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Drei systemtheoretische Perspektiven

2. Drei systemtheoretische Modelle des Kleinstaats Vorbemerkung

Die Welt der sozialen Phänomene ist ganz allgemein eine noch wenig erforschte Welt, und deshalb verwundert es nicht, dass wir sie mit Hilfe von Begriffen und Gesetzmässigkeiten zu verstehen suchen, die wir in anderen, uns besser vertrauten Bereichen der Realität erarbeitet und ausgetestet haben.

Wenn Soziologen beispielsweise von "Gleichgewichten", von "sozialen Bewegungen", von "Schichtung", "Aufstieg" oder von "Spannungen" usw.

sprechen, gebrauchen sie Metaphern aus der physikalisch-anorganischen Welt. Konzepte wie "Wachstum", "Entwicklung", "Organisation", "Evo­

lution", "Differenzierung" können andererseits ihre Herkunft aus der bio­

logischen Erfahrungswelt nicht verleugnen; sie verweisen auf die vor allem auf He rbert Spencer zurückgehende Tradition, menschliche Gesellschaften nach dem Modell des "Organismus" zu begreifen,- dessen Einzelkompo­

nenten in funktionalen Komplementaritätsverhältnissen zueinander stehen.

Die schillernd-vielversprechenden und vielfach überstrapazierten Begriffe "System" und "Systemtheorie" erfüllen in diesem Zusammenhang eine durchaus wichtige Funktion, weil sie dazu dienen, diesen Austausch von Begriffen, Modellen und theoretischen Paradigmata zwischen verschie­

denen Disziplinen zum expliziten, systematisch betriebenen wissenschaftli­

chen Programm zu erheben.

Wer als Soziologe von "Systemen" spricht, zwingt sich andauernd dazu, seine sozialen Erfahrungsobjekte in einen breiteren, supradisziplinären Ver­

gleichshorizont einzuordnen und sie mindestens implizit in eine Beziehung mit Objekten der Biologie wie auch der anorganischen Wissenschaften zu

setzen. Man erklärt sich einerseits bereit, etwa aus den Erfahrungen der Physiologie, der Ökologie, der Meteorologie oder selbst der elektronischen Netzwerkanalyse zu profitieren; und andererseits kündigt man den Anspruch an, mit seinen eigenen Erkenntnissen nicht bloss zur Überprü­

fung einer soziologischen Theorie beizutragen, sondern Beiträge zu einer viel umfassenderen Theorie der Systembildungen zu liefern.

Dieser programmatische Anspruch auf interdisziplinären Austausch und auf sup radisziplinäre Integration ist wohl das gewichtigste positive Argu­

ment, das man zugunsten der "Systemtheorie" vorbringen kann. Denn unter dem Aspekt ihrer ambitiösen Zielsetzung bleibt die systemtheoreti­

sche Perspektive auch dann sinnvoll, wenn ihre wissenschaftlichen Integra­

tionsleistungen bisher nicht sehr überzeugen.

Der Erkenntnisgewinn, der mit dem Import von Begriffen und Modell­

vorstellungen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen verbunden ist, hängt nun allerdings stark davon ab, auf welche nichtsoziologische Diszi­

plin man rekurriert.

Rückgriffe auf physiologische od er ökologische Modelle haben generell den Nachteil, dass es sich hier ebenfalls um relativ wenig konsolidierte Dis­

ziplinen handelt, die bisher keine allgemein überzeugenden Theorieansätze mit umfassender Erklärungskraft ausgebildet haben.

Physikalische Modell e haben demgegenüber den Vorzug, dass sie ihre Bewährung im ungleich umfassenderen Feld aller anorganischen Objekte gefunden haben und ihre Evidenz aus methodisch stringenten Experimen-taluntersuchungen gewinnen können.

Maximale Evidenz kommt aber allein jenen Theoriemodellen zu, die sich auf logisch-mathematische Beziehungen abstützen können: also auf Gesetz­

mässigkeiten, die nicht bloss für alle real erfahrbaren, sondern sogar für alle potentiell vorstellbaren Objekte Geltung beanspruchen dürfen.

