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Nicht-satzförmige interaktive Einheiten (KomS, AK und NZ)

Vorgehensweise und Charakterisierung der diskursiven Daten

3.3 Segmentierung gesprochener Sprache

3.3.2 Segmentierungs- und Kategorisierungsvorschlag

3.3.2.3 Nicht-satzförmige interaktive Einheiten (KomS, AK und NZ)

varianten abweichende Realisierung ausschlaggebend dafür, die satzförmige Einheit in (21) nicht als KS, sondern als MS einzustufen.

Als Zwischenfazit kann hier festgehalten werden: Sowohl kanonische Sätze geschriebener Sprache (KS) als auch mögliche Sätze (MS) verfügen über ein finites Verb und lösen alle syntaktischen und pragmatischen Projektionen ein – lediglich in der Art ihrer Realisierung und/oder Abfolge dieser Projektionseinlö-sungen unterscheiden sie sich. Beim nächsten zu beschreibenden Einheitentyp werden ebenfalls alle Projektionspotenzen, die gegeben sind, realisiert. Aller-dings ist hier Kriterium a), das Vorhandensein eines finiten Verbs, nicht erfüllt.

Diese Art der nicht-satzförmigen Realisierung einer Intonationsphrase soll im folgenden Unterkapitel näher erläutert werden.

3.3.2.3 Nicht-satzförmige interaktive Einheiten (KomS, AK und NZ)

Wenngleich ein finites Verb fehlt, so ist die Gestaltschließung auf semanto-pragmatischer Ebene für die Kommunikationsteilnehmer im folgenden Ge-sprächsausschnitt dennoch möglich:

Beispiel 22: JD 3, Z. 19-22: „Junkie“

19 Mar: der peter is sowieSO so ein [junkie he;]

20 Fel: [((lacht))]

21 Flo: (--) WER hetz;

22 Mar: =NIMmer normal.

‘Mar: Der Peter ist sowieso so ein Junkie. – Flo: Wer jetzt? – Mar: Nicht mehr normal.’

Während die Intonationsphrase in Z. 19 über ein Verb verfügt, sind die beiden Äußerungen in Z. 21 und 22 ohne Finitum realisiert. Da es sich um prosodisch selbstständige Einheiten handelt, müssen sie als eigenständige Intonations-phrasen klassifiziert werden, und auch aus kommunikativ-pragmatischer Per-spektive handelt es sich um vollständige Einheiten. Lediglich aus syntaktischer Perspektive werden nicht alle der oben für die Klassifikation als satzförmige Einheit genannten Kriterien erfüllt. Solcherart syntaktisch „reduzierte“ Äuße-rungen sind in der gesprochenen Sprache hochfrequent und unter der Bezeich-nung Ellipse in sprachwissenschaftlichen Arbeiten dementsprechend vielfach beachtet und diskutiert worden (vgl. u.a. Klein 1993; Auer 1993; Zifonun et al.

1997: C4 3 und C6 3.5; Stein 2003: 301; Plewnia 2003; Hennig 2006: 160 und 255;

Marillier/Vargas 2016). In den letzten Jahren wurde dabei jedoch aus gramma-tiktheoretischen Überlegungen heraus Kritik am skriptizistisch vorbelasteten Begriff der Ellipse laut, da er bereits aus etymologischer Perspektive einen

zitgedanken transportiert.191 Um der hohen Frequenz und funktionalen Breite elliptischer Konstruktionen in gesprochener Sprache gerecht(er) zu werden, sollen daher in der vorliegenden Arbeit Intonationsphrasen wie die oben ge-nannten nicht als Ellipsen, sondern als kompakte Strukturen bezeichnet werden.

Sie definieren sich dadurch, dass sie – ohne ein finites Verb als Valenzträger und alle damit einhergehenden Valenzaktanten zu enthalten – eine abgeschlos-sene prosodische Einheit darstellen sowie kommunikativ vollständig und ver-stehbar sind.192 Die Kommunikationsteilnehmer/-innen können einerseits syn-taktische Projektionen aus Vorgängeräußerungen weiterverwenden bzw.

ausbauen – dies ist in Z. 21 der Fall („Wer jetzt?“ – „Wer ist jetzt ein Junkie?“).

