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Jugendsprachen als Varietäten

Vorgehensweise und Charakterisierung der diskursiven Daten

3.1 Sprachvariation und Alter

3.1.2 Beschreibung altersbedingter Sprachvariation ‒ verschiedene Konzeptionen

3.1.2.1 Jugendsprachen als Varietäten

und Begrifflichkeiten einher, die im Folgenden weiter ausdifferenziert und für das eigene Forschungsvorhaben definiert werden sollen. Im Zentrum stehen dabei die Begriffe Varietät, Stil und Register, da der Großteil der Arbeiten termi-nologisch auf eines dieser drei Konzepte aufbaut. Zu einer ausführlicheren Be-handlung weiterer verwandter soziolinguistischer Rahmenbegriffe wie Substan-dard, Slang und Gruppensprache vgl. u.a. Androutsopoulos (1998: 10-26).

3.1.2.1 Jugendsprachen als Varietäten

Wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit Phänomenen sprachlicher Variation auseinandersetzen, kommen nicht umhin, die die dafür zur Verfügung stehen-den theoretischen Konzepte zu beleuchten. Dabei ist eine vorab zu treffende Unterscheidung zwischen sprachlicher Variation als sprachgebrauchsbezogenes und Varietäten als theoretisches Konzept zu unterscheiden. Angelika Linke fasst dieses Verhältnis treffend zusammen, indem sie schreibt:

Variation als Phänomen des Sprachgebrauchs (auf allen sprachlichen Rängen) heißt: Man kann es auch anders sagen. Wer Variation beziehungsweise Varianten beschreibt, be-schreibt Wahlmöglichkeiten beziehungsweise deren Ergebnisse. Varietät als theoretisches Konzept hebt dagegen auf die systematische und im Coseriu’schen Sinn normative Kook-kurrenz von sprachlichen Formen ab und heißt zugespitzt so viel wie: Man kann es nicht anders sagen. […] Der Varietätenbegriff beschreibt den Fall, dass die Wahl einer Variante A mehr oder weniger zwangsläufig die Wahl einer Variante B nach sich zieht. Wer Varietä-ten beschreibt, beschreibt also Systeme, welche Variation einschränken. (Linke 2010: 255;

Hervorhebungen im Original)

Grundlegend für dieses theoretische Konzept der Varietät, das in der germanis-tischen Sprachwissenschaft maßgeblich durch die Ausdifferenzierung bei Löff-ler (2005, 1. Aufl. 1985) geprägt wurde, ist die Annahme, dass sich historische Einzelsprachen aus verschiedenen Teilsprachen (Varietäten) zusammensetzen, die sich durch regelhaft gemeinsam auftretende sprachliche Merkmale jeweils voneinander abgrenzen lassen. Die durch außersprachliche Einflussgrößen (Raum, Zeit, soziale Schicht, soziale Gruppe, Alter, Geschlecht, soziale Rolle, Situations-/Interaktionstyp, Funktion, Medium) bedingte Vielfalt innerhalb einer Sprache (vgl. Löffler 2005: 79) kann damit erklärt werden, einzelne Varie-täten anhand ihrer sprachlichen Ausprägung voneinander tendenziell unter-schieden und systematische Zusammenhänge entdeckt werden.71 Die Frage, wie

|| 71 Vgl. die Definition von Varietätenlinguistik als „[i]m Rahmen soziolinguistischer

Fragestel-lungen entwickelte Beschreibungsansätze, die von einer systematisch geordneten Heterogeni-tät natürlicher Sprache ausgehen“ bei Bußmann (2002: 729).

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der das Konzept prägende Begriff Varietät terminologisch abgesteckt werden kann, führte in den vergangen Jahrzehnten zu verschiedenen Ansichten.72 In der Einführung ihres Themenbandes zur sprachlichen Variation halten Gilles/Scharloth/Ziegler (2010: 1) fest:

Weniger die Frage des Phänomenreichtums, d.h. der sprachlichen Variation, steht im Mit-telpunkt, als vielmehr der Kampf um Begriffe und Konzepte und damit verbunden die Frage, wie sich dieser Phänomenreichtum konzeptuell beherrschen lässt. Deutlich wird diese Machtstrategie an der seit mehr als 20 Jahren anhaltenden Diskussion um den Varie-tätenbegriff, der sich als zentraler Ordnungsbegriff zur Beschreibung sprachlicher Hetero-genität etabliert hat.