Im folgenden werden nun drei Theoriemodelle vorgestellt, die tatsäch­

lich auf dieser fundamentalsten Ebene unserer wissenschaftlichen Erkennt­

nis basieren und deshalb auch dazu geeignet sind, als f undierende Aus­

gangspunkte einer soziologischen Kleinstaattheorie zu dienen.

2.1 Das "Oberflächenmodell"

Genauso wie alle ge ometrischen Flächenfiguren unterliegen auch Staaten der Gesetzmässigkeit, dass - bei gleichbleibender Form - die Länge ihrer Aussengrenzen bloss in degressivem Verhältnis zur Innenfläche wächst.

Wenn der kreisförmige Staat B beispielsweise die vierfache Fläche des kreisförmigen Staates A aufweist, so ist seine Landesgrenze bloss doppelt so lang (Abb. 1).

Abb. 1: Zusammenhang zwischen Fläche/Bevölkerungsgrösse und Grenzumfang

Sind beide Staaten gleich dicht besiedelt, so folgt daraus beispielsweise, dass der Kleinstaat eine im Verhältnis zur Fläche und Einwohnerzahl -umfangreichere soziale Kontaktfläche zur Umwelt aufrechterhält und ihr relativ offener und verletzlicher gegenübersteht.

Im Falle eines militärischen Angriffs beispielsweise muss er einen grösse­

ren Prozentanteil seiner gesamten Bevölkerung an die Grenzen stellen, um sie ebenso wirksam wie einen Grossstaat zu verteidigen.

Die defensive Verteidigungsfähigkeit kleiner Staaten ist deshalb nicht bloss proportional, sondern überproportional geringer als diejenige grösse­

rer Nationen: denn zum geringen absoluten Umfang ihrer Verteidigungs­

kräfte tritt hinzu, dass diese eine relativ umfangreiche Grenze zu bewachen haben. Irgendwo existiert deshalb eine Grössenschwelle, unterhalb der die Verteidigung derart aussichtslos wird, dass der Staat überhaupt keine eige­

nen Anstrengungen mehr dazu unternimmt: so wenig wie ein einzelner Hausbesitzer seine Liegenschaft in alle vier Richtungen bewachen kann, um sich gegen Überfälle zu schützen. Ahnlich wie der wehrlose Einzelbür­

ger wird sich deshalb auch der Kleinstaat unter den Schirm einer umfassen­

deren Schutzmacht begeben und sich für die Geltung einer Friedens- und Rechtsordnung einsetzen, die das Risiko von Gewaltanwendungen redu­

ziert.

Durch die Befriedung internationaler Verhältnisse werden die Autono­

miechancen kleiner Staaten deshalb disproportional stark erhöht: weil sie es sich dann sparen können, sich in starke Abhängigkeit von einer einzelnen Schutzmacht zu begeben.

Bei unbefriedeter Umwelt hingegen hängt das Überleben kleiner Staaten stark davon ab, dass sie über einen geographischen Standort mit einem geringen Anteil an penetrierbaren Aussengrenzen verfügen (z. B: Lage am Meer, auf Lagunen, auf I nseln oder im Gebirge) oder dass es ihnen durch Erhöhung ihrer Bevölkerungsdichte und/oder durch Annäherung an die Form eines Kreises (der von allen geometrischen Figuren gleicher Fläche den kleinsten Umfang hat) gelingt, ihr Handikap der Exponiertheit zu reduzieren.

Die relativ umfangreiche Kontaktfläche zwischen System und Umwelt führt ausserdem dazu, dass im Kleinstaat - bei gleicher Dichte und Vertei­

lung der Bevölkerung - ein grösserer Prozentanteil aller E inwohner nahe der Landesgrenzen wohnt und dadurch vielfältigen ausländischen Einflüs- ;

sen ausgesetzt ist, die sich in Grossstaaten auf winzige Bruchteile der Popu­

lation beschränken.

