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I. Von der Trauer zur Trauerkultur

2. Definitorische Annäherungen

2.6. Neue Akteure als Ergebnis des Wandels

Dieser kaum zu leugnende Niedergang der organisierten Kirche und der institutionalisierten Religion in einem nicht unbeträchtlichen Teil ihres ursprünglichen Hoheitsgebiets, aber auch die zeitgleich stattfindende Ausdifferenzierung unter anderem des Erwerbslebens sowie die dadurch angestoßene Auflösung traditioneller Familienstrukturen, die zur Zeit der bürgerlichen Gesellschaft noch als tragende Kraft der Trauerarbeit gelten konnten, hat dazu geführt, dass die Organisation und Durchführung einer Bestattung und der damit verbundenen Trauerfeier zunehmend anders organisiert werden musste.

Es bildete sich eine diffizile und ambivalente Sphäre aus, die in Form von professionellen „‚Techniker[n] des Übergangs’ (‚transition technicians’)“

organisatorische Unterstützung „in der Leidensperiode“ anboten, um die sich 81 abzeichnenden Überforderung der Individuen im Zuge ihrer Herauslösung aus den traditionellen Kollektiven, Institutionen und Weltbildern während eines Trauerfalls zu kompensieren. Diese „Techniker des Übergangs" kümmerten sich fortan um juristische und – wie es der Name bereits andeutet – (bestattungs-) technische Dinge. Bestattungsunternehmen, Ärzte und andere „Techniker des Übergangs“ schufen nunmehr eigene Angebote. Sterben, Tod und Trauer gingen vermehrt „in den Zuständigkeitsbereich von Experten“ über und wurden „zur

Vgl. Redlin, Jane: Weltliche Bestattungen in Deutschland. In: Kulturamt Prenzlauer Berg (Hg.):

79

‚Kein Jenseits ist, kein Aufersteh’n’ – Freireligiöse in der Berliner Kulturgeschichte, Berlin 1998, S. 109-121.

Vgl. Fischer 2001a, S. 50.

80

Spiegel, Yorick: Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung, München 1973, S. 95. Auch

81

wenn sich der Terminus nach einem für dieses Thema sehr technokratischen Sprachduktus anhört, kann er in der vorliegenden Arbeit zunächst durchaus als Arbeitsbegriff verwendet werden – zumal sich hier ein materialistischer Jargon ausdrückt, der die Distanz dieser Akteure zum geistlichen Impetus der religiösen Akteure äußerst prägnant zur Geltung kommen lässt.

Aufgabe speziell ausgebildeter Berufsgruppen,“ deren „Bezahlung [...] an den Gesetzen des Marktes orientiert“ war. 82

Auch wenn sich die innerkulturellen, verbalen und nonverbalen Kommunikationssysteme, die gesellschaftlichen Praktiken also, mit der Zeit verändert haben, zeigt sich gerade in dieser Herausbildung speziell ausgebildeter Berufsgruppen, dass auch unsere Gesellschaft sich damit dem einzelnen Todesfall immer noch „so gewissenhaft wie möglich“ annimmt, was im Rahmen kapitalistischer Vergesellschaftung bedeutet:

„[A]ls eines ökonomischen Problems, das so professionell wie möglich zu lösen ist. Man kommt ins Krankenhaus, wenn es ans Sterben geht. Das Beerdigungsinstitut erledigt alle Formalitäten im Todesfall. Jeder hat Anspruch auf einen Dienstleistungsbetrieb, der seinen Tod so ordentlich und reibungslos wie möglich regelt.“83

Dieser Dienstleistungsbetrieb orientiert sich an den jeweiligen momentanen trauerkulturellen Besonderheiten und hat sich analog zur gesellschaftlichen Tendenz ebenfalls ausdifferenziert. Er besteht aus unterschiedlichen Segmenten, die trotz aller divergierenden und sich verändernden Aufgaben und Interessen miteinander arbeiten und ineinander übergreifen müssen, um den Hinterbliebenen und Trauernden einen Rahmen zu liefern, der ihre Emotionen auffängt und es ermöglicht, diese auszudrücken – auf möglichst zeitgemäße, zumindest aber kundenorientierte Art. Während es für jene bereits benannten klassischen und mittlerweile immer professioneller arbeitenden Branchen, die gemeinhin mit der Trauerkultur in Verbindung gebracht werden, jedoch bereits eindringliche wissenschaftliche Studien zur Diskussion der benannten Annahmen gibt, möchte 84 sich die vorliegende Arbeit also einer anderen Berufsgruppe innerhalb der Trauerkultur widmen, die bislang in wissenschaftlichen Betrachtungen kaum eine Rolle spielte: Den freien Trauerrednern.