Sie können andererseits aber auch kommunikativ vollständige Einheiten bil-den, die nicht auf einen sprachlichen Kontext zurückgreifen. So findet sich in Z. 22 („Nimmer normal“) eine Intonationsphrase, die nicht in syntaktischer, sondern lediglich in inhaltlicher Hinsicht einen Bezug zur vorangegangenen Äußerung darstellt. Egal, ob es sich um sprachlich „kontextkontrollierte“ (vgl.

Klein 1993) „Konstruktionsübernahmen“ (vgl. Rath 1979: 143) oder vom sprach-lichen Kontext unabhängige „Eigenkonstruktionen“ handelt – diese kompakten Strukturen müssen nicht syntaktisch vollständig sein, um kommunikativ als eigenständige Einheiten zu fungieren. Über die grammatiktheoretische Ausei-nandersetzung mit diesem „Schwergewicht“ der Grammatikforschung, dem Vorkommen kompakter Strukturen in den untersuchten Korpora und ihrer for-malen und funktionalen Beschreibung soll in Kapitel 4.4. näher eingegangen werden.193 In diesem Abschnitt liegt zunächst der Fokus auf der Differenzierung der Einheitentypen untereinander. Diesbezüglich kann mit Hennig (2006: 271) zusammengefasst werden, dass kompakte Strukturen (KomS) folgende Eigen-schaften kennzeichnen:

||

191 Der Begriff Ellipse ist auf griech. elleípsis mit der Bedeutung ‘das Fehlen, die Aussparung’

zurückzuführen (vgl. Kluge 2002: 34).

192 Eine Diskussion der Frage, ab wann eine Äußerung als kommunikativ vollständig zu werten ist, inwieweit sich die Wissensbestände der Kommunikationsteilnehmer dafür decken müssen und wie Linguisten diese Vorgänge im Detail beschreiben können, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Es sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass die kompakten Strukturen unter Berücksichtigung ihres Kontextes – sowohl des sprachlichen als auch des nicht-sprachlichen – analysiert werden müssen. Für weiterführende Informationen sei u. a. auf die Ausführungen in Rath (1979: 140), Zifonun et al. (1997: 410) und Redder (2006) verwiesen.

193 Einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Ellipsenforschung bietet auch der Sammelband von Marillier/Vargas (2016); dazu vergleiche man u.a. die Einleitung (vgl. Maril-lier 2016a: VIII-XVIII) und die zusammenfassende Darstellung bei Baldauf-Quilliatre (2016:

203207).

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– Sie bilden prosodisch selbstständige Einheiten (Intonationsphrasen).

– Sie enthalten a) entweder kein finites Verb als Valenzträger oder b) ein finites Verb als Valenzträger, realisieren aber nicht alle in seiner Valenzpo-tenz angelegten Aktanten.194

– Sie weisen keine Nicht-Realisierungen anderweitiger Projektionspotenzen syntaktischer oder semanto-pragmatischer Natur auf.

Das erste Definitionsmerkmal unterscheidet KomS von prosodisch unselbst-ständigen Einheiten wie etwa integrierten Diskursmarkern. Der zweite Punkt ist das ausschlaggebende Unterscheidungskriterium gegenüber den satzförmigen Einheiten gesprochener Sprache (KS und MS). Mit dem dritten Merkmal kann dagegen eine definitorische Abgrenzung gegenüber so genannten Anakolut-hen195 erreicht werden. Dabei handelt es sich nämlich um Abbrüche einer Äuße-rung, die ein Nicht-Einlösen der syntaktischen und semanto-pragmatischen Projektionspotenzen nach sich ziehen (vgl. Selting 1997: 138; Hennig 2006: 165-166). Während kompakte Strukturen also eine „reibungslose Gestaltschließung“

(Hennig 2006: 166) aufweisen, wird diese in Anakoluthen mehr oder weniger abrupt abgebrochen. Im Folgenden sollen zunächst einige Beispiele für kom-pakte Strukturen gegeben werden, um anschließend noch einmal auf ihre Ab-grenzung gegenüber den Anakoluthformen zurückzukommen.