Die Vielzahl der Definitionen des Begriffs Varietät ist in der Verschiedenheit der eingenommenen Perspektiven begründet, die in drei Hauptströmungen zu-sammengefasst werden kann: die Systematisierung nach a) systemlinguisti-schen, b) soziolinguistischen oder c) psycholinguistischen Kriterien (vgl.

Gilles/Scharloth/Ziegler 2010: 12). Die unterschiedliche Begriffsmodellierung zeigt sich u.a. auch in der Auffassung des Verhältnisses zwischen den Spre-chergruppen und mit ihnen in Verbindung stehenden Varietäten. In Bezug auf die Dialektgebundenheit einzelner Sprechergruppen aufgrund ihrer Sozialisati-on in einer bestimmten RegiSozialisati-on wird davSozialisati-on ausgegangen, dass diese regiSozialisati-onale Varietät den Sprecher bzw. die Sprecherin dominiert, die Varietät erscheint „als etwas Vorgegebenes, dem ein Sprecher sozusagen nicht entkommen kann“

(Linke 2010: 256). Andererseits können aber auch Sprecher/-innen bzw. Spre-chergruppen einzelne Varietäten dominieren – dies wird v.a. in Bezug auf sozia-le oder funktionasozia-le (z.B. fachsprachenbezogene) Variation deutlich. Hier „un-terliegen“ die Sprecher/-innen nicht einer Varietät, sondern beherrschen sie, verwenden sie in Kombination mit anderen Varietäten im Sinne einer kommu-nikativen Ressource (vgl. Linke 2010: 256). Für ein Vorhaben, das sich mit Ju-gendsprachen auseinandersetzt, ist wohl eher die zweitere Auffassung des Kon-zepts Varietät zutreffend. Am ehesten geeignet scheint hier ein soziolinguistisch orientierter und relativ weit gefasster Varietätenbegriff73 zu sein, wie ihn Berruto (2004: 189; Hervorhebungen ML) folgendermaßen skizziert:

|| 72 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der definitorischen Vielfalt des

Varietätenbe-griffs bietet Dovalil (2006) in seiner Dissertation zum „Sprachnormenwandel im geschriebenen Deutsch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“.

73 Als Beispiel für eine enger gefasste, stärker systemlinguistisch orientierte Definition des Varietätenbegriffs kann folgende Definition von Peter Auer genannt werden, der Varietät bestimmt als „Menge interpretierter oder uninterpretierter stark kookkurrierender

Eine sprachliche Varietät zeichnet sich dadurch aus, dass gewisse Realisierungsformen des Sprachsystems in vorhersehbarer Weise mit gewissen sozialen und funktionalen Merkmalen kookkurrieren […]. Varietäten [sind] als (konventionell bestimmte, unscharf abgegrenzte) Verdichtungen in einem Kontinuum zu verstehen.

Die Vorstellung der eindeutigen Distinktheit von Varietäten wird mit dieser Begriffsdefinition verabschiedet, das Varietätenkonzept so für die Jugend-sprachforschung potenziell nutzbar. Eben weil ein Element überlappend in verschiedenen Varietäten vorkommen kann, kommt die Annahme von Verdich-tungsbereichen kookurrierrender Merkmale der Sprachrealität näher als die Vorstellung von gegeneinander klar abgrenzbaren Merkmalsbündeln (vgl.

Dovalil 2010: 46). Der gemeinsame Sprachgebrauch innerhalb sozialer Gruppen von Jugendlichen und gemeinsam realisierte Funktionen dieses Sprachge-brauchs (z.B. die Funktion der personalen und sozialen Identitätsbildung)74 bewirkt das gemeinsame Vorkommen gewisser Realisierungsformen. So spricht etwa Androutsopoulos (1998: 592) von Jugendsprache als

sekundäre Varietät, die in der sekundären Sozialisation erworben, in der alltäglichen in-formellen Kommunikation im sozialen Alter der Jugend habituell verwendet und als sol-che identifiziert wird. Sie wird auf der Basis einer areal und sozial verschiedenen Primär-varietät realisiert und besteht aus einer Konfiguration aus morphosyntaktischen, lexikalischen und pragmatischen Merkmalen, deren Kompetenz, Verwendungshäufigkeit und spezifische Ausprägung nach der soziokulturellen Orientierung der SprecherInnen variiert.

