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schaftlichen Verfassungstheorie des Kleinstaates, seine strukturelle und iunktionelle Offenheit,

2. Kulturelle Rezeptionen, insonderheit fremden Rechts (Chancen und Leistungen)

Die Kleinheit an Volk und meist auch an Raum, die spürbare Umgrenzung und Beschränkung und die ebenfalls mit der kleinstaatlichen Struktur zusammenhängende Knappheit kultureller Ressourcen ganz allgemein zwingt die hier behandelte Beispielsgruppe des Verfassungsstaates, den Kleinstaat, zu einer spezifischen Offenheit und Öffnung nach aussen. Die kulturelle Rezeption einschliesslich der Rezeption fremder Rechte und ihre Anverwandlung zu einem eigenwüchsig werdenden Ensemble von "Misch­

recht" bildet das zweite Signum des Kleinstaates. Und sie ist zugleich modellhaft für neueste Entwicklungen aller Verfassungsstaaten: ihre wach­

sende Integrierung in einen Verbund anderer Verfassungsstaaten und das Entstehen gemeinsamer Rechtsordnungen (Rechtsgemeinschaften), man denke an das Europarecht im engeren Sinne (EG), aber auch an das im wei­

teren Sinne (Europarat, EMRK, ESC, Europäisches Kulturabkommen und die Europäische Charta der Kommunen, die KSZE) bzw. ihre alle klassi­

schen Souveränitätsideologien hinter sich lassenden überstaatlichen Zusam­

menschlüsse. Die schon beschriebene Dialektik von Begrenzung und Öff­

nung, von "Grenze und Brücke", von Beschränkung auf das Kleinere und Offenheit für das Grössere ist auch hier nachweisbar. Was im grossen immer deutlicher zu einer Dimension heutiger Entwicklungen des weltweit attraktiv, werdenden Verfassungsstaates wird, hat der Mikrostaat im Klei­

nen schon "vorgemacht". Es ist zu vermuten, dass manche seiner Rezepti­

onsvorgänge, - inhalte und -funktionen Vorbildwirkung für den Verfas­

sungsstaat im allgemeinen entfalten können. Umgekehrt vermag der Klein­

staat von heute seine Rezeptionsmethoden an den Integrationsvorgängen der grösseren Verfassungsstaaten zu schulen, vor allem sollte er sich tun­

lichst in übernationale Rechtsgemeinschaften einbringen - wie dies Liech­

tenstein ja plan- und zielmässig gelingt. Leitbild ist bei all dem der "koope­

rative Verfassungsstaat", d. h. der von vornherein verflochtene und auf viel­

fältige Kooperation angewiesene Verfassungsstaat; er besitzt im (konstitu­

tionellen) Kleinstaat nur ein besonders anschauliches Beispiel.57

Rezeptionen sind ganz allgemein ein typischer Vorgang des Entstehens, Verbreitens, Weiterwachsens und auch der Umformung und Variation der Aneignung von Kultur. Sie müssen zentraler Gegenstand allen kulturwis­

senschaftlichen Arbeitens sein. Hier kann nur ein Ausschnitt behandelt werden: die Rezeption von fremden Rechtsordungen, ganz oder in Teilen.

Wie erwähnt, entwickelt sich der Typus Verfassungsstaat heute in weltwei­

ten Produktions- und Rezeptionszusammenhängen, die sich auf Verfas­

sungstexte, Verfassungsdogmatik und -rechtsprechung beziehen, aber auch auf Prinzipien des einfachen Rechts, ganze Kodifikationen oder einzelne Gesetzeswerke erstrecken. Eine Rezeptions-Theorie in diesem Sinne ist erst im Werden.58 Immerhin kann schon auf einige Problemformulierungen ver­

wiesen werden: Rezeptionen von Rechten sind zunächst passiv, sie haben aber auch eine aktive und aktivierende Komponente, vor allem entwickelt das Rezipierte im neuen, fremden Kontext eigene Inhalte und Funktionen.