Rosentreter/Groß 2010, S.77.

82

Türcke, Christoph: Kassensturz. Zur Lage der Theologie heute, Frankfurt a. M. 1992, S. 82.

83

In diesem Sinne erwähnt werden kann etwa die kulturwissenschaftliche Studie von Dagmar

84

Hänel zur Rolle der Bestatter im 20. Jahrhundert, vgl. Hänel, Dagmar: Bestatter im 20.

Jahrhundert. Zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs, Münster/New York 2003.

-3-Forschungsstand

Wenn also recht offensichtlich unter dem Begriff der Trauerkultur Erlebensweisen, Erfahrungen, Einsichten und Überzeugungen verstanden werden, die den Rahmen ausmachen, in dem sich die Branche der Trauerredner bewegt, dann scheint es angebracht, zunächst die bisherigen Forschungen aus unterschiedlichen Disziplinen zu diesem Rahmen vorzustellen, bevor auf den branchenspezifischen Forschungsstand eingegangen wird.

3.1. Forschungen zur Trauerkultur

Zunächst benötigt es für die Bearbeitung des Themas der vorliegenden Arbeit das Wissen um die geschichtswissenschaftlichen Forschungen zu Tod und Trauer, denn wie etwa Meitzler treffend feststellt, sind „Spezifika der Gegenwartsgesellschaft [...] nicht einfach zufällig ‚da’,“ sondern „können einzig durch die Konfrontation mit Determinanten ihres ‚Gewordenseins’, also mit Blick auf den soziohistorischen Gesamtkontext, in den sie eingeflochten sind, umfassend begriffen werden.“ Wird das Feld, in dem sich freie Trauerredner 85 bewegen demnach aus der Perspektive derer betrachtet, die Thomas Macho „die Überlebenden“ nennt, wird deutlich, dass nicht nur die heute gültigen Bestattungsgesetze, sondern auch das, was unter Trauerkultur verstanden wird

„nicht das Ergebnis einer nüchtern-pragmatischen Analyse gesellschaftlicher Erfordernisse“ sind, „sondern eher als Resultat einer historischen Entwicklung von sich transformierenden Sinnsetzungen angesehen werden müssen, die immer noch anhält.“ 86

Die Geschichte der Transformation der Trauerkultur beginnt, wie Spiegel, Sörries und Fischer etwa feststellen, mit der gesellschaftlichen Etablierung und

Meitzler 2013, S. 220.

85

Benkel, Thorsten: Das Schweigen des toten Körpers. In: Meitzler/Ders. 2013, S. 14-92, hier S.

86

83.

späteren Legalisierung der Feuerbestattung, deren Propagierung bereits in die Zeit der Aufklärung zurückreicht. Schon während der Französischen Revolution

„wurde im Jahre 1797 der erste große, allerdings erfolglose Versuch unternommen, die Leichenverbrennung als obligatorische Bestattungsform einzuführen.“ Obwohl die Feuerbestattung auch im Anschluss daran zunächst 87

„heftig umstritten [war], bahnte [diese] letztlich neuen, teilweise bis heute gültigen Formen der Bestattungs- und Trauerkultur ihren Weg.“ Denn nach 88 anfänglichen Schwierigkeiten galt die Feuerbestattung gegen Ende des 19.

Jahrhunderts als „im Kern rationalistisch und gestaltete das Bestattungswesen effizienter“, womit sie „als reformerisches Element innerhalb der Geschichte der Bestattungskultur bezeichnet werden“ kann und „gleichsam die technisch-industrielle Variante eines neuerlichen Reformschubs, der ab dem späten 19.

