vier engere Freunde haben kann, so ergibt sich die folgende Tabelle:

Anzahl Anzahl logisch •Anzahl "Interaktiver Mitglieder mögliche aktualisierbare Sättigungsgrad"

(N) Beziehungen (m) Beziehungen (a) , (a) / (m)

N(N-l)/2 (4*N) / 2

5 10 10 100.00 %

10 45 20 44.44%

20 190 40 21.05 % •

50 . 1225 100 8.16%

500 124 750 1000 0.8016 %

Natürlich hängt der faktische Verlauf solcher Kurven von vielerlei Rahmen­

bedingungen ab, die empirisch erfasst werden müssen.

Beispielsweise wird der Zusammenhang zwischen Grösse und dem Grad an innerer, Konnektivität dadurch abgeschwächt, dass Bewohner kleiner

Staaten prozentual mehr Aussenbeziehungen (zu Mitgliedern anderer Staa­

ten) aufrechterhalten, weil sie innerhalb des Staates keine geeigneten Partner finden (vgl. 2.1).

Überdies muss auch die räumliche Verteilung der Population als e ine wichtige intervenierende Variable betrachtet werden. Sicher wird der Kon­

nektivitätsgrad eines kleinen Staates n och zusätzlich erhöht, wenn sich die Gesamtbevölkerung in einem einzigen Urbanen Ze ntrum verdichtet (z.B.

Monaco, San Marino). Umgekehrt können Bergkantone trotz geringer Gesamtgrösse ihren Konnektivitätsgrad niedrig erhalten, weil die Bewoh­

ner verschiedener Talschaften kaum Beziehungen zueinander aufrechter­

halten.

Auch durch innere Segmentierung in kulturell differenzierte Subpopu-lationen, durch Inklusion breiterer Bevölkerungsschichten sowie durch Einrichtung artifizieller Interaktionsbarrieren (z.B. im Rahmen föderali-stisch-dezentralisierter Machtstrukturen) kann es kleinen politischen Ge­

meinwesen gelingen, die Dichte ihrer internen Netzwerke zu reduzieren.

Umgekehrt können Grossstaaten den Konnektivitätsgrad zumindest auf Elitenebene dadurch erhöhen, dass sie exklusivere Rekrutierungsregeln auf­

rechterhalten oder indem sie alle f ührenden Mitglieder in einem einzigen Zentrum (z.B. am Hof von Versailles oder in der Stadt Paris) versammeln.

Je grösser ein Staat, desto stärker ist er in dieser Hinsicht einerseits auf die Selektionswirkung restriktiver sozialer Mobilitätskriterien und andererseits auf die Verdichtungswirkung von Grossstädten angewiesen.

Ungeachtet solcher Relativierungen darf unter aktuellen Bedingungen (relativ offener Elitenrekrutierung) damit gerechnet werden, dass sich innerhalb der Führungsschichten kleinerer Staaten allein aus d en Zufällig­

keiten und Zwängen alltäglicher Interaktion eine vergleichsweise d ichte Verflechtung zu einer einzigen Elitengruppe ergibt, während es in grossen Staaten wahrscheinlicher ist, dass mehrere Elitenfraktionen nebeneinander koexistieren.

Unter den mannigfachen Folgewirkungen hoher Elitenverflechtung sind vor allem zwei herauszuheben, die mit vielerlei Eigentümlichkeiten klein­

staatlicher Politik und Verwaltung in engem Zusammenhang stehen.

3.1 Konfliktvermeidung als vorrangiges Ziel

In ihrem Buch "Size and Democracy" sehen Dahl und Tufte (1973) die hohe Dichte sozialer Beziehungen als eine Schlüsselvariable zum Verständ­

nis k leinstaatlicher Innenpolitik: weil diese Dichte sehr stark die Art und Weise mitbestimmt, wie mit sozialen Konflikten umgegangen wird. Dabei greifen sie auf theoretische Überlegungen zurück, die zu Beginn dieses Jahr­

hunderts von Georg Simfnel angeregt worden sind und durch das populäre Buch Lewis Gösers ("The Functions of Social Conflict") eine weitere Ver­

tiefung und Verbreitung gefunden haben (vgl. Simmel 1908; Co ser 1956).

Die Argumentation lautet, dass kollektive Konflikte für Kleinstaaten eine besonders schwerwiegende Gefahr darstellen, weil sie sich nicht auf ihsulierte Teilgrupperi eingrenzen lassen. Da sich praktisch jeder in der einen oder andern Partei vorfindet, würden leicht alle Kräfte davon absor­

biert, und überdies fehle es an "unbeteiligten Dritten", die einen moderie­

renden oder vermittelnden Einfluss geltend machen könnten (vgl. auch z.B.

