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II. Einblicke in die Branche

12. Übergeordnete Erkenntnisebene

12.1. Ambivalenz des Feldes

Übergeordnete Erkenntnisebene

Im Folgenden Kapitel möchte ich nun jene Schlussfolgerungen darlegen, die sich aus den im letzten Kapitel zusammengefassten branchenspezifischen Ergebnissen für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Sozialforschung und deren Blick auf Gesellschaft meines Erachtens ergeben haben. Dass die Betrachtung eines gesellschaftlichen und kulturellen Ausschnitts in Form einer Branche und des Rahmens, in dem sich diese bewegt, für eine kulturwissenschaftliche Interpretation taugt, zeigte sich in den vielfältigen Berührungspunkten, die sich im Verlauf meiner Beschäftigung mit dem Thema der vorliegenden Arbeit ergeben haben. Angesichts dieser Vielfältigkeit, die in den Daten aufgeworfen wurde, soll an dieser Stelle jedoch nicht nur diskutiert werden, inwiefern die herkömmlichen wissenschaftlichen Erklärungen für gesellschaftliche Zusammenhänge und Transformationsprozesse tatsächlich Relevanz beanspruchen können; es wird auch um eine sozusagen kulturphilosophische Sicht gehen, die über die bloß wissenschaftliche Beschreibung der gesammelten Daten hinausgehen möchte und mit der versucht werden soll, den in der Einleitung angerissenen Diskurs zur Rolle der Trauerkultur für das gesellschaftliche Zusammenleben wenn nicht fortzusetzen, so doch diesem vielleicht den ein oder anderen neuen Impuls zu geben.

12.1. Ambivalenz des Feldes

In Anbetracht der branchenspezifischen Erkenntnisse und vor allem der im Feld auftretenden Ambivalenz der kulturellen Ausdrucksformen von Trauer deutet sich als erste übergeordnete Erkenntnisebene an, dass „[k]aum eine Facette der alltäglichen Erfahrung“ eine „scheinbar selbstverständliche Unterscheidung zwischen Innen und Außen so sehr verunsichern“ kann „wie die Emotionen.“ 554

Scheer, Monique: Topografien des Gefühls. In: Frevert et al 2011, S. 41-64, hier S. 41. (Im

554

Folgenden: Scheer 2011b)

Es scheint sich zu bestätigen, dass Gefühle – und hier vor allem die Trauer – sowohl im Gefühlshaushalt der Hinterbliebenen entstehen, als auch von außen beeinflusst werden können, etwa durch allgemeine Entwicklungen in der Trauerkultur oder individuell durch Experten, welche diese Gefühle, etwa durch eine entsprechende Ansprache, zu bedienen wissen. Konnte demnach vor allem hinsichtlich des „Außen“ herausgearbeitet werden, wie wichtig eine externe und vor allem rituelle Mobilisierung von Emotionen für Hinterbliebene immer noch ist und welch wichtige Rolle innerhalb der für diese Mobilisierung verantwortlichen Emotionspraktiken die damit betrauten Experten spielen, konnte das „Innen“ hingegen als entscheidender Auslöser für eine emotionale Verunsicherung wahrgenommen werden, die wiederum das „Außen“ beeinflusst.

Gerade die Frage, warum es trotz der mittlerweile mannigfaltigen Möglichkeiten und trotz eines grundsätzlich säkularen Weltverständnisses offenbar gerade Trauernden „bemerkenswert schwer“ fällt, sich des Allmächtigen zu entledigen“ lässt also implizite Rückschlüsse auf das emotionale 555 Zusammenspiel von „Innen“ und „Außen“ zu.

Zwar kann aufgrund der zunächst fragmentarischen Ausrichtung dieser Arbeit kaum beansprucht werden, dass die „‚Introjektion’ des Gefühlslebens ein für allemal geklärt ist“, doch lässt sich anhand der Rolle der Branche innerhalb dessen, was in der vorliegenden Arbeit unter Bezugnahme auf emotionswissenschaftliche Theorien Emotionspraktiken genannt wurde, verdeutlichen, wie sehr diese Introjektion im Rahmen „einer alltäglichen Gefühlspraxis immer wieder hergestellt werden“ muss‚ und dass die dafür benötigten Emotionspraktiken einerseits selbstverständlich „Verschiebungen, Modifikationen und Aktualisierungen ausgesetzt“ sind, andererseits aber auch 556 ungebrochene Kontinuitätslinien aufweisen können. Indem das „Innen“ der Trauernden mit dem vorgegebenen „Außen“ der Trauerkultur mitunter also nicht korrespondiert, kommt es zum Rückgriff auf das, was dem „Innen“ als Stabilitätsgarant bekannt ist. Dieser Rückgriff auf rituelle und religiöse

Eagleton, Terry: Der Tod Gottes und die Krise der Kultur, München 2015, S. 10.

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Scheer 2011b, S. 41.

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Kontinuitäten zeigt demnach, wie wirkmächtig trotz aller tendenziellen Veränderbarkeit der Emotionspraktiken und der Kultur an sich überhaupt ein kollektiv erfahrbarer und verbindlicher Sinnhorizont für das „Innen“ sein kann.

Trotz aller in der Gesellschaft beobachtbaren Auflösungstendenzen, halten sich manche Sozialisationsmuster im Gefühlshaushalt der Individuen länger als gedacht. Diese emotionale Ambivalenz äußert sich innerhalb der Trauerkultur 557 momentan größtenteils weder in einer dezidiert religiösen, noch in einer dezidiert säkularen Bezugnahme, sondern in einer scheinbar endlosen Ausdifferenzierung des trauerkulturellen Angebots, in der Mischformen den Ton angeben und sowohl religiöse Kontinuitäten als auch säkulare Alternativen Platz haben – ohne als solche betrachtet zu werden.

Somit geht aus den emotionswissenschaftlichen Berührungspunkten, die in der vorliegenden Arbeit gestreift wurden, eine weitere übergeordnete Erkenntnisebene hervor. Entsprechend der Notwendigkeit, der emotionalen Verunsicherung im Trauerfalle etwas ordnendes entgegenzusetzen, kann bezüglich der säkularisierungstheoretischen Perspektive festgehalten werden, dass es in Anbetracht der gegenwärtigen Trauerkultur zwar einerseits übertrieben ist, von einer „Rückkehr der Religionen“ zu sprechen, die ja „im Widerspruch zu den grundlegenden Annahmen der Säkularisierungstheorie steht, wie sie sich seit den Untersuchungen von Durkheim und Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte“ – andererseits aber gerade die im Rahmen dieser Arbeit 558 erhobenen Daten zeigen, welch große Rolle auch (religiöse) Metaphysik – ob dezidiert oder individualisiert, ob formal oder spirituell – gerade in der Auseinandersetzung mit dem Tod immer noch spielt, um eine Ordnung der Sinne und des Rahmens herzustellen.

Die gegenwärtige Trauerkultur kann entgegen der im Vorhinein angenommenen und überwiegenden Verweltlichung im Zuge eines Wandels unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen somit als Bündelung der Kulturtechniken und Emotionspraktiken, die in der Konfrontation mit Sterben,

Vgl. Jeggle, Utz: Alltag. In: Bausinger, Hermann et al (Hg.): Grundzüge der Volkskunde,

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Darmstadt 1993, S. 81-126, hier S. 123.

Raiser 2010, S. 13.

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