Jahrhundert überall in den industrialisierten Ländern zu beobachten war“ , 89 verkörperte. Deswegen wurde insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts die Forderung nach der Wiedereinführung der Feuerbestattung immer nachdrücklicher vorgebracht. Feuerbestattungsbefürworter waren zunächst 90 überwiegend große Teile der Arbeiterbewegung, Freidenker-Verbände und liberale Protestanten, deren Zusammenarbeit „sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt“ und die 91

„dieses Tätigkeitsfeld intensiv ausgebaut [hatten], indem sie seit der Jahrhundertwende eine enge Verbindung zu einer auf gegenseitiger Hilfe beruhenden Möglichkeit der Feuerbestattung herstellten. Sie war mit der Inbetriebnahme des ersten Krematoriums 1878 in Gotha möglich geworden und verbreitete sich vornehmlich in Verbindung mit einer sich ausweitenden Kirchenaustrittsbewegung.“ 92

Stück für Stück kam es zur notwendigen Institutionalisierung der ursprünglich eher ideologisch-agitatorischen Bewegung, die sich langsam in den neu

Spiegel 1973, S. 107.

Zur detaillierten Darstellung der Entwicklung der Feuerbestattung vgl. Thalmann, Rolf: Urne

90

oder Sarg? Auseinandersetzungen um die Einführung der Feuerbestattung im 19. Jahrhundert, Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1978.

Ebd., S. 62.

91

Kaul 1991a, S. 1.

92

gegründeten Feuerbestattungsvereinen auflöste. Deren gemeinsamer Nenner war das Bündeln aller fortschrittlicher Kräfte, „die aus höchst unterschiedlichen Gründen die Einäscherung der Leichen gegenüber der bis dahin allein gültigen Erdbestattung bevorzugten“ und von „liberalen und sozialen Reformideen der 93 I n d u s t r i a l i s i e r u n g s e p o c h e u n d d e m w a c h s e n d e n I n t e r e s s e a n naturwissenschaftlichen Fragen“ beeinflusst waren. Insofern war die erwähnte 94 Inbetriebnahme des ersten Krematoriums in Gotha eine der logischen Folgen der zahlenmäßig gewachsenen und damit auch finanziell konsolidierten Vereine.

Die Widerstände politischer und vor allem kirchlicher Institutionen waren hierbei nicht unbeträchtlich. Besonders heftige Opposition gegen sie ging von Teilen des orthodoxen Judentums und der katholischen Kirche aus. Letztere 95 erließ 1886

„ein absolutes Verbot der Feuerbestattung [...] Dieses Verbot umfasste die Teilnahme katholischer Priester an einer Trauerfeier zur Einäscherung und das Spenden der Sterbesakramente für Menschen, die ihre Feuerbestattung verfügt hatten.“ 96

Auch der altpreussische Evangelische Oberkirchenrat untersagte 1885 die Teilnahme von Geistlichen an einer Feuerbestattung, wenngleich die „Front gegen die Feuerbestattung innerhalb der evangelischen Kirchen nicht vollständig geschlossen [war]; sowohl die württembergische, die badische, die Gothaer und die hamburgische Landeskirche tolerierten die Mitwirkung von Geistlichen bei Feuerbestattungen.“ Die katholische Kirche verband mit der Feuerbestattung 97

„ein materialistisches Bild vom Menschen und betrachtete diese als unchristlich-pietätlosen Akt menschlicher Willkür, der darüber hinaus dem Glauben an die leibliche Auferstehung widersprach.“ Erst 1964 wurde 98

„eine Mitteilung des heiligen Offiziums herausgegeben, wonach eine Leichenverbrennung mit einem kirchlichen Begräbnis verbunden

Sörries, Reiner: Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs, Darmstadt 2011, S. 137.

93

Fischer 2001b, S. 54.

94

Spiegel 1973, S. 107.

95

Sörries 2011, S. 142.

96

Ebd., S. 143.

97

Fischer 2001b, S. 56.

