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Politik des Notstands

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 164-169)

Die Regierung Modrow. Zwei Schweizer Interviews (1990)

Interview I

Basler Zeitung/Basel (2. Februar): Was halten Sie von Modrows »Konzeption«

zur deutschen Einheit?

Bock: Ich persönlich sehe in der Erklärung von Hans Modrow ein richtiges und vernünftiges Reagieren auf die Erwartung breiter Volksmassen in der DDR. Die Bewegungen seit Oktober/November haben gezeigt, daß die Ten-denz zu einer nationalstaatlichen Vereinigung nach wie vor stark ist – obwohl nicht unproblematisch vor dem Hintergrund der großen Menschheitsfragen und der notwendigen globalen Lösungen. Es gibt zwei Grundpositionen – und eine linksdemokratische Position hat Modrow formuliert. Doch es exi-stiert auch eine starke konservative Position, die nur vom Vergleich mit der BRD ausgeht und versucht, Negativbestände der DDR, besonders im Wirt-schaftssektor, durch eine rasche Wiederangliederung zu verringern. Das ist eine überzogene Erwartung, weil es so schnell nicht geht. Dieses konservative Spektrum reicht nach rechts bis zu den Republikanern.

Basler Zeitung: Entspricht Modrows Position auch Ihren persönlichen Erwar-tungen?

Bock:Aufgrund einer rationalen Analyse und als Historiker bin auch ich An-hänger einer schrittweisen Vereinigung, zumal ich mir unter bestimmten Be-dingungen einen Vorteil für Europa davon verspreche. Wenn aus der Sperrli-nie zwischen DDR und BRD, dieser TrennliSperrli-nie zwischen zwei feindlichen Sy-stemen in Europa, zunächst eine Nahtlinie würde, dann deutet das schon qua-litative Veränderung an. Vor allem, wenn beide deutsche Staaten in diesem Prozeß des Zusammenwachsens einen neutralen Status einnehmen. Und das ist die wichtige Bedingung, die Modrow stellt.

Basler Zeitung: Aber die Bedingung wird auf BRD-Seite abgelehnt.

Bock:Die Parteien in der BRD kommen jetzt in Zugzwang. Sie müssen sich die Frage stellen, wie sie sich zur NATO verhalten wollen, wenn die DDR bei-spielsweise aus dem Warschauer Pakt aussteigt. Es ist wichtig, daß nun mit der Abschaffung der Militärstrukturen in Mitteleuropa begonnen wird.

Basler Zeitung: Sehen Sie die deutsch-deutsche Vereinigung im Rahmen einer europäischen Vereinigung?

Bock: Ja. Darum folgt Modrow der objektiv und subjektiv angelegten Ten-denz, Nationales wieder zusammenzuführen. Aber mit der klar formulierten Bedingung, daß dies nicht gegen die Interessen der übrigen Staaten und Völ-ker Europas geschieht. Vielmehr im Einklang mit ihnen, so daß der deutsche Weg über Konföderation und Föderation eingebunden sein wird in einen

Staa-tenverbund, den Gorbatschow in seiner Metapher »das gemeinsame Haus Eu-ropa« nennt.

Basler Zeitung: Wie erklären Sie sich, daß Modrow seine »linksdemokrati-sche« Position unter das nationalistisch belastete Motto »Deutschland, einig Vaterland« stellt? Ist es eine Konzession an die Straße oder an den Wahl-kampf?

Bock:Wahlkampf ist es nicht. Es ist vielmehr Ausdruck der inneren Szenerie der DDR. Denn was Modrow macht, erfolgt in einer Situation des nationalen Notstands. Er versucht, das Zerfließen von Staat, Ordnung und Sicherheit mit möglichst breiten Bündnisangeboten und entsprechenden Konzeptionen auf-zuhalten. Darum hat Modrow auch alle Parteien vom Runden Tisch in seine Regierung aufgenommen. Er betreibt eine Politik des Notstands, die über Par-teiinteressen hinausgeht. Modrows Lösung von der eigenen Partei zeigt sich auch daran, daß er mit seinem Vorschlag der Föderation, also der Preisgabe der DDR-Staatlichkeit, die Vorstellungen der SED/PDS präzisiert.

Basler Zeitung: Stichwort »Notstand«. Sehen Sie als Betroffener die Gefahr, daß die DDR in diesem Vereinigungsprozeß letztlich zur Selbstaufgabe ge-zwungen wird?

Bock:Ich sehe diese Gefahr zunehmend. Ursprünglich verfaßten ja alle oppo-sitionellen Parteien und Bürgervereinigungen solche Programme, die auf eine Reform der DDR in Richtung eines demokratischen Sozialismus abzielten.