Black 1974).

Vor allem innerhalb der Eliten würde die Tatsache, dass man einander unvermeidlicherweise immer wieder begegnet, Konfliktsituationen zu einer unerträglichen Belastung werden lassen: mit irreversiblen Verlusten an kol­

lektiver Kooperationsfähigkeit, die den Zusammenhalt des Systems und seine Handlungsfähigkeit nach aussen bedrohen.

Aus all diesen Gründen würden Kleinstaaten grösstes Gewicht darauf legen, den Ausbruch offener Konflikte zu vermeiden: wobei dann gerade das dichte Netzwerk sozialer Beziehungen nützlich sein kann, weil es als System allgegenwärtiger informeller Sozialkontrolle-gewährleistet, dass Konflikte bereits im Embryonalstadium eingedämmt werden können.

Gerade dadurch aber wird der Ausbruch eines Konflikts zur doppelten Katastrophe: weil man - im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Präventions­

mechanismen - gar nicht mit ihm gerechnet hat und deshalb auch keine Ver­

fahrensweisen eingerichtet hat, um ihn auf geordnete Weise auszutragen (vgl. Dahl/Tufte 1974,93ff.).

In grossen Staaten stellt sich die Situation in genau umgekehrter Weise dar: Konflikte werden hier weit eher als normale Erscheinungen gewertet, die man auf Grund der lockeren Beziehungsnetzwerke gar nicht verhindern kann, die aus demselben Gründe aber auch in ihrer Ausdehnung begrenzt bleiben und durch neutrale Drittinstanzen im Zaum gehalten werden kön­

nen (vgl. Dahl/Tufte 1973: passim; Black 1974).

Deshalb wird den Mechanismen der Konfliktewenig Beach­

tung geschenkt, sehr viel mehr hingegen den Mechanismen der Kon-üiktaustragung, und ILonRiktbeilegung, die zum Objekt umfangreicher verfahrensmässiger Normierung werden. :

Manche Grossstaaten haben sogar gelernt, Konflikte mittels Institutiona­

lisierung dauerhaft am Leben zu erhalten und zur Verstärkung ihrer natio­

nalen Integration zu verwenden. Dies gilt in ausgeprägter Weise für Frank­

reich, wo die nationalen Behörden die Streitigkeiten zwischen Gemeinden und Präfekturen als Gelegenhe it ausnutzen, um die Ziele und Regeln der Pariser Regierungszentrale zur Geltung zu bringen (vgl. Crozier/Thoenig 1976).

Diese Konfliktscheu kleiner Staaten hat wiederum mannigfache Auswir­

kungen, die im Buch von Dahl und Tufte nicht diskutiert werden und auch in der bisherigen Forschung kaum Beachtung gefunden haben.

Ein Land, das Konflikte für Normalerscheinungen hält und offen aus­

trägt, ist beispielsweise besser in der Lage, opp ositionellen Parteien oder anderen dissidenten Gruppierungen Entfaltungschancen einzuräumen, die alternative gesellschaftspolitische Konzeptionen aufrechterhalten und im Bedarfsfall in d er Lage sind, einen endogenen Reformprozess einzuleiten.

Kleinstaaten sind demgegenüber wahrscheinlich stärker auf exogen veran­

lassten gesellschaftlichen Wandel angewiesen, weil sie - vor allem unter Bedingungen der Konkordanzdemokratie - weniger auf systemintern gene­

rierte Varianten zum herrschenden Status quo zurückgreifen können (vgl.

z.B. Geser 1991).

Eine zweite Konsequenz besteht wahrscheinlich darin, dass die politi­

schen Akteure grosser Länder auch in externen (z.B. internationalen) Kon­

fliktsituationen besser agieren kö nnen, weil sie bereits im Binnenraum ge­

lernt haben, mit akuten Streitigkeiten umzugehen. Die Repräsentanten kleinerer Länder werden transnationale Auseinandersetzungen eher als ungewohnte Problemsituationen erfahren, zu deren Bewältigung andere Verfahrensweisen (und eventuell auch andere Persönlichkeitstypen) als im harmonisierten Binnenraum notwendig sind.

3.2 Schwierigkeiten bei der Ausdifferenzierung öffentlicher, von Privatinteressen unabhängiger Organe

Die hohe Beziehungsdichte zwischen den Bürgern erschwert die Einrich­

tung von Behörden und Amtsstellen, die "ohne Ansehen der Person" im übergeordneten öffentlichen Interesse tätig sind, denn allzu häufig sehen sich solche Rolleninhaber in der Situation, dass sie mit den Adressaten ihres Handelns in persönlichen Beziehungen stehen.