98

werden kann, wenn sie nicht mit bewusster Absicht gegen das katholische Dogma angestrebt wird.“ 99

Eine Mischung aus „städtischem Bevölkerungswachstum und Raumnot, steigender Sensibilität für hygienische Probleme, technischem Fortschritt und gesellschaftlicher Säkularisierung“ war letzten Endes zusammengefasst dafür 100 verantwortlich, dass die Feuerbestattung den traditionellen Bestattungsformen kirchlicher Provenienz immer mehr Konkurrenz machen konnte. Gleichzeitig führte sie zu neuen zeremoniellen Formen der Trauer: „Grundsätzlich wurden die zeremoniellen Elemente reduziert. Die zentrale Feier fand im Krematorium statt, das überkonfessionell war. Vorangehende kirchliche Feiern waren zwar prinzipiell möglich, blieben aber die Ausnahme.“ Die Elemente kirchlicher Liturgie 101 erwiesen sich mit Fortschreiten der Säkularisierung, soweit sie noch vorhanden waren, „immer mehr als gleichsam ornamentale Versatzstücke, die in bürokratisierte und technisierte Abläufe eingebaut wurden.“ 102

Mit dieser Versachlichung der kirchlichen Bestattungskultur und der ihr anhängigen Trauerrituale im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung wurden auch die zu anfangs innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft noch religiös besetzten Kategorien wie Emotionalität und Spiritualität aufgeweicht, was dazu führte, dass die Rolle der Kirche in der Gestaltung der Übergangsrituale gerade in den letzten 50 Jahren immer unbedeutender wurde:

„In dem Zeitraum von 1970 bis 2000 betrug der Rückgang kirchlicher Bestattungen in Deutschland knapp 19% (davon evangelische Kirche knapp 25%, katholische Kirche gut 11%). Für viele ist die Aussicht auf eine kirchliche Bestattung kein Grund mehr, Kirchenmitglied zu bleiben, und selbst Kirchenmitglieder wünschen vielfach keine kirchliche Bestattung.“103

Folgerichtig weist Heinrich L. Cox als Triebfedern für diese sich transformierenden Sinnsetzungen vor allem „wirtschaftliche Veränderungen, die

Spiegel 1973, S. 107.

99

Fischer 2001b, S. 53.

100

Fischer 2001a, S. 48.

101

Ebd., S. 50.

102

Schäfer 2011, S. 151. Wie Schäfer an dieser Stelle bemerkt, ist die Bestattung jedoch immer

103

noch die am häufigsten gefragte kirchliche Amtshandlung.

Säkularisierung des menschlichen Denkens und den damit einhergehenden Einbruch naturwissenschaftlicher Erklärungsmuster“ aus, die zunächst an ganz 104 konkrete historische Ereignisse gekoppelt werden könnten. Meitzler weist jedoch im Hinblick auf die im letzten Abschnitt dargestellten Ausführungen ergänzend darauf hin, dass aktuelle Forschungsansätze zur Trauerkultur „dem eng mit gesellschaftlichen Veränderungsvorgängen verwobenen Prozess der Individualisierung“ besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse. Auch 105 Julia Schäfer rückt in ihrem sehr detaillierten Überblick Tod und Trauer in der Moderne die Individualisierungstendenzen der Praktiken des Gedenkens und deren sozialer Ausgestaltung in Form von Übergangsritualen in den Mittelpunkt.

Sie stellt für den angedeuteten Wandel der Trauerkultur die „Dynamik einer Individualisierung und Pluralisierung der Abschiedskulturen und Trauerformen“

zunächst als „positive Antriebskraft“ heraus, „die die Suche nach neuen Ritualen und einer alternativen Trauer- und Bestattungskultur“ fördere und damit einem 106 neuen Bewusstsein der Artikulation von Trauer zur Etablierung verholfen habe.

Ausgehend vom modernen Umgang mit Tod und Trauer stellt sie weiter fest,

„dass Trauerpraktiken mit ihren einhergehenden Normen einen ambivalenten Charakter haben, da sie zwar einerseits den Ausdruck von Trauer fördern, sie in bestimmte Bahnen lenken und eine stützende Struktur bieten, andererseits jedoch einschränkend und maßregelnd auf Einzelne wirken können.“ 107

Auch Corinna Caduff beschreibt in ihrem Aufsatz Bestattungsritual im Übergang, wie sich aus der Auflösung der traditionellen kirchlichen Maßregelungen des Umgangs mit Abschied, Tod und Trauer im Zuge der Modernisierung und den daraus hervorgehenden individuelleren Zugängen der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und Wiederaneignung vor allem bei Hinterbliebenen ergab.