Wie oben bereits angemerkt, können KomS ohne finites Verb realisiert wer-den und wer-dennoch kommunikativ vollständig sein. Im folgenwer-den Gesprächsaus-schnitt (23) greift Sprecher Ste die in Z. 9 geäußerte syntaktische Konstruktion wieder auf:

Beispiel 23: JD 23, Z. 9-13: „Kindergarten“

09 Ste: (2.0) der isch jo fünf joah KINdergorten gong;

10 Chr: AH ge.

11 Ste: =na DREIe.

|| 194 Hier soll darauf verwiesen werden, dass die Realisierung von Verbvalenzen nicht erst bei

Hennig, sondern schon früher bei Sandig (2000) bzw. Auer (1993) als Kriterium für die Abgren-zung elliptischer Strukturen gegenüber Sätzen verwendet wird.

195 Auch der Begriff Anakoluth verweist in seiner etymologischen Charakterisierung auf eine defizitgeprägte Auffassung von gesprochener Sprache, seine Adäquatheit für die Analyse mündlicher Kommunikation wird jedoch in der Fachliteratur bei weitem nicht so heftig disku-tiert wie der Ellipsen-Begriff (vgl. Hennig 2006: 165). Da der Einheitentyp Anakoluth in der vorliegenden Untersuchung nur eine untergeordnete Rolle spielt, wird auf diese Bezeichnungs-Problematik jedoch nicht näher eingegangen.

12 Chr: ((lacht leise))

13 Ste: und oa joah VÖRschüale.

'Ste: Der ist ja fünf Jahre in den Kindergarten gegangen. – Chr: Ach was. – Ste: Nein, drei. – Und ein Jahr Vorschule.'

In den beiden Nachträgen in Z. 11 (na DREIe) und Z. 13 (und oa joah VÖRschüale) reaktiviert Ste die sprachliche Information der Vorgängeräußerung. In der Fach-literatur werden kompakte Strukturen dieser Art als „Konstruktionsübernah-men“ (z.B. Hennig 2006), Analepsen (z.B. Hoffmann 1997; 1999) oder „kontext-kontrollierte Ellipsen“ (z.B. Klein 1993) bezeichnet. Diese prosodisch selbstständigen Expansionen können eigenaktiv, aber auch interaktiv realisiert werden:

Beispiel 24: JD 7, Z. 1164-1167: „Jungfrau“

1164 Dan: de isch no JUNGfrau.

1165 U:H;

1166 And: ((lacht))

1167 jo nimmer LONge;

'Dan: Die ist noch Jungfrau. Uh. – And: Ja, nicht mehr lang.'

In diesem Gesprächsausschnitt bildet Sprecher And seine Äußerung in Z. 1167 (jo nimmer LONge;) auf der Grundlage des syntaktischen Rahmens der vorher-gehenden Äußerung von Dan in Z. 1164.

Es gibt aber auch kompakte Strukturen, die nicht auf den sprachlichen, sondern auf den außersprachlichen Kontext referieren, und in denen zwar ein finites Verb mit seiner Valenzpotenz gegeben sein kann, allerdings nicht alle Valenzaktanten realisiert werden. Dazu zählen v.a. KomS, die sich auf die Ge-sprächsrollen der beteiligten Personen und auf Ereignisse oder auf Objekte, die sich im Aufmerksamkeitsbereich der Gesprächspartner/-innen befinden (vgl.

