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Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Vorgehensweise und Charakterisierung der diskursiven Daten

3.2 Sprachvariation und gesprochene Sprache

3.2.1 Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit

läßt, daß Texte grammatisch strukturierte Wortketten mit jeweils eigenen Bedeutungen seien, die sich zu einem Sinnganzen zusammenfügten. Unsere Vorstellungen von gram-matischen Relationen und Strukturen entstammen der durch die Alphabetkultur begrün-deten und durch die Buchkultur totalisierten zweidimensionalen Visualisierungskultur.

(Ágel 1999: 174)

Als Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen lässt sich also zusammenfas-sen, dass sich trotz des ontologischen Primats gesprochener vor geschriebener Sprache aus den Gegebenheiten der Schriftkultur heraus eine (mehr oder weni-ger intendiert) schriftbezogene Grammatikschreibung entwickelt hat, auf deren Basis gesprochene Sprache erfasst werden soll. Welche Ansätze in den letzten Jahrzehnten mit Blick auf dieses grammatiktheoretische Dilemma erarbeitet wurden und inwiefern diese für das hier durchzuführende Forschungsvorhaben genutzt werden können, wird in den folgenden Kapiteln näher beleuchtet.

3.2.1 Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Die Grundlage für die Beantwortung der Frage nach der Adäquatheit schrift-grammatischer Kategorien bildet die Modellierung der Abgrenzung von gespro-chener gegenüber geschriebener Sprache und die theoretische Fundierung dieser Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Mit Zeman (2013: 192193) lassen sich zwei grundlegende Positionen in der Modellierung von Mündlichkeit zusammenfassen: 1. Jene Ansätze, die (mehr oder weniger explizit) eine binäre Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache vornehmen und 2. jene Ansätze, die eine „diversifikatorisch-multifaktorielle Konzeption“ (Zeman 2013: 192) vertreten. Erstere gehen von der Annahme einer mehr oder weniger abgrenzbaren Nähe- vs. Distanzsprachlich-keit aus, die in der medialen Unterscheidung von gesprochener und geschrie-bener Sprache gründet. Auf Basis dieses medialen Unterschieds und den daraus resultierenden sprachlichen Gegebenheiten lassen sich prototypisch nähe-sprachliche gegenüber prototypisch distanznähe-sprachlichen kommunikativen Rea-lisierungen abgrenzen.119 Diese prototypisch-binär orientierte Auffassung des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist besonders klar in den

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119 Als protoytpisch nähesprachlich wäre demzufolge das informell-familiäre Alltagsge-spräch, als prototypisch distanzsprachlich ein schriftlicher Vertrag oder Gesetzestext einzustu-fen, wenngleich auch medial schriftliche Texte wie z.B. ein Privatbrief auf konzeptioneller Ebene dem Nähepol oder ein monologischer Gesprächstyp wie etwa eine Predigt dem Distanz-pol nahestehen.

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Arbeiten von Koch/Oesterreicher (1985; 1994; 2007) zu erkennen, die Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit als zwei Pole modellieren und in ihrer Unterschei-dung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit neben der Mediali-tät mit der Konzeption eine weitere zentrale Beschreibungsebene sprachlicher Äußerungsformen etabliert haben. Auf die prototypisch-binäre Modellierung bauen auch Ágel/Hennig (2006; 2007) bzw. Hennig (2006; 2009) auf, die die Nähe-Distanz-Theorie zur Messung des Grades von Nähe- bzw. Distanzsprach-lichkeit von Texten bzw. Gesprächen operationalisieren. In ihrer hierarchisch aufgebauten Grundstruktur des Nähe-Distanz-Modells (vgl. Hennig 2006: 72) bildet das „Universale Axiom“ (Hennig 2006: 72) als oberste Ebene den Aus-gangspunkt für eine „Rückführung“ einzelner sprachlicher Merkmale „auf pragmatische Bedingungen der Nähekommunikation“ (Hennig 2009: 26). Als ausschlaggebendes Kriterium für Nähesprechen wird dabei die „Raumzeit-gleichheit von Produktion und Rezeption“ (Hennig 2009: 27) angenommen, während sich Distanzsprechen durch das Gegenteil kennzeichnet, also die nicht gegebene Raumzeitgleichheit von Sprecher/Schreiber und Hörer/Leser.120 Die Ausdifferenzierung in vorgegebene Parameter (Rollen-, Zeit-, Siutationsparame-ter, Parameter des Codes und Parameter des Mediums) und Auflistung einzelner diesen Parametern zugeordneter Merkmale einerseits des Nähe- sowie anderer-seits des Distanzsprechens (vgl. Hennig 2006, 8084) erweckt jedoch den Ein-druck, diese seien eindeutig voneinander abzugrenzen, wodurch der Blick auf komplexere Zusammenhänge möglicherweise verstellt wird. Auch Imo (2013:

58) kritisiert diesen Umstand, wenn er schreibt, dass Hennigs Zusammenstel-lung „durch ihre schiere Menge zu einem einfachen ‚Abhaken‘ und ‚Suchen‘

dieser Parameter in den Daten [verleite]“, was zu einer vorschnellen geschlos-senen Gruppierung von Merkmalen gesprochener Sprache und einer damit einhergehenden Homogenisierung führen könne. Eine solche Aufstellung kön-ne jedoch erst erfolgen, „wenn umfangreiche qualitative und quantitative Un-tersuchungen dazu vorliegen – was bislang allerdings noch nicht der Fall ist“.

Die Idealisierung der prototypisch-binären Konzeption von Mündlichkeit-Schriftlichkeit hinsichtlich der (implizit angenommenen) Homogenität der ver-schiedenen Äußerungsformen innerhalb einer Textsorte bzw. eines Gesprächs-typs ist es denn auch, was von diversifikatorisch-multifaktoriellen Ansätzen (vgl. Steger et al. 1974; Fiehler 2000; Fiehler et al. 2004; Fiehler 2014) kritisiert

|| 120 Diesem Kriterium folgend wären etwa Texte computervermittelter Kommunikation

zu-nächst medial als distanzsprachlich einzustufen, können jedoch konzeptionell nähesprachlich gestaltet sein. Zu Merkmalen von Nähesprachlichkeit in „getippten Gesprächen“ vgl. Beiß-wenger (2002), Herring (2004) und Imo (2013: 269).

wird. Fiehler (2014: 1314) lehnt etwa Mündlichkeit und Schriftlichkeit als theore-tische Begriffe ab und begründet dies mit folgenden drei Argumenten:

1. Der Begriff Mündlichkeit reflektiert (und reproduziert) ein reduziertes Verständnis der Funktionsweise von interpersonaler Kommunikation in gemeinsamer Situation (Inter-aktion).

2. Der Begriff Mündlichkeit suggeriert eine gewisse Gleichartigkeit dessen, was mündlich produziert wird.

3. Als spezifische Abstraktion verstellt Mündlichkeit den Blick auf die Grundformen der Verständigung, die kommunikativen Praktiken. (Fiehler 2014: 1314; Hervorhebungen im Original)

Anstatt von Mündlichkeit bzw. gesprochener Sprache als relativ einheitlicher Kategorie auszugehen, wird die Heterogenität verbaler Interaktion selbst als Ausgangspunkt der theoretischen Modellierung genommen. Die binäre Unter-teilung in mündlich vs. schriftlich bzw. nähesprachlich vs. distanzsprachlich wird aufgegeben, stattdessen werden diverse kommunikative Praktiken121,

„präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke kommunikativ realisiert werden sollen“ (Fiehler et al. 2004: 99) als Gegenstand der linguistischen Auseinander-setzung in den Blick genommen. Als empirisch beschreib- und fassbar werden nicht gesprochene und geschriebene Sprache an und für sich, sondern kommu-nikative Routinen als „Formen sozialer Praxis“ (Fiehler et al. 2004: 16) in wie-derkehrenden kommunikativen Aufgaben, etwa einer Dienstbesprechung, ei-nem Protokoll, einer Terminvereinbarung beim Arzt etc. Kritik an dieser Herangehensweise wurde allerdings hinsichtlich ihrer methodisch-empirischen Umsetzbarkeit vorgebracht: Der diversifikatorische Beschreibungsansatz ist so heterogen, dass er keine Verallgemeinerungen zulässt und über die Einzelfall-beschreibung nur schwer hinauskommt. Zeman (2013: 195) fasst die Kritikpunk-te der protoypisch-binären und der diversifikatorisch-multifaktoriellen Model-lierung von Mündlichkeit wie folgt zusammen:

Keiner der beiden Ansätze ist […] unproblematisch: Während sich der prototypische An-satz der Frage stellen muss, inwieweit er der sprachlichen Heterogenität gerecht werden kann, hat der Diversifikations-Ansatz Probleme, ein systematisierendes Instrumentarium bereitzustellen.

|| 121 Anstelle von kommunikativen Praktiken sprechen Steger et al. (1974) von

„Redekonstella-tionstypen“ – die theoretische Modellierung weist aber in eine ähnliche Richtung wie jene bei Fiehler (2000; 2014) und Fiehler et al. (2004).