In Mikrostaaten wie dem Fürstentum Liechtenstein gibt es überhaupt nur Grenzbewohner, und praktisch alle B ürger erfahren in ihrem Alltag jene charakteristischen Probleme der "Grenzrolle", wie sie vor allem in der Organisationssoziologie (vgl. z.B. Luhmann 1964:223f.) ausführlich disku­

tiert worden sind:, etwa die widersprüchliche Forderung, einerseits ihre Eigenidentität zu wahren und als Repräsentanten ihres Landes zu agieren, und auf der andern Seite den davon abweichenden Normen und Erwartun­

gen ihrer ausländischen Interaktionspartner Rechnung zu tragen.

Kleinstaaten leben permanent in einem Zustand "natürlicher Zentrifuga-lität", weil ihre Bewohner im Rahmen ihrer alltäglichen Lebensführung ständig genötigt. sind, ihre Aufmerksamkeit systemexternen Personen, Ereignissen oder Kommunikationen zuzuwenden und sich an exogen kon­

stituierte Situationsbedingungen zu adaptieren (vgl. z.B. Deutsch 1960).

Deshalb besteht ihr wichtigstes Bestandesproblem darin, dieser Zentrifuga-lität eine ständige Anstrengung zur Integration und Identitätsbewahrung entgegenzusetzen.

Der heimatlich gesinnte Liechtensteiner zum Beispiel rafft sich dazu auf, die nicht besonders attraktiv gestalteten einheimischen Zeitungen zu lesen, anstatt sich viel mü heloser von ausländischen Fernsehprogrammen berie­

seln zu lassen. Und das liechtensteinische Volk insgesamt würde für seine nationale Identität keinen Verankerungspunkt mehr finden, wenn nicht eine gegenüber dem gesamten europäischen Ausland scharf profilierende politische Institution (das Fürstentum) als Fokalzentrum binnennationaler Orientierung wirksam wäre.

Nur unter Aufbietung bewusster Anstrengungen auf individ ueller und kollektiver Ebene bleibt man lebenslänglich im innerlichen Sinne "Liech­

tensteiner", wenn man täglich vorwiegend mit Schweizern oder Österrei­

chern zu tun hat und wenn man in einem Meer von Kommunikationen und kulturellen Produktionen schwimmt, die alle den Stempel exogener Her­

kunft tragen.

Franzose, Engländer oder Amerikaner bleibt man demgegenüber allein dadurch, dass man seine alltäglichen Kontakte pflegt und die im Lande selbst erzeugten Produkte und Informationen rezipiert. Konträr zum Kleinstaat entsteht in grossen Staaten aus dem Eigengewicht endogener Interaktionsprozesse nämlich eine "natürliche Zentripetalität" und sich selbsttragende Integration, die keiner Verstärkung durch zusätzliche Anstrengungen und artifizielle Veranstaltungen bedarf. Genau umgekehrt muss ein planvoller Aufwand betrieben werden, um (z.B. durch das Erler­

nen von Fremdsprachen, durch Studentenaustauschprogramme oder das Forcieren des Aussenhandels) gegenüber dem internationalen Raum eini-germassen offen zu bleiben.

So können die grösseren europäischen Staaten beispielsweise erst durch Integration in die Europäische Gemeinschaft jenen Grad an transnationaler Verflechtung erreichen, der sich in Kleinstaaten schon lange vorher aus dem Normalverhalten ihrer Bevölkerung und Unternehmungen ergab.

Umgekehrt bildet die formelle Nichtteilnahme an supranationalen Orga­

nisationen für Kleinstaaten häufig ein Mittel, um der hohen informellen Auslandsverflechtung ein - vielleicht nur symbolisches - Element der Distanzierung entgegenzusetzen, anstatt sie durch formelle Mitgliedschaft noch weiter zu erhöhen.

