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Summary

The Constitution of Liechtenstein had been established in 1921 after the decline of the Central European monarchies, but in accordance with the legal tradition of the old German Confeder-acy (Deutscher Bund). That is why in Liechtenstein the authority of the State is based both on the monarch and on the nation. Whereas however in Austria-Hungary and in Germany the government got its office by the emperor in Liechtenstein a Cooperation between the prince and the parliament is necessary, so today the interpretation of the Constitution of Liechtenstein cannot go by the rules of the old monarchical Austrian and German legal system, but has to form its own methods. The interpretation of a constitutional charter nowadays is an open pro-cess, in which many social forces participate. In so far common European cultural and legal tra-ditions are highly important, especially for small states. As an example the article points out, that only the government has to assume füll responsibility for political decisions of general principles - according to the democratic system, which is fundamental to political life in Liech­

tenstein.

I.

Die Interpretation einer schriftlich fixierten, gesetzesförmig erlassenen Ver­

fassung scheint zunächst, insofern es sich um die Auslegung eines Gesetzes handelt, jenen Grundsätzen verpflichtet, die Friedrich Carl v. Savigny fü r die Jurisprudenz eines ganzen Zeitalters gültig formuliert hat. Mit den Methoden der grammatischen, logisch-systematischen, genetisch-histori­

schen und teleologischen Auslegung ist gewöhnlich jene Frage, welche die Interpretationsbemühungen auslöst, in einer genügend rationalen Weise zu beantworten.1 Indessen setzen diese, für einfache . Gesetze entwickelten Methoden selbstverständlich voraus, dass über Systemgedanken, histori­

sche Genese und Normzweck in grossen Zügen Einverständnis besteht, wie dies für privatrechtliche Gesetzeswerke ja in der. Tat auch der Fall ist.

Ebenso lassen sich über System, Historie und Telos eines Verfassungstextes sinnvolle Aussagen nur machen, wenn etwas über die diesem Text voraus­

gehenden Systemgedanken, über die allgemeinen geschichtlichen Zusam­

menhänge und über die Zweckvorstellungen gerade dieses Verfassungstyps .bekannt ist. Man wird sich also, was die Verfassung des Fürstentums Liech­

tenstein betrifft, zunächst den historischen Darstellungen und staatsrechtli­

chen Werken aus der 1918 zu Ende gehenden Epoche des Konstitutionalis­

mus zuwenden, um Auslegungsprobleme der Gegenwart zu lösen. Denn eine moderne Literatur des konstitutionellen Staatsrechts ist so . gut wie nicht existent - Folge der Kleinstaatsituation, da es zu der hier bewahrten monarchischen Verfassungsform keine Parallelen mehr gibt.2

1 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 2. A. Berlin 1840, § 33.

2 Vgl. dazu Raymond Füsilier, Les monarchies parlementaires. Etüde sur le systeme de gou-vernement (Suede, Norvege, Danemark, Belgique, Pays-Bas, Luxembourg), Paris 1960, und dort S. 553 ff., 569 ff. insbesondere zu Luxemburg, der anderen modernen Monarchie, welche in die Zeit des Deutschen Bundes zurückreicht. - Zur spanischen Monarchie vgl.

Art. 62 der Verfassung des Königreichs Spanien vom 29. 12. 1978, in: Adolf Kimmel (Hrsg.), Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 2. A. München 1990, S. 367 ff., 380.

Wer sich über den Konstitutionalismus im Bereich des Deutschen Bun­

des und seiner Nachfolgestaaten informieren will, greift heute in erster Linie zu dem grossen Standardwerk von Ernst Rudolf Huber, der als Kern des konstitutionellen Verfassungstyps die Berufung einer eigenverantwort­

lich handelnden Regierung durch den Monarchen ansieht.3 Diese Regierung verkörpert nach Huber ein Programm, für das sie einerseits das fortdau­

ernde Vertrauen des Monarchen benötigt, andererseits aber Mehrheiten in der gewählten Volksvertretung suchen muss, um die Zustimmung zum Budget und zu den für notwendig gehaltenen Gesetzesvorlagen zu bekom­

men. Ist der Monarch mit einzelnen Massnahmen nicht einverstanden, dann hat er nach Huber nur die Möglichkeit, die Regierung zu entlassen und eine neue zu berufen, nicht aber das Recht, im Wege einer monarchischen Selbstregierung politische Kurskorrekturen vorzunehmen.4 Diese Darstel­