Der Kleinstaat ist spezifisch auf Rezeptionen angewiesen, er vermag sich so besser zu behaupten, aber zugleich in grössere Rechtszusammenhänge einzufügen. Er greift das Nahe, besonders der Nachbarn auf, aber er macht es zur eigenen Sache, verwandelt es und schmilzt es meist so ein, dass seine Rechtsordnung im ganzen nach wie vor diejenige Integrationsleistung erbringt, die etwa ein H. Heller von der Rechtsordnimg für den Staat ver­

langt.5' So kommt es zu der hier und heute zitierten "Adaption und Innova­

tion", zur Offenheit und Identitätsgewinnung. Die offene Gesellschaft des Kleinstaates verschafft sich dank fortlaufender Rezeptionen ein Stück der eigenen unverzichtbaren kulturellen Identität. Rezeption als Integration, Innovation dank Adaption sind Stichworte. Der Kleinstaat macht aus seiner Not eine Tugend. Da er nicht über die Quantität von Personen und all das verfügen kann, was den grösseren Verfassungsstaat primär aus Eigenem, häufig genug auch aus Fremdem an Recht schaffen lässt ("knappe Res­

source Recht"), bedient er sich fremder Vorarbeiten und Vorleistungen: er rezipiert Recht und reproduziert es "im Laufe der Zeit".

57 Zum kooperativen Verfassungsstaat meine gleichnamige Arbeit, in P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 1978, S. 407 ff.

58 Dazu etwa der Band Battis/Mahrenholz/Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internatio­

nalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990, und darin die Diskussion mit eige­

nen Beiträgen des Verf., bes. S. 251 f., 259 f.

59 H. Heller, Staatslehre, a.a.O., S. 216 ff., 238 ff.

Rezeption wird hier in einem sehr weiten Sinne verstanden, sie begegnet in vielen Formen und Abstufungen. So ist für die aus der Dekolonisation entstandenen Kleinstaaten typisch, dass sie noch stark durch die Verfassung und Rechtsordnung der alten Kolonialmacht geprägt sind: Man denke an die Mikrostaaten des englischen Commonwealth und die Frankreichs, auch Spaniens etc. Mitunter lässt sich dies schon verfassungstextlich belegen.60 Eine zweite Form sind die Rezeptionen, die andere Mikrostaaten im Blick auf ihre Nachbarn vornehmen. Liechtenstein ist hierfür in bezug auf Öster­

reich und die Schweiz, auch Deutschland ein gutes Beispiel. Im übrigen gibt es eine reiche Skala von Rezeptionsformen. Sie reicht von intensiver Teil­

oder Totalrezeption von Gesetzeswerken bzw. Rechtssystemen über die Rezeption einzelner Verfassungsprinzipien oder Rechtsinstitute bis hin zur lockeren Form von Vertragsabschlüssen oder Konföderationen.

Freilich spielen sich produktive Rezeptionsvorgänge nicht nur auf der Ebene der Rechtsetzung ab. Nicht minder wichtig ist die Rezeption auf wis­

senschaftlich-dogmatischer und richterlicher Ebene. In diesen Zusammen­

hang gehört die schon erwähnte Aufwertung der Rechtsvergleichung zur

"fünften" Interpretationsmethode.61 Überdies seien die Aktivitäten genannt, die einzelne Gelehrten(-gruppen) bei nationalen Verfassungs- oder Geset­

zesvorhaben als Sachverständige oder Gutachter entfalten. So ist bekannt, dass sich eine rumänische Delegation jüngst (1991) bei den Autoren des pri­

vaten Verfassungsentwurfs Kölz/Müller (1984/90) in der Schweiz Rat holte.

So hat sich Spanien im Prozess seiner Verfassunggebung 1977/78 der Hilfe deutscher Staatsrechtler bedient, und so durfte ich mich vor 2 Jahren zum Verfassungsentwurf des Kantons Tessin62 und im Juni 1991 vor dem Verfas-sungsausschuss des Sejm in Warschau zu dessen Verfassungsentwurf äus­

sern.