Eine etwas speziellere Version des "Oberflächenmodells" stammt von Peter M. Blau, der in seinem überaus fruchtbaren theoretischen Werk

"Inequality and Heterogeneity" die Auswirkungen diadischer Beziehungen zwischen Mitgliedern verschieden grosser Kollektive untersucht (Blau 1977).

Wenn man beispielsweise davon ausgeht, dass zwischen einem Staat K mit 1 Mio. und einem Staat G mit 50 Mio. Einwohnern lOO'OOO bila terale Beziehungen (z.B. Geschäftskontakte oder Eheschliessungen) bestehen, so sind im kleinen Staat, 10 % aller Einwohner, im Grossstaat hingegen nur 0.2 % der Bevölkerung in solche transnationale Interaktionen involviert.

Gemäss Blau hat diese Asymmetrie zur Folge, dass im kleinen Kollektiv eher eine Kultur entsteht, die durch adaptive Flexibilität, intellektuelle

Offenheit, Toleranz und universalistische Normen gekennzeichnet ist: also eine Kultur, die es leichter macht, auch zwischen verschiedenartigen Indivi­

duen oder Gruppen innerhalb des Kollektivs einen guten Modus vivendi zu stiften.

Eine zweite Folge besteht nach Blau darin, dass K sehr umfassende und differenzierte Kenntnisse über die Zustände und Ereignisse in G gewinnt, während, das kognitive Bild, das G über K ausbildet, schemenhaft und unvollständig bleibt. Dies wiederum bedeutet, dass K besser in der Lage ist, gegenüber G rationale und wirkungsvolle Handlungsstrategien zu ent­

wickeln als umg ekehrt: so dass K (ähnlich wie David gegenüber Goliath) durch Wissen und Schlauheit teilweise wettmachen kann, was ihm an quan­

titativen Einsatzmitteln fehlt (vgl. Blau 1977:19ff.).

Unter der Perspektive des symbolischen Interaktionismus könnte man hinzufügen, dass K seitens seiner Interaktionspartner kein klar konturiertes Fremdbild angeboten erhält und deshalb auch mehr Mühe hat, ein klares Selbstbild über seine eigene Identität und soziale Stellung zu entwickeln. So muss beispielsweise ein Liechtensteiner, Isländer oder Andorraner aus eige­

ner Anstrengung Vorstellungen darüber entwickeln, was sein Volk und sein Land an Besonderheiten an sich hat, weil niemand sonst in der Lage ist, es ihm deutlich zu sagen.

Von grösster (theoretischer und praktischer) Bedeutung ist nun Blaus Einsicht, dass jede Zunahme in der absoluten Zahl intersystemischer Bezie­

hungen zur Folge hat, dass sich dieser grössenbedingte Unterschied im externen Verflechtungsgrad verstärkt:

Grossstaat Kleinstaat (50 Mio. Einw) (1 Mio. Einw.)

0 Beziehungen 0% 0%

lOO'OOO B eziehungen 0.2 % 10%

300'000 Beziehungen 0.6% 30 %

1 Mio. Beziehungen 2% 100 %

Auf einen grossen Staat wirkt sich selbst eine Vervielfachung zwischenstaatlicher Kontakte nur unwesentlich aus, während es im Klein­

staat leicht geschehen kann, dass praktisch alle Einwohner in derartige Beziehungen einbezogen werden.

So hat die mit dem generellen gesellschaftlichen Modernisierungsprozess verbundene Ausweitung transnatioiialer Beziehungen dazu geführt, dass

Klein- und Grossstaaten sich hinsichtlich des Grades externer Verflechtung (und den damit verknüpften Risiken der "Überfremdung") drastischer als in früheren Zeiten voneinander unterscheiden; und der Prozess der Europäischen Integration wird dazu beitragen, dass diese Diskrepanzen sich weiter intensivieren.

Je kleiner ein Staat, desto deutlicher sieht er sich vor das Dilemma gestellt, dass zusätzliche Entwicklungsschritte nur unter Hinnahme wach­

sender transnationaler Verflechtungen zu realisieren sind, die sich für die nationale Autonomie und Identität als Bedrohung erweisen.