Die Bezeichnung „sekundäre Varietät“ meint sprachliche Gebilde, welche nicht primär, d.h. von Geburt an, erworben werden, so wie das beispielsweise bei Dialekten der Fall ist, sondern erst „während einer Sekundärsozialisation, die nicht im Rahmen der Familie, sondern im Rahmen eines neuen sozialen Gebil-des stattfindet“ (Androutsopoulos 1998: 586) von den Sprecher/-innen angeeig-net werden. Androutsopoulos stellt sich das Verhältnis von Primärvarietät (kol-loquialer Standard oder Regionalvarietät) und Jugendsprache als Sekundärvarietät wie ‚Basis’ und ‚Überbau’ eines sprachlichen Gebildes vor, die

„ein Gefüge von sich überlagernden (Schichten von) Merkmalen mit unter-schiedlicher soziolinguistischer Relevanz“ (Androutsopoulos 1998: 587)

erge-|| scher Merkmale, die gegen andere Varietäten im Repertoire abgegrenzt und (oft)

be-wußt/benennbar sind“ (Auer 1989: 29).

74 Zur Kommunikation in Jugendgruppen als sozialisatorische Interaktion und ihren Charak-teristika vgl. Neuland (2008: 162165).

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ben.75 In dieser Anwendung des Varietätenmodells auf den Sprachgebrauch Jugendlicher ist der Hinweis auf die transitorische Geltung der sekundären Sozialisation enthalten. Diese Konzeption von Jugendsprache als eine vorüber-gehende gruppenspezifische Varietät findet sich bei Löffler in der Bezeichnung

„transitorischer Soziolekt“ (2005: 118) wieder. In seiner Gliederung grenzt er diese durch den Übertritt in ein anderes Lebensalter (etwa durch den Eintritt ins Berufsleben) sich individuell abbauende und schließlich auflösende Varietäten von temporären (z.B. die Gefängnissprache) und habituellen Soziolekten (z.B.

Gaunersprache) ab (vgl. Löffler 2005: 114126), freilich nicht, ohne darauf hinzu-weisen, „dass die Sprachwirklichkeit ein übergangsloses Kontinuum darstellt und dass alle Klassifizierungsversuche eine Frage des Standpunktes sind“ (Löff-ler 2005: 79).

Zentral für das Varietätenkonzept bleibt dennoch die Annahme kookkurrie-render Merkmale, spezifischer sprachlicher Charakteristika, die in der Summe ein relativ homogenes sprachliches Gebilde bilden und einer bestimmten Ge-meinschaft von Sprecher/-innen zuzuordnen sind. Diese Merkmalsbündel (vgl.

Löffler 2005: 114) zu erfassen hat zum Ziel, sprachliche Variation auf der Sys-temebene, im Bereich der Sprachregeln, festzustellen. In diesem Zusammen-hang sei auf das für die Beschreibung innersprachlicher Variation ebenso in Frage kommende Merkmallistenmodell76 verwiesen, das sich im Gegensatz zum Varietätenmodell auf die Varianz im Bereich der sprachlich-kommunikativen Verhaltensweisen, d.h. auf den unterschiedlichen Gebrauch derselben Regeln, bezieht, wodurch die Spezifik eines sprachlichen Gebildes nicht absoluter, son-dern quantitativer Natur ist (vgl. Fiehler et al. 2004: 146). Die Merkmale „be-stimmen die Spezifik in der Regel als einen quantitativen, nicht als einen abso-luten Unterschied. D.h., es gibt kaum Merkmale, die exklusiv in der einen, nicht aber in der anderen Gruppe auftreten.“ (Fiehler et al. 2004: 146).

Diese Abgrenzung hinsichtlich des quantitativen Vorkommens sprachlicher Besonderheiten in der Varietätenlinguistik spiegelt sich in der Unterscheidung zwischen alterspräferentiellen gegenüber altersexklusiven Merkmalen in der Jugendsprachforschung wider,77 die auf das so genannte

„Age-grading-||

75 In jüngeren Arbeiten rückt Androutsopoulos jedoch selbst von dieser Definition von Ju-gendsprache(n) als sekundäre Varietät(en) ab (vgl. z.B. Androutsopoulos 2006).

76 Näheres zur Bedeutung des Merkmallistenkonzepts innerhalb der Variationslinguistik findet sich bei Fiehler et al. (2004: 146). Die Verwendung von Merkmallisten in Arbeiten zur Altersspezifik wird in Fiehler (1998: 39) diskutiert.