Hoffmann 1997: 410419), beziehen. In Beispiel (25) referiert Sprecher Ale in seiner Äußerung schaug aus wie a Milchschnitte auf das momentane Aussehen seines Gesprächspartners:

Beispiel 25: JD 17, Z. 699-706: „Sonnenbrand“

699 Ale: (---) hosch aan SONnenbrond;

700 Mic: VOLle.

((…))

706 Ale: (---) schaug aus wie a MILCHschnitte.

'Ale: Hast du einen Sonnenbrand. – Mic: Voll. – Ale: Schaut aus wie eine Milchschnitte.'

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Zu diesem Typ der außersprachlich orientierten kompakten Strukturen gehören auch jene, die an bestimmte Handlungsmuster (z.B. ein Verkaufsgespräch) gebunden sind. In der traditionellen Ellipsenforschung werden sie als „emprak-tische Ellipsen“ bezeichnet.196 Die Orientierung an den Handlungsdimensionen

„setzt Musterwissen und Kenntnis der Handlungskonstellation […] voraus“

(Hoffmann 1997: 420). Im folgenden Beispiel knüpft der Sprecher z.B. an ein allen Beteiligten bekanntes Handlungsmuster, die Bestellung einer Ware beim Fleischer, an:

Beispiel 26: do hob i gsog (---) an wurschtse an: fleischkassemmel um aan EUro; [JD 3, Z. 307]

'Da habe ich gesagt: „Einen Fleischkäsesemmel um einen Euro.“'

Der direktive Sprechakt, von dem Fel seinen Freunden erzählt, ist für die Ge-sprächspartner verstehbar, auch wenn er ohne finites Verb realisiert worden ist.

Kompakte Strukturen, die auf situative und empraktische Dimensionen re-ferieren, werden von Selting (1997) und Hennig (2006) als „Eigenkonstruktio-nen“ bezeichnet, und so gegenüber den sprachlich kontextualisierten Konstruk-tionsübernahmen abgegrenzt. Die Definition bei Hennig (2006) unterstreicht diesen Unterschied:

Eigenkonstruktionen gliedern sich in den semantischen oder situationellen Kontext vo-rangegangener Konstruktionen ein, schließen sich aber nicht an syntaktische Projektio-nen vorangegangener Einheiten an. (Hennig 2006: 271)

Dieser semanto-pragmatische Kontext kann neben allgemein bekannten aber auch sehr spezifische Handlungsmuster umfassen. Der Gesprächsausschnitt aus Beispiel (27) kann ohne den spezifischen Erfahrungshintergrund der be-freundeten Jugendlichen nur schwer nachvollzogen werden:

Beispiel 27: JD 14, Z. 766-769: „Alkohol beim Zelten“

766 Stef: (--) nochan (.) tua ma zelten AA no;

767 Jul: <<lächelnd> ALkohol>;

768 ((lacht))

||

196 Diese Bezeichnung geht auf Karl Bühler (1934: Kap. III, 10) zurück und wird unter ande-rem von Ludger Hoffmann wieder aufgegriffen. Im von ihm verfassten Kapitel C4 3 „Ellipse“

der IDS-Grammatik der deutschen Sprache (Zifonun et al. 1997) führt er die Definition dieses Subtyps elliptischer Konstruktionen näher aus (vgl. Hoffmann 1997: 420) und erläutert seinen Zusammenhang mit direktiven, assertiven und expressiven Sprechhandlungen (422429).

769 jo a BISsl wos;

'Stef: Dann tun wir Zelten auch noch. – Jul: Alkohol. ((lacht)) Ja – ein bisschen was.'

Sprecherin Jul bezieht sich in ihrer Äußerung (<<lächelnd> Alkohol>) nicht auf den syntaktischen, sondern auf den semantischen und situationellen Kontext der Kommunikation. Die Sprecherinnen teilen ein gemeinsames Wissen dar-über, dass bei früher unternommenen Camping-Ausflügen Alkohol getrunken wurde. Juls Äußerung in Z. 767 ist daher für die Gesprächsteilnehmerinnen kommunikativ vollständig, auch wenn sie aus grammatischer Perspektive un-vermittelt und inkohärent wirkt.