Eine auffällige Form ist die Berufung ausländischer Richter in das Verfas­

sungsgericht. Sie geschieht in einer kaum zu überschätzenden Weise in Liechtenstein, ist in Art. 105 seiner Verfassung im Grunde angelegt und sie darf w ohl uneingeschränkt gerühmt werden, auch als Vorbild63 für andere kleine Verfassungsstaaten.

60 Dazu oben unter II 2.

61 S. oben, Anm. 5.

62 Dazu der von M. Borghi herausgegebene Band: Costituzione e diritti sociali, 1990, S. 99 ff.

63 Aus der Lit.: D. Thürer, Gute Erfahrung mit "fremden" Richtern, in: NZZ Beiträge Liech­

tenstein, Nr. 209 v. 10. September 1990.

All diese theoretischen Überlegungen zur Rezeption können insgesamt am Fallbeispiel Liechtenstein illustriert werden. Die Wissenschaft hat darauf früh hingewiesen." So sind Teile seiner Rechtsordnung Osterreich zu ver­

danken, andere der Schweiz, manche der Paulskirche von 1849 und dem deutschen Frühkonstitutionalismus. Jüngst strahlt die europäische Rechts­

ordnung z. B. qua EMRK ins Liechtensteinische Recht aus,65 und vieles deu­

tet darauf hin, dass unser Gastgeberland an der Entwicklung von "Gemei-neuropäischem Verfassungsrecht" passiv und aktiv teilhat.

Sich der Kunst und Wissenschaft des Rezipierens bewusst und intensiv bedient zu haben, bildet eine besondere Leistung dieses Kleinstaates. Dies ist um so mehr zu würdigen, als Liechtenstein sich das Rezipierte schöpfe­

risch anzueignen verstand.66 Die Integrierung fremder Richter in den StGH ist ebenso kühn wie vorbildlich. Sie bedeutet eine personale, institutionali­

sierte Form der Verfassungsrechtsvergleichung, ihrer Indienstnahme als

"fünfter" Auslegungsmethode. Nicht nur hier ist Liechtenstein pionierhaft.

Was auf europäischer Ebene in den aus vielen Nationen zusammengezoge­

nen Richtergremien wie EGMR und dem EuGH transnational stattfindet, hat Liechtenstein als Kleinstaat national gewagt. In dem Masse, wie sich ein

"gemeineuropäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht" herausbildet und eine "Europäisierung der nationalen Verfassungsgerichte"67 im Gange ist, könnte das Modell Liechtenstein hier Vorreiter sein. Vielleicht sitzen eines Tages spanische Richter in Karlsruhe und deutsche in Rom - ein Traum, aber einer, den es zu träumen lohnt!68

M F. Gschnitzer, in: Gedächtnisschrift L. Marxer, 19 63, S. 19 (27 ff., 32 ff.); s. auch J. Kühne, Zur Struktur des Liechtensteinischen Rechtes, JöR 38 (1989), S. 379 (400 f., 408).

65 Zu alledem G. Batliner, Die Liechtensteinische Rechtsordnung und die EMRK, Liechten­

steinische Politische Schriften, Bd. 14 (1990), S. 91 (114,131,133 ff., 160 ff.).

66 Vgl. Kühne, a. a. O.

f Dazu mein Beitrag: Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. Dabei kann es auch subtfle Formen geben: so wenn vier der ungarischen Verfassungsrichter der­

zeit (1991) Humboldt-Stipendiaten sind (FAZ vom 11. Sept. 1991, S. 2), wodurch sie das deutsche Verfassungsrecht besonders studiert haben.

68 Rechtspolitisch ist wohl zu empfehlen, dass ein Kleinstaat sich nicht nur auf einen einzigen

"Rezeptionspartner" festlegt, sondern versucht, die jeweils besten Gesetze, Kodifikationen, VerfassungsprinzJpien zu übernehmen, sofern der "Kultursprung" nicht zu gross ist. Die Maxime dieses "Pluralismus der rezipierten Rechtsquellen hat Liechtenstein mit seinen Anleihen in der Schweiz, Österreich und Deutschland in seiner bisherigen Geschichte denkbar glücklich praktiziert.

3) Kleinräumigkeit und geringe Bevölkerungszahl als