Dies hat zur Folge, dass Kleinstaaten der Frage supranationaler Integra­

tion oft mit besonderer Ambivalenz gegenüberstehen und in der Gastarbei­

ter- wie auch in der Aussenhandelspolitik häufig eine zwischen ökono­

misch bedingter. Öffnung und kulturell motivierter Abschliessung oszillierende Politik betreiben. Möglicherweise erklärt sich daraus auch ihre z.B. von Eisenstadt (1985) und Katzenstein (1985) diagnostizierte Nei­

gung, eine relativ scharfe Trennung zwischen dem exportorientierten Wirt­

schaftssektor und einer gegenüber Auslandsverflechtungen relativ stark abgeschirmten Binnenwirtschaft aufrechtzuerhalten.

2.2. Das "Differenzierungsmodell"

Auch dieser zweite theoretische Ansatz lässt sich auf Überlegungen formal­

logischer Natur fundieren, die für alle Bereiche der empirischen Realität Geltung haben und deshalb maximale Evidenz beanspruchen dürfen.

Die Prämisse lautet hier, dass es einen zwingenden Zusammenhang gibt zwischen der Zahl der Elemente, aus denen ein Objekt besteht, und dem maximalen Grad an Heterogenität (bzw. "Differenzierung"), den es errei­

chen kann.

So gilt beispielsweise, dass hochkomple xe Makromoleküle aus Hunder­

ten oder Tausenden von Einzelatomen und differenzierte biologische Orga­

nismen aus Milliarden von Einzelzellen bestehen und dass menschliche Kollektive sehr gross werden müssen, um die Vielfalt verschiedener Rollen, Organisationen und Institutionen ausbilden zu können, die wir mit der Vorstellung einer "modernen Industriegesellschaft" verbinden.

Vor allem ist evident, dass die Zahl verschiedener Berufe innerhalb eines Staates kaum grösser als die Zahl seiner berufstätigen Einwohner sein kann (weil jede Person normalerweise nur einen Beruf gleichzeitig ausüben kann), und dass hinsichtlich der möglichen Zahl und Vielfalt betrieblicher

Organisaäonen oder Berufsverbände noch ungleich grössere Restriktionen bestehen. .

: Viele empirische Untersuchungen (vor . allem au s der Organisationsso­

ziologie) weisen darauf hin, dass die Vielfalt verschiedener Rollen und ande­

rer Komponenten in degressivem Verhältnis zur, absoluten Grösse steigt (vgl. z. B. Blau 1970).

Auf Kleinstaaten angewendet heisst dies, dass sie im Verhältnis zu ihrer kleinen Bevölkerung eine relativ breite Palette von beruflichen Spezialisie­

rungen besitzen, ein überraschend reiches Spektrum verschiedener Güter und Dienstleistungen erzeugen, eine erstaunlich hoch differenzierte öffent­

liche Verwaltung ausbilden und auch recht vielseitige kulturelle und wissen­

schaftliche Leistungen produzieren (Abb. 2).

Abb. 2: Zusammenhang zwischen Systemgrösse und. dem Grad an funktionaler Differenzierung'

Dies wiederum impliziert, dass sehr viele dieser Komponenten nur singulär oder in wenigen Exemplaren vorkommen, was häufig ihre Institutionali-sierbarkeit und zuverlässige Funktionssicherung behindert.

So lohnt es sich beispielsweise nicht, für verschiedene Berufe eigene Schulen und Lehrgänge einzurichten oder für verschiedene Gewerbe und Branchen Verbände: zu gründen, weil die Zahl der Funktionsträger zu gering ist und im Zeitablauf zu unregelmässig variiert. Die öffentliche Ver­

waltung bleibt eine Ansammlung von Einzelbeamten, von denen jeder über völlig andersartige Aufgaben, Kenntnisse und Qualifikationen als jeder andere verfügt; der Konkurs einer einzelnen Firma kann bedeuten, dass der Staat in der internationalen Konkurrenz ein ganzes Branchensegment ein-büsst; und der Tod eines einzigen Schriftstellers oder Künsders mag bewir­

ken, dass das Land auf längere Zeit seine internationale kulturelle Ausstrah­

lung verliert.