Neben auf den sprachlichen (Konstruktionsübernahmen) und außersprach-lichen Kontext (Eigenkonstruktionen) referierenden kompakten Strukturen werden in der Fachliteratur auch so genannte Standardisierte Kurzformen197 beschrieben.198 Sie sind ohne Kontextreferenzen paraphrasier- bzw. verstehbar – es handelt sich dabei um überregional und situations-unabhängig gleicherma-ßen verständliche Äußerungen wie „[Ich habe] Keine Ahnung.“, „Wie auch immer [es sein mag].“ oder „Ich weiß [es/davon/Bescheid].“ Bei dieser Untertei-lung in Konstruktionsübernahmen, Eigenkonstruktionen und konventionali-sierten Kurzformen handelt es sich freilich nur um ein grobes Raster. Auf die weiterführende Subtypisierung etwa in Koordinations- und Adjazenzellipsen sowie Nachträge in der Gruppe der Konstruktionsübernahmen, Personen-, Er-eignis- und Objekt-Ellipsen unter den Eigenkonstruktionen sowie weitere kon-textabhängige Ellipsentypen wie phatische Ellipsen, oder textsortenbezogene Struktur-Ellipsen kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Hier sei auf die entsprechenden Ausführungen bei Klein (1993), Hoffmann (1997), Stein (2003), Hennig (2006) oder Baldauf-Quilliatre (2016) sowie auf die tiefer-gehende Beschreibung in Kapitel 4.4. verwiesen. In Bezug auf die hier zu unter-suchenden regionalsprachlich geprägten Korpora ED und JD ist jedoch ab-schließend anzumerken, dass die sich auf standardnahe gesprochene Kommunikation beziehende Typisierung kompakter Strukturen aus der Fachli-teratur nicht unbesehen übernommen werden kann. So kommen in den Gesprä-chen der Südbairisch spreGesprä-chenden Teilnehmer/-innen etwa besonders häufig

|| 197 Um die Assoziation zu vermeiden, dass dieser Typ kompakter Strukturen auf die

Stan-dardvarietät begrenzt sein könnte oder eine besonders hohe Frequenz in standardsprachlicher Kommunikation nachgewiesen sei, wird im Folgenden statt „standardisierten“ von „konventi-onalisierten Kurzformen“ die Rede sein.

198 Vgl. auch „Feste Ausdrücke“ bei Klein (1993). Die Bezeichnung „Standardisierte Kurz-form“ geht auf Rath (1979: 150151) zurück.

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kompakte Strukturen vor, in denen das Subjektspronomen der 2. Person Singu-lar, und damit einer der Valenzaktanten, nicht realisiert wird. Dabei handelt es sich um dialektal unmarkierte Konstruktionen wie die folgenden:

Beispiel 28: Mar: beim butten MUASCH_s jo schlogen; [JD 3, Z. 215]

'Beim Butten [im Golf] musst [du] es ja schlagen.'

Beispiel 29: Fel: wos HOSCH_n; [JD 3, Z. 248]

'Was hast [du] denn.'

Beispiel 30: Mag: (---) vielleicht triffsch jo in (--) roNALdo- [JD 4, Z. 654]

'Vielleicht triffst [du] ja den Ronaldo.'

Pro-drop-Konstruktionen dieser Art kommen in den beiden Dialektkorpora JD und ED in hoher Frequenz vor. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit ihren formalen und funktionalen Charakteristika findet sich in Kapitel 4.4.2.