lung des konstitutionellen Staatsrechts Hubers erweist sich als Konstrukt, wenn wir zu den einschlägigen Fragen das Staatsrecht des Deutschen Rei­

ches von Paul Laband heranziehen. Danach soll ein Selbstregierungsrecht des Monarchen nach der deutschen Reichsverfassung von 1871 in der Tat nicht ausgeschlossen gewesen sein.5 Man erinnert sich auch der Worte Lud­

wigs I., wonach in Bayern nicht der Minister, sondern der König regiere.6

Doch entspricht Hubers Auffassung etwa der preussischen Verfassungspra­

xis nach 1850, während andererseits Baden nach Beginn der sogenannten

"neuen Ära" 1859 die Regierungsbildung aus der Mehrheitsfraktion des Landtages kennt.7 Nicht gelungen ist bekanntlich die Durchsetzung dieses Prinzips im Deutschen Reich. Aber die hier seit dem Ende des 19. Jahrhun­

derts zu beobachtenden Parlamentarisierungstendenzen lassen sich in der <

konstitutionellen Theorie Hubers auch nicht unterbringen.8 Das Fazit die­

ser wenigen historischen Andeutungen lautet: Es hat keine einheitliche kon­

3 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 3. A. Stuttgart-Ber­

lin-Köln-Mainz 1988, S. 3 ff. u. passim. Vgl. zum folgenden Text auch Dietmar willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. A. München 1992, §§ 29,32,34-36.

4 Huber (FN 3), S. 20 ff!, 814 f.

5 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 5. A. Tübingen 1911, S. 232:

"Der Kaiser . . . bestimmt die Richtung der Politik, die Zielpunkte der staatlichen Geschäftsführung des Reiches. Wenn auch tatsächlich die Führung der Geschäfte dem Reichskanzler obliegt, so ist derselbe doch rechtlich lediglich das Willenswerkzeug und der Gehilfe des Kaisers.

6 Zitiert von Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat, München 1962, S. 431.

7 Vgl. dazu Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei - Das Grossherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968.

8 Manfred Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977; Willo­

weit (FN 3) § 36.

stitutionelle Theorie gegeben, aus welcher man heute ein System gewinnen und - wie schon geschehen - einzelne Rechtssätze deduzieren könnte, z. B.

eine Kompetenzvermutung zugunsten des Monarchen.9 Der Konstitutiona­

lismus war vielmehr selbst einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen, so dass heute jeder Rückgriff auf Sätze des konstitutionellen Staatsrechts der besonderen Begründung bedarf, warum gerade diese Doktrin oder Norm zur Interpretation einer modernen monarchischen Verfassung herangezo­

gen wird.

Die gravierendste geschichtliche Veränderung des konstitutionellen Staätsrechtsdenkens vollzog sich in der Zeitspanne zwischen der Revolu­

tion von 1848 und dem Ende des preussisch-österreichischen Krieges 1866.

Neuere Forschungen haben ergeben10, dass nach den konstitutionellen Vor­

stellungen auch der breiten liberalen Mitte in der deutschen Nationalver­

sammlung von 1848, "der Grundgedanke der parlamentarischen Regie­

rungsweise - die Ubereinstimmung von Ministerium und Majestät der Volksvertretung in den Grundfragen der Politik - . . . allgemein als Gebot politischer Vernunft und als die gegebene Form freiheitlicher Selbstbestim­

mung angesehen" wurde." Nach Auffassung der Zeitgenossen vertrug sich diese Uberzeugung mit den traditionellen Sätzen des konstitutionellen Staatsrechts. Die verfassungstypologische Alternative von konstitutioneller Monarchie und parlamentarischem Regierungssystem trifft danach die Ent­

wicklung des konstitutionellen Gedankens in der historischen Realität nicht.12 Das altliberale Verständnis der konstitutionellen Monarchie war auf den Konsens von Volksvertretung und Monarch gerichtet. Es wurde in Deutschland durch den preussischen Verfassungskonflikt vernichtet, da es Bismarck gelang, einen strikten Dualismus von monarchisch geführter Regierung und demokratisch gewählter Volksvertretung zu etablieren.13

9 So aber noch Edwin Loebenstein, Die Stellvertretung des Landesfürsten gemäss Verfas­

sung, in: Die Stellvertretung des Fürsten, Vaduz 1985 (Liechtenstein Politische Schriften 11), S. 69 ff., 79 und kritisch dazu Dietmar Willoweit, Die Stellvertretung des Landesfürsten als Problem des liechtensteinischen Verfassungsverständnisses, ebd. S. 119 ff., 125. Meine Stellungnahme hat ihrerseits nicht nur Zustimmung gefunden. Ich hoffe, dass die hier im Text gegebenen Hinweise zur geschichtlichen Entwicklung des Konstitutionalismus meine Warnung vor juristischen Schlussfolgerungen aus einem nur spätkonstitutionell-monar-chisch verstandenen Verfassungstypus verständlicher erscheinen lassen.