Korrumpierende Einflüsse, die sich in Grossstaaten eher auf Elitenkreise beschränken, drohen im Kleinstaat das gesamte öffentliche Leben zu durch­

dringen, falls keine Abhilfemassnahmen getroffen werden.

Dieses hohe Risiko von "Befangenheit" ist laut Daniel Thürer der tiefere Grund für die liechtensteinische Praxis, die eigenen Gerichte wenigstens teilweise mit Richtern ausländischer Herkunft zu besetzen:.

"In Liechtenstein nämlich, das mit.seinen 28'000 Einwohnern eines der kleinsten Länder der Welt darstellt, sind die Einwohner und vor allem auch die Politiker durch ein dichtes Netz verwandtschaftlicher, geschäft­

licher, beruflicher, gesellschaftlicher und politischer Beziehungen mitein­

ander verbunden.'Allein der Beizug .auswärtiger Juristen scheint unter diesen Bedingungen Gewähr für die Unabhängigkeit und Unparteilich­

keit der Justiz zu bieten" (Thürer 1990:11).

Wie Thürer/zu Recht feststellt, hat das seit dem.19. Jahrhundert aufkom­

mende Idealmodell des (politisch-administrativ autonomen) "Nationale staates" die Kleinststaaten deshalb vor fast unlösbare Probleme gestellt, weil es verlangt, einerseits alle: öffentlichen Positionen mit eigenen Bürgern zu besetzen (um den Besonderheiten der nationalen Mentalität und Rechtsord­

nung Rechnung zu tragen), andererseits aber für jene "Aquidistanz" dieser Amtspersonen gegenüber allen übrigen Bürgern zu sorgen, die für ein neu-tral-unpersönliches Verwaltungshandeln unabdingbar ist.

Eine naheliegende und äüsserst gebräuchliche Massnahme besteht in die­

sem Falle darin, die Entscheidungs- und Vollzugskompetenzen nicht ein­

zelnen Personen, sondern kollektiven Gremien (z.B. Kommissionen, Gerichtskammern, Kollegialbehörden) anzuvertrauen. Damit sind gleich fünf Vorteile gleichzeitig verbunden:

1) Die Funktionsfähigkeit des Organs bleibt unabhängig von partikulären Beziehungskonstellationen gesichert, weil das "befangene", Mitglied . immer in den Ausstand treten kann. '

2) A uch dort, wo das Behördemitglied allein agiert, wird es durch die . soziale Kontrolle der übrigen Gremiumsmitglieder genötigt, unparteilich

zu handeln.

3) Der absolute Umfang der "politischen Elite" wird grösser: so dass -wenn alle anderen Bedingungen gleich bleiben - sich ihr interner Kon-. nektivitätsgrad verringertKon-.

4) Entscheidungen werden generell mit höherer Legitimation ausgestattet, weil die Bürger wissen, dass sich verschiedene Personen (die unterschied­

liche Parteien und Interessen repräsentieren) daran mitbeteiligt haben.

5) Selbst im Falle parteilichen Handelns sieht sich das einzelne Mitglied des Gremiums vor öffentlicher Kritik geschützt, da Entscheidungen ja nicht spezifischen Individuen persönlich zugerechnet werden können.

So erklärt sich das Paradox, dass gerade die politischen Entscheidungen sehr kleiner Staaten (bzw. Provinzen oder Gemeinden) häufig einen überra­

schend anonymen Charakter tragen, da sie aus einem intransparenten Geflecht informeller Kommunikation und Einflussnahme emergieren, während es den Historikern wenig Mühe macht, Bismarck als t reibende Kraft der deutschen Einigung, Gorbatschow als Katalysator für den Zerfall des Sowjetreichs und George Bush als Urheber des Golfkriegs zu identifi­

zieren.

Mit dieser Kollektivierung der Entscheidungsprozesse geht allerdings die Möglichkeit verloren, Einzelpersonen für Entscheidungen haftbar zu machen und zur Verantwortung zu ziehen.

Eine weitere Folge besteht dann darin, dass kleine Staaten häufig einen noch ungleich höheren Anteil ihrer gesamten wahlfähigen Bevölkerung in öffentliche Ämter einbeziehen, als dies allein schon auf Grund der beschränkten absoluten Zahl amtsfähiger Bürger notwendig wäre, und dass sie sich dadurch tatsächlich als Gemeinwesen qualifizieren, in dem "die grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind"

(Jakob Burckhardt).