Cox, Heinrich L.: Gestalt und Wandel der Nachbarschaftshilfe bei Sterben und Tod.

104

Beobachtungen im Rheinland im Ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. In: Herzog, Markwart/

Fischer, Norbert: Totenfürsorge – Berufsgruppen zwischen Tabu und Faszination, Stuttgart 2003, S. 37-54, hier S. 38. Allerdings stellt Cox in seiner Studie ebenfalls fest, dass der Einfluss des religiösen Wandels geringer als allgemein angenommen ist.

Meitzler 2013, S. 220.

105

Schäfer 2011, S. 195.

106

Ebd., S. 193.

107

War die christlich geprägte Bestattung bis dahin immer auch mit einer institutionellen Beauftragung verbunden, weil die Versorgung der Leiche klassischerweise an „Bestattungsunternehmen und Kirche delegiert“ war, so 108 stand die mit dieser Delegierung einhergehende Einwilligung in religiöse Richtlinien zunehmend der „starken Individualisierung der Lebenspraxis“ 109 moderner westlicher Gesellschaftsentwürfe entgegen. Dieser „Ent-Individualisierung im Rahmen der christlichen Heilslehre“ – kulminierend in der

„Maxime: Vor Gott sind alle gleich“ – hätten sich zunehmend „rituelle 110 Bestattungselemente“ widersetzt, „die die Individualität des Toten“ hervorhoben und diese zunehmend mit „neuen [...] rituellen Mitteln“ inszenierten. 111

Thomas Klie erkennt drei unterschiedliche übergeordnete Handlungslogiken innerhalb dieser neuen Inszenierungen, die trotz aller

„Trennschärfe [...] ausdrücklich auch Motivkombinationen“ zuließen – und kennzeichnet diese Entwicklung als „Moment des Additiven“, das „den neuen Formenreichtum der Bestattungskultur zu einem typisch spätmodernen Phänomen“ mache, um sich von als Maßregelung und Einschränkung 112 empfundenen traditionellen Trauerritualen emanzipieren zu können. Demnach haben sich nach Klie „[p]arallel zum klassischen Programm der kirchlichen Erdbestattung [...] ein naturreligiös-ökologischer Code, ein ästhetisch-performativer Code und ein anonymisierend-altruistischer Code“ 113 herausgebildet, die Folge des neuen Selbstbewusstseins von Hinterbliebenen seien – wobei mit Hartmut Kreß darauf hingewiesen werden kann, dass neben

„weltanschauliche[n] oder religiöse[n] Faktoren“ immer auch ökonomische 114 Motiven bei der Wahl der Bestattungsform eine Rolle spielen. Ich möchte im folgenden die drei von Klie eingeführten Codes der gegenwärtigen Trauerkultur

Caduff, Corinna: Bestattungsritual im Übergang. Zu Mischformen von delegierter und

nicht-108

delegierter Bestattung. In: Stapferhaus Lenzburg (Hg.): Last Minute. Ein Buch zu Sterben und Tod, Baden 2000, S. 158-161, hier S. 158.

Ebd.

Kreß, Hartmut: Bestattungskultur im Kontext des religiösen und weltanschaulichen

114

Pluralismus. In: Groschopp 2010, S. 36-51, hier S. 37.

kurz darstellen, weil diese genau jenen Rahmen darstellen, in dem sich Trauerredner bewegen.

Der naturreligiös-ökologische Code trete nach Klies Ansicht am deutlichsten „bei der Bestattung einer kompostierbaren Urne in einem der vielen Friedwälder oder Ruheforste (‚Baumbestattung’)“ hervor, von denen der erste 115 2001 gegründet wurde. Deren Gelände firmieren „aufgrund des 116 Friedhofszwanges“ juristisch zwar als Friedhof, doch eigentlich sollen solche Anleihen „ausdrücklich vermieden werden“ , da die damit zusammenhängenden 117 Bestattungsformen „als mögliche Alternative zur Beisetzung auf dem Friedhof zunehmend als selbstverständlich betrachtet“ werden. Hierbei nützten vor allem 118

