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In welcher Zeit leben wir?

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 189-193)

Zum Tag der deutschen Vereinigung (1990)

Die Ära von 1917 ist zu Ende. Das mag schleunigst gewendete Ex-Sozialisten kaum anfechten. Die gutwilligen Moralisten hingegen, die die Menschheit wahrhaftig von Ausbeutung, Gewalt, Krieg befreien wollten und nun in Deutschland als Volksfeinde, Freiheitsmörder, Friedensbehinderer verteufelt werden, stehen betroffen oder gar verzweifelt auf den Trümmern des »real exi-stierenden Sozialismus«. Mit ihnen teile ich die Not des Scheiterns, die Selbst-befragung nach historischem Irrtum und politischem Schuldanteil.

Wer aber genug der unruhigen Tage und schlaflosen Nächte durchlebt, sich nicht ins eigene Gehäuse verkrochen hat, mag sich auch zu gesunder Selbst-ironie erheben. Dabei kann der Sinnspruch eines Mannes helfen, dem es im Al-ter an einer ebenso spöttischen wie melancholischen Weisheit selten gebrach:

»Die Leute, die sich rühmten, eine Revolution gemacht zu haben, haben noch immer am Tag darauf gesehen, daß sie nicht wußten, was sie taten, daß die ge-machte Revolution jener, die sie machen wollten, durchaus nicht ähnlich sah.

Hegel nennt das die Ironie der Geschichte, eine Ironie, der wenige historische Persönlichkeiten entgehen.« So schrieb Friedrich Engels am 23. April 1885 an die Russin Wera Sassulitsch. Und er fügte augenblicklich hinzu: »Vielleicht wird es uns allen so gehen.«

In der Tat: Die Ironie der Geschichte hat uns, die wir »Revolution machen«

wollten, gleich zweimal getroffen. Das erste Mal als Verfechter der Umwäl-zungen nach 1945.

Es war die Sowjetarmee, die in der von ihr besetzten Zone Deutschlands die Macht des Hitlerfaschismus, somit auch die des Großkapitals und der Groß-grundbesitzer zerschlug. Mit Hilfe ihrer Bajonette, Stalinorgeln und Politkom-missare begann objektiv eine Revolution, die subjektiv von einem Teil der Deutschen gewollt und vollzogen wurde. »Nie wieder Krieg!« und »Ein neu-es Deutschland!« Waren wir damals nicht selbst mit dineu-esen Losungen angetre-ten? Hatten wir nicht eine Lebensordnung werktätiger Menschen erstrebt?

Frei von Ausbeutung und Unterdrückung? Erfüllt von der Demokratie des ar-beitenden Volkes, der Freiheit und Gleichheit sozialistischer Staatsbürger, der Solidarität mit den internationalen Kräften des Fortschritts, der Freundschaft mit allen anderen Völkern? – Von Westen her angefochten waren wir seit Churchills Brandrede in Fulton (1946) und den US-amerikanischen Atom-kriegsplänen (1949) gewiß immer. Daß aber die freiheitlichen Blütenträume auch in der Wirklichkeit des Sozialismus tödlich gefährdet waren, erfuhren wir spätestens 1956: durch Chruschtschows Geheimbericht über den Stalin-schen Personenkult auf dem XX. Parteitag der KPdSU. Das Unheil, das da von innen her drohte, offenbarte sich uns sogleich aufs neue. Durch Ulbrichts

ge-waltsame Verweigerung einer absolut notwendigen Frage und Diskussion: An welchen Grundmängeln mußte das sowjetrussische Sozialismus-Modell, überhaupt das ganze politische System kranken, das den Stalinismus mit sei-nen ungeheuerlichen und usei-nentschuldbaren Staatsverbrechen möglich ge-macht hatte?

Die Fragesteller, darunter gestandene Altkommunisten und viele der jun-gen Intellijun-genz, hatten die Logik, aber nicht die Macht auf ihrer Seite. An der Parteibasis hagelte es Parteistrafen, und wie Walter Janka, so wurden noch weitere hinter Gitter gesperrt, andere ins westliche Ausland vertrieben. Das einstweilige Resultat? Man hatte der Partei und dem Staatsvolk die »Instru-mente« gezeigt – und die Genossen der innerparteilichen Opposition, die po-tentiellen Anhänger des »Prager Frühlings«, der »Perestroika« und »Glas-nost«, sofern sie nicht resignierten oder gar zerbrachen, überlebten ähnlich Brechts »Galilei«: Wir hielten an der Idee fest. Wir suchten uns für eine besse-re Gelegenheit aufzuspabesse-ren. Wir bewahrten die Glut unter der Asche. Doch versteckt und vereinzelt in Freundeskreisen, gefesselt von den Kontrollen der Staatssicherheit und den eigenen Skrupeln einer objektiv falschen Disziplin, verpaßten wir den entscheidenden historischen Auftritt. Nicht wir waren die Kraft, die 1989 das Volk mobilisierte.