10 Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1843-1850, Düs­

seldorf 1977, S. 91 ff., 115, 647 u. passim; Dieter Langewiesche, Die Anfänge der deutschen Parteien - Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978) S. 324 ff., 336 f.; zusammenfassend Willoweit (FN 3) § 31 II 3.

11 Botzenhart (FN 10) S. 790.

12 Langewiescne (FN 10) S. 336.

13 Hans Boldt, Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie, in: Der Staat, Beih. 1 (1 975) S. 75 ff.; Willoweit (FN 3) § 32 m. w. Nachw.

Dieses Modell wurde dann auch für die österreichisch-ungarische Monar­

chie massgebend." Die gesamte danach entstandene staatsrechtliche Litera­

tur spiegelt diese Spätphase des Konstitutionalismus wider und ist daher für die Auslegung einer modernen monarchischen Verfassung nur mit grösster Vorsicht heranzuziehen.

I L

Die Differenz zwischen dem spätkonstitutionellen Staatsrecht aus der Zeit vor 1914 und der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein von 1921 ergibt sich aus dem Umstand, dass diese Verfassung das altliberale V er­

ständnis des Konstitutionalismus bewahrt hat. Der in der Mitte des 19.

Jahrhunderts aufgekommene, damals noch vage Gedanke eines Konsenses zwischen den Repräsentanten des Volkes und dem Monarchen ist in der liechtensteinischen Verfassung zu einem Normgefüge ausgebaut worden, das ein Gleichgewicht zwischen der parlamentarischen und der monarchi­

schen Komponente herzustellen versucht.15 Das ergibt sich - wie schon mehrfach betont worden ist - aus einer ganzen Reihe bekannter Verfas­

sungsvorschriften. Erinnert sei nur an die originelle Kombination verfas­

sungsrechtlicher Leitgedanken in Art. 2 LV, wo die "konstitutionelle Erb­

monarchie" auf "demokratischer und parlamentarischer Grundlage" ange­

siedelt wird. Das verträgt sich weder mit der alten Lehre vom monarchi­

schen Prinzip noch mit der bis 1914 herrschenden Theorie des spätkonstitutionellen Staatsrechts; jene war entwickelt worden, um jede Annäherung an den Gedanken der Volkssouveränität gerade zu verhindern, diese verteidigte mit Erfolg einen autonomen politischen Handlungsraum des Monarchen, wie ihn in dieser Form die Verfassung des Fürstentums

14 Vgl. nur J. Ubrich, Das österreichische Staatsrecht, 4. A. Tübingen 1909, S. 73: "Die Regie­

rungskompetenz des Herrschers bedeutet die Ausübung einer zentralen Oberleitungs­

gewalt, die sich auf alle Gegenstände erstrecken kann, die nicht kraft der Verfassung der gesetzgebenden Gewalt oder der selbständigen Amtsgewalt der Behörden zugewiesen sind

15 Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen schon Gerard Batliner, Zur heutigen Lage des liechtensteinischen Parlaments, Vaduz 1981 (Liechtenstein Politische Schriften 9); zur politikwissenschaftlichen Einordnung Alois Riklin, Liechtensteins politische Ordnung als Mischverfassung, in: Eröffnung des Instituts (Vorträge am Liechtenstein-Institut, Kleine Schriften 11), Vaduz 1987, S. 20 ff.; zum historischen Standort Dietmar Willoweit, Fürstenamt und Verfassungsordnung, in: Volker Press u. Dietmar Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein - Fürsdiches Haus und staatliche Ordnung, Vaduz-München 1988, S. 487 ff., 507 ff.