Diese Entwicklung ist immer mehr nach rechts gegangen – vor allem unter dem Druck der Straße. Der ist insbesondere im Süden der DDR groß, wo die Industrie veraltet ist, wo sich aus dem Arbeitsalltag und dem Mangel an Pro-duktivität die Frage stellt: Wie kommt man aus diesem Kladderadatsch her-aus? Und da kommt die Erwartung auf, Kapital aus der BDR werde helfen.

Damit es möglichst viel und schnell helfen möge, verbindet sich diese ökono-misch-soziale Fragestellung mit der nationalen, also dem Ruf nach sofortiger Wiedervereinigung. – Die zweite Triebkraft in Richtung einer Rekapitalisie-rung ist die ständige Präsenz von Vertretern der BRD in der DDR. – Hinzu kommt eine dritte Triebkraft im Innern: die Herausbildung nationalkonserva-tiver Parteien.

Basler Zeitung: Besteht dennoch eine Chance, daß die DDR Eigenes, Eigen-ständiges in den Vereinigungsprozeß einbringen kann?

Bock:Das ist die entscheidende Frage: Wie viel an Demokratie, Humanität, so-zialer Gerechtigkeit, Friedensliebe und Antifaschismus bringen wir ein, um auf diese Weise auch für die anderen Völker und Staaten verkraftbar zu wer-den – als ein vergrößerter Staatskörper im Herzen Europas?

Interview II

Vorwärts/Bern (6. Februar): Die SED/PDS heißt jetzt PDS, Partei des Demo-kratischen Sozialismus. Was bedeutet dies?

Bock:Die Erneuerung der Partei bedingt klare programmatische Zielsetzung für einen demokratischen Sozialismus. Der Doppelname drückte zwei Dinge aus: die Aufgabe, zu erneuern und den Versuch, die Einheit zu bewahren. Der Hauptgrund, die Partei nicht aufzulösen, war die Sorge um den negativen Einfluß, den eine Auflösung auf die »Perestroika« in der Sowjetunion haben könnte. Die Erneuerung verlief angesichts der schnellen Umwälzungsprozes-se aber zu langsam. Die Abstoßung des alten Namens SED ist die Abstoßung der alten Kader und Strukturen; sie möge der Partei zur Glaubwürdigkeit ver-helfen, daß sie die volle Absicht hat, eine qualitativ andere Arbeiterpartei werden zu wollen.

Vorwärts: Wie ist das Kräfteverhältnis der Parteien in der DDR?

Bock:Parteien und Bewegungen sind vereint im Strom der Negation gegen die PDS. Das drückt sich am deutlichsten in den Erklärungen aus, daß keine Partei oder Bürgerbewegung – weder vor noch nach den bevorstehenden Wahlen – eine Koalition mit der PDS eingehen wolle. Allerdings hat zur Ent-machtung der PDS geführt, daß die Partei auf alle ihre verfassungsmäßi-gen und auch materiellen Privilegien verzichtete, sie auch ihren Apparat um 60 Prozent abbaute. Eine Partei der Macht ist die unsrige also nicht mehr.

Bei dieser Gegebenheit vollzieht sich in der Szenerie des Umbruchs etwas Bedeutsames. Die Front der Negation splittert auf. Eine deutliche Rechtsent-wicklung wird von der CDU getragen, die von der Reprivatisierung der In-dustrie und der Restauration des Kapitalismus sowie von einer schnellen Wie-dervereinigung mit der BRD spricht. Unter den Neugründungen steht ihr der

»Demokratische Aufbruch« nahe. Je mehr sich diese Konservativen mit den Absichten kapitalistischer Restauration profilieren, bildet sich auch ein »lin-kes« Spektrum der Demokratie heraus. Es greift auf den vergangenen Herbst zurück, als die Bewegungen größtenteils auf eine Verbesserung der Verhält-nisse in der DDR abzielten und damit auch die Souveränität der DDR vertra-ten. Charakteristisch dafür sind eine Altpartei, die Demokratische Bauernpar-tei, und eine Reihe neuer Bewegungen. Es ist eine Hoffnung für mich, daß die Landbevölkerung – so erklärt jedenfalls der Kongreß der Bauernpartei – am sozialistischen Eigentum, den landwirtschaftlichen Genossenschaften, festhal-ten will. Hinzu kommen die mehr von Intellektuellen getragene Vereinigung

»Demokratie Jetzt« und eine marxistisch geprägte »Vereinigte Linke«, die marxistische, trotzkistische und christlich-sozialistische Strömungen zusam-menfaßt. Am deutlichsten und erfolgreichsten profiliert sich wohl die Sozial-demokratische Partei. Zwei Umstände wirken gerade für sie: Die Tatsache, daß 45 Jahre antifaschistischen und sozialistischen Aufbaues nicht spurlos verlorengegangen sind und der Bonus, keine kapitalistische Partei, sondern

eine Partei der Arbeiterbewegung zu sein. Ich halte es für möglich, daß sich die SPD im linken Spektrum am stärksten erweisen und sich die Suche der Bevölkerung nach neuen Wegen zu ihren Gunsten ausdrücken wird. In der Lage, in der wir uns befinden, wäre dies die beste Lösung.