77 Diese Unterscheidung geht v.a. auf Cheshire (1987) zurück, die schreibt: „The characteristic forms may be age-exclusive, in that they are used only during a certain stage of life, or they

Konzept“,78 das der anglo-amerikanischen Soziolinguistik entstammt, zurück-geht. Es fußt auf der Annahme, dass bestimmte sprachliche Mittel von einer spezifischen Altersgruppe – entweder ausschließlich oder zumindest bevorzugt – verwendet werden, dass es also beispielsweise Formen gibt, „which are used only by children in the peer-oriented stage, and which are transmitted from one generation of children to the next without ever being used by adults“ (Hudson 1980: 16). Darunter fallen neben kulturspezifischen auch biologisch begründete altersexklusive Erscheinungen wie das Zittern der Stimme betagter Menschen oder phonologische Merkmale des Stimmbruchs bei Jugendlichen.79 Mit Blick auf die oben besprochene Ausdifferenzierung der Kategorie Alter wird offen-sichtlich, dass die Annahme sprachlicher „age markers“ (Helfrich 1979) als spezifische Kennzeichen des Sprachgebrauchs von Sprecher/-innen bzw. Spre-chergruppen in einzelnen Lebensabschnitten nicht haltbar ist und unter den Begriff der „age-exclusiv features“ de facto nur jene sprachlichen Besonderhei-ten fallen, „die wesentlich aufgrund von körperlichen Veränderungen einer bestimmten Altersstufe auftreten, so etwa der Stimmbruch bei männlichen Jugendlichen“ (Kohrt/Kucharczik 1998: 33) – der Einfluss der sozial-situativen Dimension auf die Wahl der Sprachmittel in der Kommunikation bleibt jedoch unbeachtet (vgl. Kohrt/Kucharczik 1998: 34).

Mit der Einsicht, dass eine Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes nicht allein auf Grundlage des Alters der Personen erfolgen kann, muss also eine terminologische Einschränkung im Rahmen einer deskriptiv orientierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung einhergehen. So besteht mittlerweile in der Jugendsprachforschung Konsens darüber, „dass man […] nicht von einem altersexklusiven Gebrauch jugendsprachlicher Merkmale und Muster ausgehen kann, denn auch Erwachsene sowie auch Kinder machen von jugendsprachli-chen Ausdrucksweisen Gebrauch“ (Neuland 2008: 55). Mit Verweis auf die Ge-brauchsfrequenz bestimmter sprachlicher Muster wird deshalb die Unterschei-dung von alterspräferentiellen gegenüber altersexklusiven Merkmalen bevorzugt und im Rahmen der variationslinguistisch orientierten

Jugendsprach-|| may be age-preferential, in that they occur more frequently in some stages of life than in

oth-ers.” (Cheshire 1987: 761).

78 Zum Age grading im Sinne einer altersbezogenen Differenzierung vgl. neben Cheshire (1987) auch Chambers (1995, 8 und 188) und Eckert (1997).

79 Zu biologisch bedingten Veränderungen im Sprachverhalten (z.B. geringeres Sprechtempo oder Veränderung der Stimmqualität durch Veränderungen des Kehlkopfs, der Muskeln und der Stimmlippen) im Verlauf des Lebens vgl. z.B. Helfrich (1979) oder Kohrt/Kucharczik (1998, 29).

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forschung v.a. ersterem Bereich, dem in einer Altersgruppe bestehenden ge-häuften Vorkommen einzelner Varianten, erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt.

Doch auch wenn für die Beschreibung von Jugendsprache das Konzept von Varietäten als „Verdichtungen in einem Kontinuum“ (Berruto 2004: 189) heran-gezogen und eine terminologische Ausdifferenzierung von altersexklusiven und -präferentiellen Merkmalen bzw. Varianten verfolgt wird, so wirft die Annahme mehr oder weniger distinktiver Varietäten im Detail dennoch Fragen auf, die für die Varietätenlinguistik generell gelten und die sich in Bezug auf den ohnehin äußerst inhomogenen Untersuchungsgegenstand Jugendsprachen umso stärker aufdrängen (vgl. Fiehler et al. 2004: 142): Wie homogen muss eine Varietät sein, um als solche gelten zu können? Wie geht man mit varietäteninterner Varianz, etwa in Form von gruppeninternen Unterschieden in der Jugendkommunikati-on, um? In wie viele Subvarietäten kann eine solchermaßen altersgebundene Varietät ausdifferenziert werden? Muss sich die Gemeinschaft der Sprecher/-innen – etwa eine Gruppe von Jugendlichen – dessen bewusst sein, dass sie eine Varietät verbindet, damit sie als solche gelten kann?