„[n]aturverbundene Menschen [...] die Option, ihre sterblichen Überreste nach der Einäscherung im Wurzelbereich eines Baumes in die Erde einbringen zu lassen.“ Für Klie stellt sich die zunehmende Attraktivität dieser 119 Bestattungsform als Ergebnis der schon angesprochenen Individualisierung dar:

„Die Grabpflege und damit der zeit- und kostenintensive Besuch der letzten Ruhestätte kann entfallen. Die Ortsbindung über mehrere Generationen hinweg, die ehedem ein traditionelles Erdgrab mit Stein, Inschrift und Bepflanzung plausibilisierte, ist vor allem in den städtischen Ballungszentren kaum mehr gegeben. Mobilität entbindet – letztlich auch die Sepulkralkultur.“ 120

Auch Meitzler rückt „die Differenzierung von Natur und Kultur in den Mittelpunkt“ dieses Codes: „Die Naturbestattung kann nämlich als eine 121 Kulturleistung angesehen werden, die in der Natur aufgehen will“, mit dem Baum als Grabstätte sei demnach „eine romantische Ideologie der Einbettung im Naturkreislauf verbunden – inklusive zivilisationsabgewandter

‚Dauerhaftigkeitssymbolik’.“ 122

Der ästhetisch-performative Code setze laut Klie „vor allem auf die Inszenierungsqualitäten, die die letzte Lokalisierung bzw. Dislokation der Leiche zu entbinden vermag.“ Der Tod werde „hierbei nicht als das natürliche Ende der 123 menschlichen Sinnproduktion angesehen, das Ableben wird vielmehr zum ultimativen Anlass, Gelebtes sinnvoll zur Darstellung zu bringen.“ Entgegen 124 der alltagstheoretisch immer wieder vertretenen These „von der Verdrängung und Tabuisierung des Todes in der Moderne“ äußere sich „mit diesem Motivbündel eine ganz neue Wertschätzung des nachtodlichen Körpers.“ Abzulesen ist dieser 125 Trend auch an der Einbindung moderner Musik. Wurde etwa Trauerrednern in der ehemaligen DDR noch nahe gelegt, bei Trauerfeiern „Pop- und Rockmusik [...]

nur sorgsam“ einzusetzen, zeichnet sich nunmehr tatsächlich ab, dass immer 126 häufiger auch fröhliche Popsongs auf Beisetzungen gespielt werden können.

Das dritte gesellschaftlich-relevante Motiv lasse sich – so Klie – „als anonymisierend-altruistischer Code bezeichnen.“ Auch hierbei bilde „die 127 Kremierung der Leiche die materiale Grundlage der verschiedenen Bestattungsformen, wie etwa die Beisetzung in einem Kolumbarium, auf einem anonymen Gräberfeld, die Seebestattung oder die Körperspende der Anatomie.“ 128 Bei einer sogenannten anonymen Bestattung wird

„üblicherweise die Urne des Toten in einem mit Rasen bepflanzten Gemeinschaftsfeld vergraben. Namen und Lebensdaten der Verstorbenen bleiben ungenannt; nur die Friedhofsverwaltung weiß von dem konkreten Beisetzungsort. Ein Erinnerungssymbol oder Mahnmal weist darauf hin, dass es sich bei der vermeintlich ungenutzten Fläche tatsächlich um ein anonymes Grabfeld handelt.“ 129

Nevermann, Thoralf: Musikalische Gestaltung nichtkonfessioneller Trauerfeiern. In: Institut für

126

Meitzler 2013, S. 254f. Zur grundsätzlichen Idee und Entwicklung der anonymen Bestattung

129

vgl. auch Helmers, Traute: Anonym unter grünem Rasen. Eine kulturwissenschaftliche Studie zu neuen Formen von Begräbnis- und Erinnerungspraxis auf Friedhöfen, Oldenburg 2004.