Vorwärts: Hat Modrows Plan zur deutschen Einheit eine Chance?

Bock:Prinzipiell ja, indem er auf eine deutsche Neu-Vereinigung abzielt. Ganz offensichtlich wirken objektive und subjektive Tendenzen auf die nationale Einheit hin. Modrows Plan will keine restaurative Wiedervereinigung, son-dern einen schrittweisen Annäherungsprozeß, bei dem die DDR Eigenes er-halten kann und die kapitalistische BRD möglicherweise veranlaßt wird, selbst Novationen zu vollziehen. Das Stufenprogramm braucht Zeit für eine rationale Politik. Ob der Plan voll realisierbar ist, kann ich nicht sagen. Politik in den kommenden Jahren wird aber nicht einfach von nationalistischen Stim-mungen auf der Straße bestimmt, sondern auch von rationalen Erwägungen auf der Regierungsebene beider deutscher Staaten – wie auch von den Sieger-mächten des Zweiten Weltkrieges. Hinzu kommen noch die artikulierten In-teressen der anderen europäischen Staaten. In diesem dynamischen Feld er-hoffe ich günstige Bedingungen für eine keineswegs überstürzte Neu-Vereini-gung: für das Dreistufenprogramm eines annähernden Vertragsverhältnisses, einer Konföderation auf der Grundlage der Zweistaatlichkeit und eines deut-schen Bundesstaats als das darauf folgende Ziel. Das Entscheidende ist, daß dieser Prozeß zur Neutralität beider deutscher Staaten führt, womit ich die Schaffung einer mitteleuropäischen Zone der völligen Abrüstung wünschte.

Ich glaube, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in der DDR die-ses Ziel der Neutralität und der Entmilitarisierung teilt. Trotz der Einbuße so-zialistischer Staatlichkeit wäre dies m. E. ein gutes Ziel, weil es einen Fort-schritt bedeutet für den Frieden und die Sicherheit der Völker. Wir benötigen dafür aber die Unterstützung der anderen Länder.

Vorwärts: Fördert die Dynamik der deutschen Einheit die Auflösung der Mi-litärblöcke?

Bock:Die Auflösung der Blöcke wird vom linken demokratischen Spektrum und vor allem von Seiten der PDS angestrebt, die dafür schon seit Wochen ein Programm der militärischen Abrüstung vorgelegt hat (Verringerung der Zeit des Wehrdienstes von 18 auf 12 Monate, Schaffung einer entmilitarisierten Zone von rund 100 Kilometern beiderseits der deutsch-deutschen Grenze, Ab-bau aller ABC-Waffen in beiden deutschen Staaten, Auflösung der Militär-block-Zugehörigkeit). Allerdings sind diese sicher fortschrittlichen und ratio-nal richtigen Vorschläge in ihrer Durchsetzbarkeit eingeschränkt durch das mangelnde Vertrauen in die PDS.

Vorwärts: Wenn eine Hoffnung besteht, den Ausverkauf der DDR zu verhin-dern, dann liegt sie im Sieg des linken Spektrums bei den Wahlen am 18. März.

Ihre Wahlprognose?

Bock:Wahlprognosen sind immer ein Wagnis. Ich schiebe daher in meine Pro-gnostik meine Erwartungen mit ein. Ich wünsche den Sieg dessen, was ich die linke, demokratische Front nennen möchte – gegenüber der Koalition der kon-servativen Kräfte. Ich hoffe, daß die widerspruchsvollen Bemühungen um So-zialismus und soziale Gerechtigkeit der letzten 45 Jahre nicht vergeblich wa-ren, daß ein demokratisches Bewußtsein in der Bevölkerung vorhanden ist.

Daß, wenn es um die Wahl geht zwischen der Erhaltung der sozialen Errun-genschaften und einer blindwütigen Angliederung der DDR an die BRD, so-zialdemokratische und andere demokratische Strömungen einen Bonus erhal-ten von der Mehrheit der werktätigen Bevölkerung. Es gibt ja keine eigentli-che Bourgeoisie. Was allerdings den Entwicklungsstand der Produktivkräfte, gemessen an der Leistungsfähigkeit der kapitalistischen Industrie, betrifft, so ist die Situation in der DDR in hohem Maße makaber. Die Modernisierung durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt ist mit Finanzen der DDR al-lein nicht machbar. Ausländisches Kapital ist für den Prozeß der Erneuerung nötig, wenn er in etwa zehn bis 15 Jahren vollzogen sein soll. Damit kann ein Einfluß des großen Kapitals auf die Schicksale der Werktätigen in der DDR nicht vermieden werden.

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