Viele sehr wichtige Funktionen sind also an die Leistungsfähigkeit ein­

zelner Individuen, Institutionen oder Organisationen gebunden, die dadurch nolens volens einen "quasi-öffentlichen" Status zugewiesen erhal­

ten und einem sehr belastenden Erwartungs- und Disziplinierungsdruck unterliegen. Wenn ein liechtensteinischer Jurist beispielsweise eine verfas­

sungsrechtliche Frage oder ein Historiker eine besondere geschichtliche Periode seines Landes untersucht, sieht er sich häufig in der zwar einerseits schmeichelhaften, andererseits aber auch drückend-verantwortungsvollen Rolle einer "autoritativen Letztinstanz": weil niemand anderer da ist, um seine Arbeit zu ergänzen oder seine Irrtümer zu berichtigen.

Je mehr ein Kleinstaat bestrebt ist, trotz seiner begrenzten personellen Basis ein Maximum an funktionaler Differenzierung zu realisieren, desto mehr muss er in Kauf ne hmen, dass vielerlei Funktionen an Einzelakteure gebunden bleiben, die ihre Idiosynkrasien zur Geltung bringen und bei ihrem Ausscheiden oft unersetzliche Erfahrungen und Kenntnisse sowie wertvolle persönliche Beziehungen mit sich nehmen.

Die Grenzen funktionaler Differenzierung werden noch drastischer sichtbar, wenn der Kleinstaat gezwungen ist, die auf eine bestimmte Funk­

tion spezialisierten Personen auf eine Vielzahl verschiedener Stellen zu ver­

teilen. So waren Kleinstaaten auf dem Parkett klassischer inte rnationaler Beziehungen bisher erheblich handikapiert, weil sie nicht in der Lage waren, in allen wichtigen Staaten diplomatische Vertretungen aufrechtzuer­

halten. Supranationale Organisationen wie die EG haben demgegenüber den immensen Vorteil, dass ein Kleinstaat mit Hilfe einer einzigen Vertre­

tung in die Lage versetzt wird, zu vielen Staaten Kontakte zu pflegen: was ihm dann ermöglicht, diese eine Aussensteile mit mehreren funktionsmässig spezialisierten Personen zu dotieren.

Im Laufe der Geschichte, insbesondere aber in moderner Zeit haben Kleinstaaten eine Vielzahl von Strategien entwickelt, um trotz ihrer begrenzten Kapazitäten funktionaler Differenzierung erfolgreich in einer permanent differenzierter werdenden globalen Gesellschaft zu bestehen. Im folgenden sollen nur drei solcher Strategien näher angesprochen werden, die zum grossen Teil erklären, warum es den Typus des "erfolgreichen Kleinstaats" überhaupt gibt und darüber hinaus Hinweise vermitteln, auf welche Weise sich Kleinstaaten auch in Zukunft ihre Überlebens- und Ent­

wicklungschancen sichern können.

2.2.1. Spezialisierung auf polyvalente Güter und Dienstleistungen

Hochspezialisierte kleine Volkswirtschaften halten sich besser von jenen Branchen fern, wo die Produktionsverfahren und/oder die Endprodukte einem starken (z.B. technologisch oder kulturell bedingten) zeitlichen Wan­

del unterliegen.

Zu stark würden sie sich als Ganzes von vielerlei Ereignissen und Ent­

wicklungen abhängig machen, die sich ihrer Kontrolle völlig entziehen; und zu sehr wären ihre permanent zur Neuorientierung gezwungenen -Unternehmungen ani Aufbau durchrationalisierter und kapitalintensiver Verfahrensweisen gehindert, wie sie für eine effiziente, kostengünstige Pro­

duktionsweise fast überall die Voraussetzung bilden.