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Als Zwischenposition zwischen den bei Zeman (2013) zusammengefassten zwei Ansätzen prototypisch-binärer und diversifikatorisch-multifaktorieller Modellie-rung ist noch eine dritte Perspektive auf das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu nennen, die als transmedial-interaktionale Perspektive auf das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache bezeichnet werden soll. Vertreter dieser transmedial-interaktionalen Konzeption (vgl. Beißwenger 2007; Bücker 2012; Imo 2013) sehen – ähnlich wie jene der diversifikatorisch-multifaktoriellen Konzeption – Mündlichkeit nicht als „Gegenstück“ von Schriftlichkeit (und vice versa), fokussieren aber weniger kommunikative Prak-tiken an und für sich als vielmehr die Transmedialität sprachlicher Äußerungs-formen und ihre Prozessierung in verbaler Interaktion. Dieser Ansatz versucht den Besonderheiten computervermittelter Kommunikation gerecht zu werden, deren stetiger Vergleich mit medial mündlichen Gesprächen „zu einer unange-messenen Defizitperspektive […] verführen kann“ (Bücker 2012: 73). Die an Mündlichkeit oder Gesprächen orientierte Analyse von z.B. Chats läuft Beiß-wenger (2007: 199) zufolge Gefahr, „dem Phänomen letztlich durch Anwendung

‚gesprächsanalytischer Zugänge mit Abstrichen‘ gerecht werden zu wollen und dabei die Alleinstellungsmerkmale der Chat-Kommunikation (synchron122, aber textbasiert) lediglich als ‚besondere Rahmenbedingungen‘ […] abzutun.“ Eine transmediale Auffassung von Sprache unterscheidet daher nicht binär zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern fokussiert Sprache-in-Interaktion.

Dies gründet darauf, „dass zwischen der computervermittelten Kommunikation und der mündlichen Kommunikation enge Bezüge bestehen, die durch die in-teraktionale Struktur begründet sind“ (Imo 2013: 99). Sprache-in-Interaktion meint also Kommunikation, in der die Interagierenden 1. gemeinsam (u.a.

sprachlich) eine Situation erzeugen und Interpretationen dieser Situation lie-fern und 2. sich dabei wechselseitig wahrnehmen, aufeinander reagieren und gemeinsam sprachliche Strukturen erzeugen (vgl. Imo 2013: 50) – welche Medi-en dabei zum Einsatz kommMedi-en und inwiefern dabei kommunikative PraktikMedi-en umsetzt werden, ist nicht vordergründig relevant. Der transmedial-interaktionale Ansatz orientiert sich damit stark an Grundannahmen der Inter-aktionalen Linguistik, auch hinsichtlich der Prozessierung und Emergenz

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122 Um dem Vorkommen von quasi-synchronen Texten bzw. Gesprächen in comuptervermit-telter Kommunikation auf theoretischer Ebene gerecht zu werden, plädiert Dürscheid (2003: 8) dafür, das Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher neben der medialen und der konzepti-onellen Ebene um eine weitere Ebene der Unterscheidung in synchrone, quasi-synchrone und asynchrone Kommunikation zu erweitern. Zur Anwendung des Nähe-Distanz-Modells auf dialogische Äußerungsformen computervermittelter Kommunikation vgl. auch Dür-scheid/Brommer (2009).

grammatischer Strukturen in Sprache-in-Interaktion. Inwiefern Annahmen der Interaktionalen Linguistik und anderer Ansätze – der Konstruktionsgrammatik und der Funktionalen Pragmatik – im Rahmen grammatischer Analysen der Osttiroler Freizeitkommunikation nutzbar gemacht werden können, wird im folgenden Kapitel 3.2.2. erörtert.

3.2.2 Beschreibung der Grammatik gesprochener Sprache – verschiedene