Liechtenstein nicht kennt." Die verfassungstheoretisch paradox anmutende Verankerung der Staatsgewalt "im Fürsten und im Volk" zugleich betont vielmehr die Distanz gegenüber der 1918 zu Ende gegangenen verfassungs­

geschichtlichen Epoche. Vor diesem 1921 sehr konkreten historischen Hin­

tergrund sind auch die Bestimmungen über das Sanktionsrecht des Landes­

fürsten bezüglich der vom Landtag beschlossenen Gesetze gem. Art. 9 LV und über die Berufung der Regierung im Einvernehmen von Landesfürst und Landtag gem. Art. 79 Abs. 2 LV zu lesen: Es handelt sich um Regelun­

gen, welche die bis dahin herrschende Dominanz des monarchischen Ele­

ments beseitigen und dem Volkswillen einen adäquaten Platz im Verfas-sungsleberi verschaffen wollten. Das zwischen Fürsten und Volk von der Verfassung angestrebte Gleichgewicht ist also vor dem Hintergrund einer bis dahin bestehenden Ungleichgewichtslage zu Lasten der Volksrepräsen­

tation zu verstehen, woraus sich unmittelbar Konsequenzen für die Ermitt­

lung der Normzwecke ergeben.

An dieser Stelle kommt es jedoch zunächst darauf an, die Eigenständig­

keit des liechtensteinischen Verfassungstyps zwischen Spätkonstitutionalis-mus und ParlamentarisSpätkonstitutionalis-mus zu betonen. Die Frage nach den Massstäben der Verfassungsinterpretation spitzt sich damit freilich zu. Wenn die Bibliothe­

ken des alten monarchischen Staatsrechts für die Auslegung der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein kaum eine Hilfe erwarten lassen - woher dann das Material für die Bildung von Normhypothesen zur Beantwortung offener Verfassungsfragen nehmen? Man könnte einwenden, angesichts der Seltenheit akuter Verfassungsprobleme in einem Kleinstaat möge die Frage auf sich beruhen, bis der Interpretationsbedarf entsteht. Dann allerdings ist man zugleich mit der Gefahr eines Eklektizismus konfrontiert, der sich an den nächstliegenden politischen Zielen orientiert und daher den notwendi­

gen Verfassungskonsens nicht mehr herzustellen vermag. Auch das liech­

tensteinische Verfassungsrecht wird auf eine generelle Reflexion der zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden und zu berücksichtigenden inhaltlichen Auslegungsgrundsätze nicht verzichten können.

III.

Über die Methoden der Verfassungsinterpretation ist in der Bundesrepu­

blik Deutschland seit dem Ende der fünfziger Jahre und in Österreich seit

16 Vgl. u. V.

dem Beginn der siebziger Jahre eine ergiebige Diskussion geführt worden, die das Spektrum der heute überhaupt denkbaren Interpretationswege ent­

faltete und gewisse Konvergenzen erkennen liess.17 In Deutschland, weitge­

hend auch in Osterreich, setzte sich die Auffassung durch, dass bei der Ver­

fassungsinterpretation mit den klassischen Regeln der Gesetzesauslegung allein vielfach keine überzeugenden Ergebnisse erzielt werden können - aus den auch hier schon erwähnten Gründen: Einem Verfassungsgesetz liegt regelmässig kein dogmatisches System zugrunde, wie dies bei einem Zivil­

gesetzbuch der Fall ist. Das Verfassungsgesetz schafft vielmehr selbst erst sein Staatsrecht. Es greift dabei zwar auf Pr inzipien und Strukturelemente seines verfassungskulturellen Umfeldes zurück, das durch die Geschichte und oft auch durch das Verfassungswesen der Nachbarstaaten konstituiert wird. Aber jede Verfassungsgesetzgebung fügt diese Prinzipien und sonsti­

gen normativen Vorgaben in durchaus eigentümlicher Weise zu einem jeweils besonderen "System" des Staatsrechts zusammen, wobei sich die Systemdichte mit der des ius civile bei weitem nicht messen kann. Dennoch - oder vielleicht gerade desw egen - hat der österreichische Verfassungsge­

17 Zusammenfassend informieren über die erste Etappe der Diskussion Ralf Dreier u. Fried­

rich Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation. Dokumentation einer Kontroverse, Baden-Baden 1976, mit dem Wiederabdruck der wichtigen Arbeiten von Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungseesetzes (1959), Herbert Krüger, Verfas­

sungsauslegung aus dem Willen des Vefassungsgebers (1961) und Peter Häberfc, Zeit und Verfassung. Prolegomena zu einem "zeit-gerechten" Verfassungsverständnis (1974): Zahl­

reiche Anregungen aus dieser frühen Phase der Diskussion sind den Referaten von Peter Schneider und Horst Ehmke über die "Prinzipien der Verfassungsinterpretation" sowie den dazu abgegebenen Stellungnahmen in den Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 20 (1963) S. 1 ff. u . 53 ff. zu entnehmen. Grundlegend sodann Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsin­

terpretation, Berlin 1967, Peter HäDerle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpre­

ten, in: Juristenzeitung 1975, S. 297-305 und Friedrich Müller, Juristische Methodik, 2. A.