Deshalb haben sich wirtschaftlich erfolgreichere Kleinstaaten zu allen Zeiten vorrangig jenen Produkten oder Dienstleistungen zugewandt, die dank ihrer vielseitigen Verwendbarkeit ("Polyvalenz") Gewähr für eine sta­

bile Nachfrage bieten (vgl. Geser 1980).

Dazu gehören beispielsweise Rohmaterialien und Investitionsgüter, bei denen die Nachfragestabilität darauf beruht, dass sie für die Herstellung vielfältigster, beliebig variierender Endprodukte die Voraussetzung bilden.

• Im Falle der Schweiz hat sich beispielsweise eine-Spezialisierung der Exportproduktion auf die Elektrotechnik lange Zeit als funktional erwiesen, weil derartige Geräte in praktisch allen Sparten industrieller Produktion Verwendung finden; und die Uhrenindustrie konnte ihre Stabilität darauf gründen, dass moderne Menschen ungeachtet ihrer wandelbaren Lebens­

zwecke und Lebensinhalte immer dasselbe Bedürfnis, Zeitspannen zu mes­

sen und die genaue Tageszeit zu wissen, beibehalten.

Aus dieser Perspektive muss heute allen Kleinstaaten dringend eine Spe­

zialisierung auf informations- und kommunikationstechnologische Hard­

wareerzeugnisse empfohlen werden: z. B. auf Chips und Prozessoren; die an Computern aller Gebrauchszwecke auf völlig identische Weise Verwen­

dung finden.

Zweitens sehen sich Kleinstaatökonomien vorrangig auf Branchen mit besonders polyvalenten Produktionsprozessen verwiesen, bei denen es gelingt, mit einer geringen Zahl verschiedener Grundstoffe und Manipula­

tionsweisen eine unabsehbare Vielfalt verschied enartiger Endprodukte zu erzeugen. Dies gilt natürlich beispielsweise für den Bereich der organischen Chemie, wo es einer Einzelunternehmüng leicht gelingt, ihre auf Naphtha oder andern Universalsubstanzen beruhenden Produkte in verschiedenste

Märkte (Pharmazeutika, Farben, Düngemittel etc.) einfliessen zu lassen und dadurch auch zur Streuung makroökonomischer Risiken einen bedeutsar men Beitrag zu leisten.

Und drittens suchen praktisch alle K leinstaaten sich im Bereich jener infrastrukturellen oder auxiliären Universalfunktionen gute Marktpositio­

nen zu sichern, die vom konkreten Charakter der Produktionsprozesse oder Produkte völlig unabhängig sind und deshalb oft nicht nur über Jahr­

zehnte, sondern über Jahrhunderte eine invariante Bedeutung behalten.

Bereits seit der Bronzezeit haben sich beispielsweise die Funktionen des Transports und Handels gegenüber der Güterproduktion derart stark verselbständigt, dass maritime Seefahrerstaaten (Phönizier, Karthago, Vene­

dig, Genua, Holland) immer wieder ein mit ihrem geringen militärischen Potential erstaunlich kontrastierendes Mass an Autonomie und Prosperität erringen konnten. Während diese traditionelle Spezialisierung heute in

"Völkern von Lastwagenfahrern" (z.B. Niederlande) eine etwas weniger ruhmvolle Fortsetzung findet, haben sich im Bereich des Treuhand-, Ban­

ken- und Versicherungswesens, des Wirtschaftsrechts und der Unterneh­

mensberatung vielerlei neue, stark expandierende Universalfunktionen aus­

differenziert, die kleinstaatlichen Volkswirtschaften ein sich ständig weitendes Feld von relativ zuverlässigen Entfaltungschancen bieten.

Mehr noch als die Schweiz tragen Länder wie Singapur, Liechtenstein, Monaco und in seiner speziellen Weise auch der Vatikan dazu bei, dass man

Mehr noch als die Schweiz tragen Länder wie Singapur, Liechtenstein, Monaco und in seiner speziellen Weise auch der Vatikan dazu bei, dass man