Die innerhalb der Varietätenlinguistik bekannten definitorischen Probleme und die Anwendung des Begriffs auf Phänomene tatsächlichen Sprachge-brauchs liegen besonders für den Untersuchungsgegenstand Jugendsprache(n) auf der Hand: Sie als diastratische Varietät zu fassen, scheitert an der Inhomo-genität jugendlicher Gruppen bezüglich der Schichtzugehörigkeit einzelner Gruppenmitglieder, deren Sprachgebrauch darüber hinaus stark von den Medi-en, die die Jugendlichen verwendMedi-en, abhängt. Neuland (2008) zieht daraus die Schlussfolgerung,

dass eine sprachsystembezogene Sichtweise, wie sie […] den Variationsmodellen zugrun-de liegt, die spezifischen Sprachunterschiezugrun-de nur sehr unzureichend erfassen und keines-falls erschöpfend beschreiben oder gar erklären kann. (Neuland 2008: 69)

Stattdessen sei von einem „multidimensionalen Varietätenraum“ auszugehen, der neben diachronischen, diatopischen, diastratischen und diaphasischen Varietäten weitere substandardsprachliche kommunikative Ressourcen für den Sprachgebrauch Jugendlicher umfasst (vgl. Abbildung 2).80

|| 80 Die Abbildung basiert auf folgendem Aufsatz von Neuland (2000): „Jugendsprache in der

Diskussion: Meinungen, Ergebnisse, Folgerungen“.

Abb. 2: Variationsspektrum von Jugendsprache(n) (Neuland 2008: 69)

Diesen von verschiedenen ‒ mehr oder weniger stark einwirkenden ‒ Faktoren beeinflussten Varietätenraum setzt Neuland unterhalb der Standardsprache an,

„wobei allerdings sehr viele wechselseitige Einflüsse bestehen“ (Neuland 2008:

69). Wenngleich die Autorin ihr Modell der Veranschaulichung als „ungeordne-tes Variationsspektrum“ bezeichnet und wohl keine expliziten Aussagen über die Hierarchie dieser Einflussfaktoren untereinander explizit machen will, ver-mittelt die Abbildung doch den Eindruck, dass die in den weiter außen liegen-den Ellipsen situierten Faktoren Medien, Zeitgeschichte, gesellschaftlicher Kon-text und Region einen geringeren (oder von Seiten der Sprachwissenschaft bisher weniger beach-teten?) Einfluss auf den Sprachgebrauch Jugendlicher aufweise als dies für Faktoren wie Situation, Gruppe, soziale Herkunft oder Mig-ration anzunehmen sei. Diesbezüglich soll daher festgehalten werden, dass eine solche Gewichtung der Faktoren nach dem jetzigen Stand der Forschung abzu-lehnen ist, da der Einfluss der einzelnen außersprachlichen Bereiche bisher nicht in ausreichendem Maße sprachwissenschaftlich untersucht worden ist.

Das zeigt sich etwa am Faktor Region, wie bereits in Kapitel 1.1. angesprochen wurde. In Bezug auf den Sprachgebrauch Jugendlicher in Österreich als Teil des

Jugendsprache

Zeitgeschichte gesellschaftlicher Kontext Geschlecht

Migration

Region Medien

Domäne Generation

Alter

Bildungs-gang

Situation Gruppe

Subkulturen soziale Herkunft S t a n d a r d s p r a c h e

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deutschen Sprachraums, in dem das Verhältnis von Dialekt und Standardspra-che als Kontinuum beschrieben werden kann (vgl. Kapitel 1.1.2. und 3.1.3.), ist darüber hinaus zu hinterfragen, ob Jugendkommunikation mit ihren diversen außersprachlichen Einflussfaktoren, wie in Neulands Abbildung angedeutet, der Standardvarietät gegenüberzustellen ist. Für Sprecher/-innen des südlichen deutschen Sprachraums, die dialektale Sprechweisen im Alltag nicht nur in familiär-informellen, sondern auch in formelleren, halböffentlichen Domänen als unmarkierte Varietät gebrauchen,81 scheint es treffender, die Standardvarie-tät nicht als Gegenpart zu allen Substandard-Ressourcen, sondern vielmehr als ein weiteres Mittel jugendlichen Sprechens mit spezifischen Funktionen zu sehen.82 Der Auffassung Neulands, den Sprachgebrauch Jugendlicher nicht als eine mehr oder weniger abgrenzbare Varietät mit stabilen, kookkurrierenden Merkmalen, sondern als Teil eines multidimensionales Variationsspektrums aufzufassen, wird aber in seinen Grundzügen beigepflichtet.