Die Beisetzung der Urne findet zumeist „erst einige Wochen nach der Abschiedsfeier und Kremation statt und ist meist weniger als die Erdbestattung ein ritueller Akt. Selten sind kirchliche oder freie Trauerredner dabei.“ 130

Die Befürworter der anonymen Bestattung argumentieren dabei zumeist mit einem bisweilen erschreckenden Pragmatismus: Die anonyme Bestattung sei günstiger, weil dafür kein Grabstein benötigt wird und eigentlich auch keine Zeremonie vorgesehen ist. Andererseits werden aber auch altruistische Gründe genannt: Man wolle „den Hinterbliebenen nicht mehr zur Last fallen,“ niemand

„solle einen Totenort aufsuchen oder für ihn in irgendeiner Weise aufkommen müssen.“ Im Zeitalter der Flexibilität studieren die Kinder vielleicht im 131 Ausland oder haben zumindest die Stadt verlassen, da sei so ein anonymes Grab erst einmal für niemanden eine Belastung. Längst sehen nicht nur Kulturkritiker und Theologen in dieser Form der Bestattung nicht zu Unrecht eine Verlängerung der kapitalistischen Anonymisierung und Überflüssigkeit der zu Humanmaterial degradierten Menschen, was durchaus nicht nur viel über den herrschenden Zeitgeist auszusagen scheint, sondern auch negative Folgen für die Hinterbliebenen haben kann: 132

„Auf vielen Friedhöfen dürfen Freunde und Verwandte der anonymen Beisetzung nicht einmal beiwohnen. Es soll vermieden werden, dass sie später [...] Blumen, Kerzen und andere Grüße auf dem Rasen des Urnengemeinschaftsfeldes ablegen. So verschwinden verstorbene Familienmitglieder oft ohne Abschiedszeremonie und ohne dass ein

Schäfer 2011, S. 140. Gleichwohl muss gesagt werden, dass es sich hierbei nicht wirklich um

130

eine neue Bestattungsform handelt, war diese doch durchaus schon früher übliche Praxis, vgl. etwa Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel (Hg.): Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Volkskundlich-kulturgeschichtlicher Teil: Von Abdankung bis Zweitbestattung, Braunschweig 2002, S. 15.

Klie 2008, S. 10.

131

Gerade am Beispiel des „anonymisierend-altruistischen Codes“ lässt sich sehr gut

132

nachvollziehen, dass sich die Befürworter der anonymen Bestattung mit den zumeist säkularen Erneuerern der Trauerkultur und Befürwortern der Individualisierung, die sozusagen als kreative Avantgarde auch den Weg zu selbiger ebneten, bei allen Unterschieden vor allem in ihrem bisweilen rigiden Fortschrittsoptimismus recht einig sind. Sehen erstere die anonyme Bestattung als höchst zeitgemäße und pragmatische Möglichkeit der Bestattung, können letztere oftmals nichts Negatives an dieser Bestattungsform finden, so lange dieser nur eine individuelle Entscheidung voransteht.

Ort zum Trauern bleibt, wo Kinder, Enkel, Bekannte sich erinnern könnten.“ 133

Die in diesem Abschnitt dargestellten „mittlerweile zum Teil gut etablierten Formen der Bestattung zeugen davon, dass ein Wandel der Bestattungskultur bereits eingetreten ist“ – vor einem oder zwei Jahrzehnten „wäre eine solche Aufzählung der Möglichkeiten noch schier undenkbar erschienen.“ Hierbei 134 zeigt sich, dass der Wandel in der Bestattungs- und Trauerkultur mit zwei parallel verlaufenden und demnach auch zusammenhängenden Tendenzen einhergeht, nämlich einer Anonymisierung auf der einen und einer Individualisierung auf der anderen Seite. Die „neu entstehenden Muster des Umgangs mit Abschied, Tod 135 und Trauer“ werden als „individualistischer und kreativer als die bisherige

Die in diesem Abschnitt dargestellten „mittlerweile zum Teil gut etablierten Formen der Bestattung zeugen davon, dass ein Wandel der Bestattungskultur bereits eingetreten ist“ – vor einem oder zwei Jahrzehnten „wäre eine solche Aufzählung der Möglichkeiten noch schier undenkbar erschienen.“ Hierbei 134 zeigt sich, dass der Wandel in der Bestattungs- und Trauerkultur mit zwei parallel verlaufenden und demnach auch zusammenhängenden Tendenzen einhergeht, nämlich einer Anonymisierung auf der einen und einer Individualisierung auf der anderen Seite. Die „neu entstehenden Muster des Umgangs mit Abschied, Tod 135 und Trauer“ werden als „individualistischer und kreativer als die bisherige