Die »Wende« im Herbst des Hoffnungsjahres, da wir uns mit vielen als Ver-fechter einer deutschen »Oktoberrevolution« auffaßten, war das zweite Mal, daß wir von der Ironie der Geschichte betroffen wurden.

Die Stimmführer und die programmatischen Texte von »Demokratie Jetzt«,

»Initiative für Frieden und Menschenrechte«, »Vereinigten Linken«, »Unab-hängiger Frauenbewegung«, des linken Flügels des »Neuen Forums« und der Sozialdemokraten, zumal auch der Opposition in der SED – sie alle wünsch-ten die Bewältigung eines freilich sehr schmalen Gratweges. Er sollte zur Er-richtung eines Rechtsstaats der Werktätigen führen. Dann erst, so besagten die Projektionen, erstünde aus der gesamtgesellschaftlichen Krise die wirkliche Revolution. Eine Umwälzung des Sozialismus: hinweg von seiner Diktatur-form, die durch die Herrschaft einer stalinistisch strukturierten Partei- und Staatsbürokratie geprägt wurde. Hin zur Demokratie der werktätigen Massen, worin – gerade jetzt wurde Marx rezipiert! – »die freie Entwicklung eines je-den die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«.

Die Ereignisse drängten auf einen anderen Weg. Nach dem Sturz Honeckers betrieb sein übel belasteter Schüler und Nachfolger Egon Krenz eine Strategie bürokratischer Schadensbegrenzung und Systemerhaltung. Je-doch unter dem Feuer der ständigen Kritik alsbald in Panik geratend, benutz-te er das Vakuum der Staatsmacht, das durch den Rücktritt des Minisbenutz-terrats am 7. und die Umbildung des SED-Politbüros am 8. November entstanden war, für eine jähe Entscheidung. Ebendiese besiegelte das Schicksal der Revo-lution: Unter Mißachtung der Volkskammer und aller Möglichkeiten,

geeig-nete außenpolitische Absprachen für eine einstweilige Souveränität, eine ver-nunftmäßige Verhandlungs- und Kooperationsfähigkeit des Landes zu führen, ließ Krenz in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 die Grenzen bedin-gungslos öffnen. Seitdem nämlich hat sich die Umwälzung der DDR unter der Regie politischer und wirtschaftlicher Exponenten der Bundesrepublik Deutschland vollzogen – abzielend auf die Wiederherstellung der Kapital-wirtschaft und auf ihre wichtigste Bedingung: die schnellstmögliche »Wieder-vereinigung« der Deutschen.

Anstelle der »Oktoberrevolution« ist der schillernde Begriff der »Novem-berrevolution« sprichwörtlich geworden. Er betont die Ereignisse, die die Ent-wicklungsalternative im Herbst 1989 entschieden haben, und entspricht der Tatsache, daß – wie im November 1918 – die erhoffte volksdemokratische Er-neuerung gescheitert ist. Jetzt geschieht, was Leo Trotzki vor einem reichlich halben Jahrhundert voraussagte: Wenn die politische Revolution des arbeiten-den Volkes gegen die sogenannte sozialistische Staatsbürokratie nicht siegt, er-folgt die kapitalistische Restauration – sogar mit Hilfe bisheriger Parteiführer, Staatsbürokraten und Wirtschaftsadministratoren. Und siehe: Peter Schle-mihls lebenstüchtige Epigonen tauschen ihren (allerdings »rot« gewesenen) Schatten gegen Fortunas Glückssäckel ein, wobei sie vielleicht einigen Wohl-stand, aber schwerlich ihr Seelenheil finden werden.

Was bleibt uns anderen zu tun, die wir die Identität wahren, indem wir von der gefesselten Opposition im totalitären Staats-Sozialismus zur legalen Op-position in der bürgerlichen Demokratie gelangen?