Wie oben bereits angesprochen wurde, finden sich in mündlicher Kommu-nikation nicht nur kommunikativ vollständige nicht-satzförmige Einheiten – es kann auch (gerade in Gruppenkommunikation mit mehr als zwei Gesprächs-partner/-innen) passieren, dass eine Intonationsphrase aufgrund einer Unter-brechung bzw. eines Abbruchs der Konstruktion nicht zu Ende geführt werden kann. Bei diesem Ausstieg199, der entweder interaktiv oder eigenaktiv passiert, können zwar syntaktische und semanto-pragmatische Projektionen aufgebaut werden, mindestens eine dieser syntaktischen Projektionspotenzen wird aber nicht realisiert (vgl. Hennig 2006: 271). Im Gegensatz zu den KomS werden in diesen als Anakoluthe (AK) klassifizierten Intonationsphrasen aber nicht nur syntaktische, sondern auch semanto-pragmatische Projektionen abgebrochen:

Beispiel 31: JD 14, Z. 593-595: „FKK-Strand“

593 Mel: geschtern woa in fernsehen ge ef ka KAstrond.

594 (--) non sein a poa (---) ähm-

|| 199 Zu verschiedenen Subtypen der Anakoluthe und ihrer detaillierten Beschreibung sei auf

Hoffmann (1991; 1997: 444466) und Hennig (2006: 160 und 260) verwiesen. In Bezug auf die hier angewandte Einheitentypologie muss festgehalten werden, dass von den in der Fachlitera-tur erwähnten Subtypen Ausstieg, Retraktion und Umstieg lediglich der Ausstieg mit seinem Charakteristikum der fehlenden Gestaltschließung als „echtes“ Anakoluth gewertet wird, während es sich bei den beiden letzteren vielmehr um „on-line“ prozessierte Reparaturvorgän-ge handelt. Daher werden Retraktionen (rückgreifende BearbeitunReparaturvorgän-gen) und UmstieReparaturvorgän-ge auf einen leicht abgeänderten syntaktischen Aufbau zu Kennzeichen der möglichen Sätze (MS) gezählt.

595 Jul: =mah do müass i da hetz irgendwos erZÄHlen;

'Mel: Gestern war im Fernsehen ein FKK-Strand. Dann sind ein paar- Jul (mit schnellem An-schluss): Da muss ich dir jetzt etwas erzählen.'

Die Schülerinnen Mel und Jul unterhalten sich hier über verschiedene Möglich-keiten, den Urlaub zu verbringen. Sprecherin Mel setzt gerade zu einer Ausfüh-rung zum Thema FKK-Strände an, als sie von Jul jäh unterbrochen wird. Mels Äußerung in Zeile 594 wird dadurch abgebrochen, die vom Verb und dem unbe-stimmten Artikel ausgehenden syntaktischen Projektionen sowie die dazugehö-rigen semanto-pragmatischen Projektionen werden nicht eingelöst und die Äußerung kann von den Hörer/-innen nicht widerspruchsfrei interpretiert wer-den. Kennzeichnend für einen solchen Ausstieg als anakoluthische Konstrukti-on ist also, dass „[d]er angezielte Punkt einer Gestaltschließung nicht erreicht“

und „insofern eine Fortsetzungserwartung nicht erfüllt [wird]“ (Hoffmann 1997:

447).

Von den bisher genannten Einheitentypen KS, MS, KomS und AK sind jene Äußerungen abzugrenzen, in denen keinerlei syntaktische Projektionen aufge-baut werden und die keine referentiellen, sondern vielmehr diskursorganisato-rische Funktionen übernehmen und/oder Emotionen der Gesprächsteilneh-mer/-innen transportieren. Ersteres ist etwa bei hörer-seitigen Kontaktsignalen (z.B: m_hm, ja), sprecherseitigen äußerungseinleitenden Signalen (z.B. na ja, also), rederechtssichernden Fortsetzungssignalen bzw. Zögerungssignalen (z.B.