Berlin 1976. Eine Zwischenbilanz bietet Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation. Bestandsaufnahme und Kritik, in: Neue Juristische Wochen­

schrift 1976, S. 2 089-2099. Weiterführend sodann noch Bernhard Scnlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 19 (1980) S. 73 ff. Zur österreichischen Verfassungsinterpretationslehre vgl. vor allem Heinz Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich. Eine kritische Bestandsaufnahme, Wien-New York 1971; ders., Die Interpretation, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Das österreichi­

sche Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, S. 57-81 m. w.

Nachw. und ebd. S. 67 f mit dem Hinweis, dass sich in Osterreich unter dem Einfluss der Reinen Rechtslehre eine methodisch reflektierte Lehre von der Verfassungsinterpretation erst spät entwickelt habe. Ferner Ludwig. K. Adamovich u. Bernd-Christian Funk, Öster­

reichisches Verfassungsrecht, Wien-New York 1982, S. 32 ff. - Für die Schweiz habe ich eine ähnlich weit vorangetriebene Diskussion der Verfassungsinterpretation, die über eine Reflexion des Verhältnisses von Bundesstaat und Kanton hinausginge, nicht feststellen können.

richtshof am Vorrang des Verfassungswortlautes festgehalten.18 Diesem gerecht zu werden bleibt die erste Aufgabe jeder Verfassungsinterpretation.

Vielfach indessen f ührt dieser Weg nicht weiter. Ernst-Wolfgang Böcken­

förde hat darauf aufmerksam gemacht, dass jedes Verfassungsgesetz unvoll­

ständig sein muss, weil es auf dem Felde des politischen Handelns nur eine Rahmenordnung errichten kann.19 Für die liechtensteinische Verfassung ist diese Beobachtung nur zu bestätigen. Ist das in der klassischen Methodolo­

gie aber so genannte Lückenproblem im Bereich des Verfassungsrechts ein strukturelles, ist die Offenheit der Verfassung von ebensolcher. Bedeutung wie ihr normatives Gerüst, dann gewinnt die verfassungspolitische Argu­

mentation und Diskussion nicht nur tatsächlich an Gewicht, sondern auch gleichsam eine verfassungsrechtliche Qualität. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die verschiedenen topischen, problemorientierten, methodologi­

schen Ansätze vorzustellen.20 Wichtig ist nur die Einsicht, dass das Reser­

voir der für die Interpretation heranzuziehenden Argumente nicht begrenz­

bar ist. Denn mit der Auslegung der Verfassung wird stets zugleich ein Stück Verfassungspolitik betrieben, die ihre Impulse aus der allgemeinen politischen Situation und aus den in der Gesellschaft wirkenden Zielvorstel­

lungen empfängt. Peter Häberle hat insofern mit Recht von der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" gesprochen, an welcher gesell­

schaftliche Kräfte aller Art beteiligt sind.21 D as ist zunächst ein empirischer Befund, der die tatsächliche Situation jedenfalls der europäischen Gross­

staaten zutreffend erfässt. Es sind aber auch die Verhältnisse in einem Klein­

staat wie Liechtenstein nicht grundsätzlich anders geartet, wie ein Blick in die Presse dieses Landes zeigt. Die Feststellung, dass die Verfassungsinter-pretätion sich in der Öffentlichkeit unter Beteiligung vieler vollzieht, ist allerdings von der normativen Frage zu unterscheiden, wie der damit nolens volens in Gang kommende stillschweigende Verfassungswandel mit dem Geltungsanspruch der Verfassungsurkunde zu vereinbaren ist. Der Schritt von der Empirie zur Normativität ist begründungsbedürftig. Häberle ent­

18 Schiffer, Interpretation (FN 17), S. 70. Nur am Rande ist hier auf die sog. "Versteinerungs­

theorie" des österreichischen Verfassungsgerichtshofes hinzuweisen, da deren Bedeutung

• b egrenzt ist: sie schreibt die objektiv-historische Interpretation, bezogen auf den Zeitpunkt des ersten Inkrafttretens der Verfassung, nur für die bundesstaatliche Kompetenzverteilung fest, vgl. Schiffer, ebd. S. 71 f.; ferner Adamovich-Funk (FN 17), S. 35.