Neben der bemängelten Inadäquatheit des Varietätenbegriffs in Bezug auf Jugendsprachen als äußerst inhomogenen Forschungsgegenstand, ist aber auch auf einer noch allgemeineren, eher methodischen Ebene Kritik am Varietäten-modell geübt worden: Androutsopoulos etwa sieht den Varietätenbegriff in der Jugendsprachforschung auch in seiner Konstrukthaftigkeit und damit einher-gehenden fehlenden Empirie-Adäquatheit als problematisch an:

||

81 Vgl. dazu den im Aufsatz „Varietätenwahl und Code-Switching in Deutschschweizer Chat-Kanälen - Quantitative und qualitative Analysen“ von Siebenhaar (2005) verwendeten Begriff Matrixvarietät, der vom Autor in Anlehnung an Myers-Scotton (2001) als jene Varietät definiert wird, „welche die grammatische Basisstruktur für Äußerungen darstellt. Sie stellt damit die unmarkierte Varietät in einer Umgebung dar, in der Elemente anderer Varietäten auffallen. […]

Wechsel in dieser unmarkierten Umgebung werden als auffällig wahrgenommen und interpre-tiert“ (Siebenhaar 2005: 8). Der Autor weist explizit darauf hin, dass dieser in der Chat-Kommunikation vorfindliche Wechsel von der dialektalen Matrixvarietät zur Standardvarietät und seine Funktionen „mit denen in direkter Interaktion vergleichbar“ (Siebenhaar 2005: 8) sei.

82 Wenn Dialekt oder regionale Umgangssprache den alltagssprachlichen Normalfall darstellt – Kallmeyer (1994: 25) spricht hier auch von einer „Normallage“ – , kann der Einsatz von Stan-dardsprache in Gesprächen zwischen Sprecher/-innen derselben regionalsprachlichen Varietät u.A. in Form eines innersprachlichen Code-Switchings bzw. Code-Shiftings (vgl. Neuland 2008:

7374 und 151) als Kennzeichen jugendlichen Sprechens mit unterschiedlichen Funktionen, z.B.

des Wechsels in eine humorvolle Interaktionsmodalität im Sinne eines „Sprechens mit fremden Stimmen“ (vgl. Androutsopoulos/Spreckels 2010: 89), verwendet werden. Gesprächssequenzen der Osttiroler Freizeitkommunikation, die dieses Spiel mit fremden Stimmen exemplarisch darstellen, finden sich u.a. in Kapitel 4.4.3.

Entweder wird der Varietätenstatus a priori zugeschrieben oder aber die Evidenz be-schränkt sich auf die Auflistung einzelner (vor allem lexikalischer) Sprachmittel, die je-doch an und für sich keine Varietät konstituieren, solange keine systemhaften Zusam-menhänge zwischen ihnen und ihrer sozio-situativen Verteilung nachgewiesen werden.

(Androutsopoulos 1998: 24)

Da der Sprachgebrauch Jugendlicher weder eindeutig der diastratischen, noch der diaphasischen Dimension sprachlicher Varietät zugeordnet werden kann und sich einer systematischen Beschreibung als strukturell abgrenzbare Einheit weitgehend entzieht, veränderte sich die Perspektive in der Jugendsprachfor-schung in den letzten Jahrzehnten zunehmend von der systembezogenen zu einer sprecher(gruppen)bezogenen Perspektive, jugendlicher Sprachgebrauch wird zunehmend als Ausdruck subkultureller konversationeller Stile begriffen (vgl. Neuland 2008: 71).

Damit rückt statt der Frage nach der Systematizität der Variation die „Ak-zentuierung der Frage der sozio-kommunikativen Bedeutsamkeit der Variation“

(Gilles/Scharloth/Ziegler 2010: 2), wie sie im Paradigma der Sozialstilistik vor-genommen wird, ins Zentrum des Interesses.