Eine vordringliche Aufgabe liegt im Bereich des welthistorischen Denkens:

die kritisch-selbstkritische Befreiung von falschen Sozialismus-Bildern und ei-ner irrtümlichen Epochenauffassung. Wo der »Arbeiter-und-Bauern-Staat« die Machtkonzentration einer Partei- und Staatsbürokratie, wo das »Volkseigen-tum« weithin nur Staatseigentum, also in der Verfügungsgewalt eben dieser Kaste war, blieb Ausbeutung des Menschen durch den Menschen noch immer möglich. Wo man die heutige Weltepoche als einen »gesetzmäßigen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus« beschwor, wurde nur der »real existie-rende Sozialismus« als Sinn der Epoche suggeriert. Selbst die aufkommende Einsicht, daß die Koexistenz der widerstreitenden Gesellschaftssysteme unter Bedingungen des Nuklearzeitalters langfristig sein würde, gründete sich auf die teleologische Selbstgewißheit administrierender »Sieger der Geschichte«.

Doch in welcher Welt und Zeit leben wir wirklich? Diese Frage der Fragen erfordert andere Antworten: Wir erfahren heute die weltpolitische Niederlage des von der Sowjetunion ausgegangenen Systems. Die Ära von 1917, die mit dem Ersten Weltkrieg der kapitalistischen Staaten und der darauf reagierenden russischen Oktoberrevolution begann, endet am Ende dieses 20. Jahrhunderts mit der Einstellung des Kalten Krieges und der Errichtung eines europäischen, sogar weltweiten Hegemonialsystems des nationalen sowie transnationalen

Großkapitals. Was wir dabei noch nicht erfahren haben, aber immerhin wis-sen, ist durch das Menetekel bezeichnet, wonach der Exitus der Menschheit an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert eine Möglichkeit ist. Der Kalte Krieg der rivalisierenden Gesellschaftssysteme hat das Vernichtungspotential der Zivilisation auf die Spitze getrieben.

Diese Gefahr resultiert nicht allein aus der Möglichkeit des Nuklarkrieges.

Und auch der gesellschaftliche Gegensatz, der ja in der Welt trotz Niederlage des Sozialismus noch besteht, prägt nicht mehr den Hauptwiderspruch unse-rer Tage. Das Wesen der Weltepoche ist nunmehr bestimmt von dem umfas-senden Widerspruch, der zwischen den globalen Entwicklungstendenzen und dafür notwendigen menschheitlichen Überlebensszenarien einerseits sowie den nationalstaatlichen und systempolitischen Machtegoismen, Rivalitäten, Traditionsverkrustungen andererseits besteht. Was in der bisherigen Welt-geschichte niemals dauerhaft obsiegen konnte: Gerade jetzt sind rationale Erkenntnis und sensible Handlungsweisen, ist eine auf Vernunft gegründete Lebensordnung, Regierungskunst, Weltstaatengemeinschaft gefragt: Statt des Nukleartodes – eine Friedenspolitik mit ausreichenden Institutionen und In-strumentarien zur gewaltfreien Regelung von internationalen Konflikten. Statt der technischen und sozialen Gefahren einer Globalrevolution der Produktiv-kräfte, die die Massenvernichtung auch mitten im Frieden ermöglicht – eine Steuerung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts mit Hilfe von Sicher-heitstechnik, Sozialprogrammen und Humankonzeptionen für moderne In-dustriegesellschaften. Statt des selbstmörderischen Raubbaues in Natur und menschlicher Lebenswelt – eine Ökologiepolitik, die auf radikale Vorbeugung und Selbstbeschränkung, abwehrende Rechtsmittel und Kontrolle nicht ver-zichtet. Statt der verheerenden Unterentwicklung, der »sozialen Zeitbombe«

in der Dritten Welt – eine Völkersolidarität und erdumgreifende Entwick-lungsstrategie aller leistungsfähigen Industrieländer. Das mag uns als eine neue Utopie anstelle verlorener Utopien oder gar Illusionen erscheinen. Aber einer Verweigerung (auch das ist »Ironie der Geschichte«) folgt nichts Gerin-geres als der beschleunigte Untergang der Menschheit.

Die Gehirnkammern von veralteten Bewußtseinsinhalten freizuräumen und mit realistischer Weltkenntnis zu füllen, scheint mir die Vorleistung für jedwedes Verhalten demokratischer Sozialisten zu sein. Nur dann vermögen wir die Politik gegenwärtiger Regierungen als ernstliche Opposition und Al-ternative zu begleiten. Die bürgerlich-kapitalistische Einheit Deutschlands ist zur Zeit gewiß. Doch auch unser Land und die Welt, unser Volk und die Völ-ker sind unteilbar. Neue Bedingungen und neue Bewährungsproben, im Le-bensinteresse der arbeitenden Menschheit zu wirken, haben begonnen.

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 189-193)