Es bedeutet aber auch, dass die ohnehin über wenig qualifizierte Fach­

kräfte verfügenden Gemeinwesen genötigt sind, sich völlig auf unspezia-lisierte Laienpersonen abzustützen: wobei die Gremien dann oft an demokratischer Legitimierung wettmachen, was ihnen an fachlicher Legiti­

mierung fehlt.

Wo immer es hingegen unerlässlich ist, eine Funktion auf professionelle Expertise (z.B. juristischer oder technischer Art) abzustützen, ergibt sich der Zwang, sie bei ganz wenigen Individuen (bzw. einer einzigen Person) zu konzentrieren. Dann bleibt nur der Weg, solche Personen entweder in dichte Felder politischer Laienkontrolle einzubinden oder ihnen eine über­

durchschnittliche charakterliche "Integrität" zuzutrauen, die das Vertrauen in ihr unparteiliches Handeln rechtfertigen kann.

Kleine politische Gemeinwesen hängen also nicht1 allein deshalb an

Strukturen ehrenamtlicher "Milizverwaltung" fest, weil qualifizierte Be­

rufsleute fehlen oder das Budget zu stark belasten würden.

Vielmehr wird häufig auch deshalb auf Verberuflichung verzichtet, weil man sich , dadurch allzu sehr einzelnen Personen ausliefern würde,-über deren Unparteilichkeit angesichts ihrer Einbettung in dichte Beziehungs­

netze berechtigte Zweifel bestehen.

Schlussbemerkungen

Eine soziologische.Kleinstaattheorie muss sich das Ziel setzen, grössenbe-dingte Eigenheiten nationaler Gesellschaften in termini von Gesetzmässig­

keiten zu verstehen, die auf möglichst generellen Regularitäten sozialer Systembildung und Organisation beruhen und deshalb auch für andere Kollektive Geltung haben.

Bei der Suche nach einer derartigen Basistheorie haben sich drei fundie­

rende Leithypothesen angeboten, deren Verlässlichkeit dadurch verbürgt ist, dass sie sich auf formallogische und mathematische Überlegungen abstützen lassen.

Die Folgekosten einer derart hohen Abstraktionslage bestehen allerdings darin, dass man nur unter Kenntnis zahlreicher empirischer Randbedingun­

gen angeben kann, wie sich diese Gesetzlichkeiten im realen Einzelfall kon­

kret manifestieren. Genau diese Konsequenz ist aber auch aufgrund induk­

tiver Überlegungen unvermeidlich, weil eine auf geringerem Abstraktionsniveau angelegte Kleinstaattheorie gar nicht fähig wäre, der immensen Vielfalt hochentwickelter und unterentwickelter Klein- und Mikrostaaten Rechnung zu tragen.

Die "Bevölkerungsgrösse" hat eben primär nicht den Charakter einer kausalen Variablen, die auf inv ariante Weise ganz spezifische Auswirkun­

gen (z.B. auf die Binnenstruktur oder das Aussenverhalten eines Staates) erzeugt.

Viel eher konstituiert sie als infrastrukturelle Rahmenbedingung einen Variationsraum von systemischen Kapazitäten und Dispositionen, die je nach Entwicklungsgrad, geographischer Lage, funktionaler Spezialisierung und kulturellen Traditionsmustern eines Landes zu sehr unterschiedlicher Entfaltung gelangen.

Dementsprechend muss auch jeder Kleinstaat in jeder Zeitepoche selber und auf seine Weise das (kognitiv anspruchsvolle) Problem lösen, sich über die aktuellen Implikationen seiner begrenzten demographischen Basis klare

Vorstellungen zu verschaffen und aus den spezifischen Gegebenheiten seiner Binnenverhältnisse und Umweltsituation optimalen Nutzen zu ziehen.

Vieles spricht dafür, dass ihm dabei mit steigendem Niveau sozioökono-mischer Entwicklung und funktionaler Differenzierung immer zahlreichere Optionen und "Nischen" zur Auswahl stehen.

Diese offene, chancenreiche Zukunftsperspektive mag ein Grund sein, warum man trotz der ständig anwachsenden technisch-organisatorischen Mittel für grossräumige politische Integration weltweit eine ständige Zunahme kleiner Staaten beobachten kann, warum sich momentan viele regionalistische Unabhängigkeitsbewegungen auf ihre m Weg in die natio­

nale Souveränität ermutigt fühlen, und warum es kaum vorkommt, dass ein jemals selbstän dig gewordener Kleinstaat aus eigenem Antrieb mit einem grösseren Nachbarstaat fusioniert.

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