" Böckenförde (FN 17), S; 2098 f.

20 Vgl. dazu die Bestandsaufnahme von Böckenförde (FN 17), S. 2090 ff. m. w. Nachw.

21 Häberle (FN 17), S. 297: "In die Prozesse der Verfassungsinterpretation sind potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet . . . Ihre Kriterien sind so offen, wie die Gesellschaft pluralistisch ist."

spricht diesem Erfordernis, indem er auf das demokratische Prinzip auch als Legitimation und Motor der Verfassungsinterpretation verweist.

Aber genügt dieser Hinweis, um die in der Literatur so genannte "nor­

mative Rückbindung" der Verfassungsinterpretation zu gewährleisten?

Dass Völker irren können und dazu neigen, aufgeklärte Verfassungs­

grundsätze durch atavistisches Gruppenverhalten zu ersetzen, ist nur zu gut bekannt. Man muss wohl ergänzend jenen Gedanken heranziehen, den Peter Häberle selbst in seiner Schrift über "Verfassungslehre als Kulturwis­

senschaft" gerade auch für die Verfassungsinterpretation nutzbar gemacht hat.22 So wie die Verfassung aus einem bestimmten Kulturzusammenhang herausgewachsen ist, so muss auch ihre Auslegung "kulturspezifisch" blei­

ben - nicht nur als tatsächliche Abhängigkeit von den kulturellen, zugleich auch mentalen und sozialen Faktoren der gesellschaftlichen Umwelt, son­

dern auch im Sinne einer Pflicht, den Verfassungstext gemäss den ihm inne­

wohnenden kulturellen Traditionen zu verstehen und kontinuierlich dem Wandel des kulturellen Umfeldes entsprechend fortzuschreiben.

IV.

Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein beruht, einem klassischen Gedanken der Aufklärung entsprechend,23 auf einem Vertrag zwischen Fürst und Volk.24 Sie ist nic ht lediglich Willensemanation eines einheitlich gedachten Subjekts - des Volkes - und dessen alleinigem Willen stets anver­

traut, sondern Ergebnis der Willenseinigung zweier Verfassungsparteieri.

Daraus folgt eine spezifische, eben vertragsrechtlich begründete, Verbind­

lichkeit der Verfassung. Die in republikanisch-demokratischen Gesellschaf­

ten festzustellende Offenheit des Verfassungswesens stösst in Liechtenstein

22 Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1982, insbes. S. 27 ff. Vgl. a.

Schäffer, Interpretation (FN 17), S. 79: "Verfassungsinterpretation steht stets im Kontext aller rechtskulturellen Zusammenhänge, Bedingungen una Vorstellungen."

23 Vgl. dazu Hasso Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht Politik -Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt/Main 1986, S.

261 ff., 266 ff., 271 f. und Gerhard Dilcher, Vom ständischen Herrschaftsvertrag zum Ver­

fassungsgesetz, in: Der Staat 27 (1988) S. 161 ff., beide m. w. Nachw. - Beide Texte wurden 1985 aufaer Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vorgetragen und diskutiert.

24 Zum Meinungsbild vor 1921 vgl. Herbert Wille, Landtag und Wahlrecht im Spannungsfeld der politischen Kräfte in der Zeit von 1918-1939, in: Beiträge zur geschichtlichen Entwick­

lung der politischen Volksrechte, des Parlaments und der Gerichtsbarkeit in Liechtenstein (Liechtenstein Politische Schriften 8), Vaduz 1981, S. 59 ff., 118 ff.: ferner Willoweit (FN 9), S. 122 ff.; ders. (FN 15), S. 510.

also auf eine juristische Barriere insofern, als die Rechte der Verfassungspar-teien zu respektieren sind. "Rückbindung an •Normativität" heisst im Für­

stentum Liechtenstein konkret: Bindung an den geschlossenen Verfas­

stentum Liechtenstein konkret: Bindung an den geschlossenen Verfas­