äh) oder Rückfragepartikeln (z.B: ne?, gell?, ge?, oder?) der Fall. Emotionen und Einstellungen des Sprechers/der Sprecherin werden zusätzlich durch Interjekti-onen wie au, oho, tja, ui etc. vermittelt.200 Neben diesen prototypischen Dis-kursmarkern wurden bisher auch Operatoren in Operator-Skopus-Strukturen (z.B.: kurz und gut – der Abend war fürchterlich.)201 und sich aus einer anderen Wortart aufgrund von Grammatikalisierungs- bzw. Pragmatisierungs-Prozessen zu Diskursmarkern gewandelte Einheiten (z.B.: die Subjunktionen weil oder

||

200 Fraser (1996: 186) fasst die Funktionsweisen von Diskursmarkern wie folgt zusammen: Ein Diskursmarker ist ein Ausdruck, „which signals the relationship of the basic message to the foregoing discourse. [Discourse markers] do not contribute to the representative sentence meaning, but only to the procedural meaning: They provide instructions to the addressee on how the utterance to which the discourse marker is attached is to be interpreted.“

201 Detaillierte Analysen von Operator-Skopus-Strukturen finden sich in Bar-den/Elstermann/Fiehler (2001) und Fiehler et al. (2004: 239).

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obwohl als Diskursmarker)202 beschrieben. Die Gesamtheit dieser vornehmlich in Nähekommunikation gesprochener Sprache vorkommenden Einheiten soll mit Ágel (2005) und Hennig (2006: 182) unter dem Begriff Nähezeichen (NZ) ver-sammelt werden.203 Sie beruhen auf der grundlegenden Konstellation gespro-chener Sprache-in-Interaktion, die sich dadurch charakterisiert, dass die Ge-sprächspartner/-innen zur selben Zeit im gleichen Raum miteinander interagieren.

Treten diese Nähezeichen innerhalb einer Intonationsphrase, also proso-disch integriert auf, werden sie (aufgrund des oben festgelegten prosoproso-dischen Kriteriums) nicht als eigenständige Einheiten klassifiziert. Turninterne NZ kön-nen aber dazu führen, dass die Intonationsphrase, der sie angehören, diskonti-nuierlich realisiert wird: Eine satzförmige Äußerung, in der z.B. Zögerungssig-nale prosodisch integriert vorkommen, wird dann als möglicher Satz (MS) eingestuft:

Beispiel 23: jo trink amol bier ähm SCHNELler; [JD 3, Z. 1292]

'Ja, trink einmal [das] Bier ähm schneller.'

Werden die Nähezeichen aber außerhalb von bzw. zwischen zwei selbstständi-gen Intonationsphrasen geäußert, können sie als eiselbstständi-genständige Einheiten gel-ten, wie anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht werden soll:

Beispiel 33: ED 3, Z. 42-48: „Die Suppe ist eles“

042 Ann: die suppen is [Eles].

043 Gre: [a_!HA!.]

044 Gre: [a_ha.]

Mar: [de is Eles.]

045 Gre: a_ha.

046 (--) a_ha-

047 Ann: wenn wenn de zu wenig GSOLzen is.

048 Gre: m_hm-

||

202 Zur näheren Beschreibung vgl. die Ausführungen bei Gohl/Günthner (1999), Günth-ner/Imo (2003) oder Auer/Günthner (2005), sowie in der vorliegenden Untersuchung Kapitel 4.2.1.

203 Dieser Begriff basiert auf der von Vilmos Ágel und Mathilde Hennig entwickelten „Theorie des Nähe- und Distanzsprechens“ (Ágel/Hennig 2003; vgl. auch Ágel/Hennig 2007 und 2010), die das Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher (1994) weiter ausbaut und präzisiert.

Nähere Ausführungen finden sich in Kapitel 3.2.1.

'Ann: Die Suppe ist „eles“.– Gre: Aha. Aha. – Mar: Die ist eles. – Gre: Aha. Aha- Ann: Wenn wenn die zu wenig gesalzen ist. – Gre: Mhm-'

Drei Freundinnen unterhalten sich hier über einen Dialektismus, nämlich das Adjektiv eles (südbairisch für 'salz-, geschmacklos, fad'). Sprecherin Gre kennt diesen Ausdruck nicht, die Erklärung der beiden Kommunikationspartnerinnen verfolgt sie daher aufmerksam und bringt dies mit der wiederholten Verwen-dung der rezeptionsanzeigenden Nähezeichen a_ha und m_hm zum Ausdruck.

Unter Bezugnahme auf die oben erwähnten Definitionskriterien (Vorhan-densein eines finiten Verbs, kontinuierliches bzw. diskontinuierliches Realisie-ren der Valenzpotenz und anderer syntaktischer Projektionen sowie RealisieRealisie-ren semanto-pragmatischer Projektionen) zur Unterscheidung der Einheitentypen untereinander, nehmen Nähezeichen eine gewisse Sonderstellung ein (vgl.

Hennig 2006: 200201). Sie „bauen prinzipiell keine syntaktischen Projektionen auf und sind auch nicht in Projektionsstrukturen benachbarter Einheiten inte-griert“ (272). Von den anderen Einheitentypen unterscheidet sie darüber hinaus, dass sie keine referentiellen Bezüge herstellen, sondern diskursorganisatorische Funktionen erfüllen.204

Insgesamt ergibt sich aus der festgelegten Vorgehensweise bei der Segmen-tierung der Turns zu Intonationsphrasen und wiederum zu Einheitentypen in-nerhalb dieser Intonationsphrasen eine Unterteilung in folgende Einheitenty-pen: KS (kanonisch geschriebensprachliche Sätze), MS (mögliche Sätze), KomS (kompakte Strukturen), AK (Anakoluthe) sowie NZ (Nähezeichen). Über gram-matiktheoretische Fragen nach ihrem Status, ihrem exakten Verhältnis zuei-nander oder dem Verhältnis geschriebener zur gesprochenen Sprache im All-gemeinen ist damit wenig ausgesagt. Die Segmentierung der Intonationsphrasen in diese operationalisierten Einheiten ist jedoch eine me-thodische Notwendigkeit, um die eingangs gestellten Forschungsfragen bezüg-lich der syntaktischen Besonderheiten des Sprachgebrauchs jugendbezüg-licher Dia-lektsprecher/-innen (vgl. Kapitel 2.4.) auf den Grund gehen zu können. Als solches – nämlich ein methodisches Instrument zur Analyse der diskursiven

|| 204 Diese definitorischen Charakteristika scheinen auf den ersten Blick gut geeignet zu sein –

bei genauerer Analyse gesprochener Sprache tauchen aber durchaus Abgrenzungsschwierig-keiten auf, v.a. von NZ gegenüber KomS, wie bereits Hennig (2006: 201 und 265266) erwähnt.

Dieses Problem entsteht dadurch, dass sich unter den kompakten Strukturen Einheiten finden,

„deren referentielle Funktion so stark reduziert ist, dass eine Identifizierung als Nähezeichen naheliegender scheint“ (265) als eine Klassifikation als KomS. Die Entscheidung, welchem Einheitentyp eine Intonationsphrase zugeordnet werden kann, lässt sich daher häufig nur im Kontext der umliegenden diskursiven Einheiten festlegen.

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Einheiten – sei die Einteilung auch verstanden. Ungeachtet dessen werden in weiteren Kapiteln in Bezug auf Phänomenbereiche, die aufgrund der Datenlage näher besprochen werden, auch grammatiktheoretische Überlegungen ange-stellt – etwa in Bezug auf weil-Konstruktionen (Kapitel 4.2.1) oder kompakte Strukturen (Kapitel 4.4.). Zunächst soll jedoch die Segmentierung und

Einheiten – sei die Einteilung auch verstanden. Ungeachtet dessen werden in weiteren Kapiteln in Bezug auf Phänomenbereiche, die aufgrund der Datenlage näher besprochen werden, auch grammatiktheoretische Überlegungen ange-stellt – etwa in Bezug auf weil-Konstruktionen (Kapitel 4.2.1) oder kompakte Strukturen (Kapitel 4.4.). Zunächst soll jedoch die Segmentierung und