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Was ist des Deutschen Vaterland?

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Nachdenken links des Rheins. Für Historiker und Abgeordnete (1990)

Nachdenken über Deutschland? Ein Vorgang, dessen oft formulierter Titel der-zeitig ins Kraut schießt. Er mag sensible Geister, die gegen rhetorische Wieder-holungen allergisch sind, vielleicht bald nicht mehr ansprechen. Doch man nenne es, wie man will: Nachdenken über Deutschland – wer hätte das seit den Ereignissen im vergangenen Oktober, als in Dresden, Berlin, Leipzig von Un-zähligen eine späte, aber endliche Ernte beschworen wurde, nicht selbst getan?

Wer täte es nicht noch immer! Es ist ein allgemeiner Vorgang, der freilich vom einzelnen ausgeht. Zunächst denkt ein jeder allein, eingefangen in individuel-le Interessen und Wünsche, Erfahrungen und Einsichten, Erfolge und Niederlagen. Dann kommt die Wendung nach außen, angewiesen auf Zuhören und Mitdenken, Ermutigung und Widerspruch. Auch preisgegeben der Ableh-nung, schlimmer noch: der Möglichkeit erneuter Entmündigung.

Wer denkt hier also?

Ich bin in einer Landschaft aufgewachsen, die voll von Geschichten und Ge-schichte war: im Rheinland, im alten Köln. In naher Ferne die Berge und Burg-ruinen, der dämmrige Ort, wo Jung-Siegfried den bösen Drachen erschlug.

Zudem die greifbaren Spuren des Neandertalers, der Kelten, Germanen und Römer, der Völkerwanderung, der mittelalterlichen Kaiser und Könige, der rit-terlichen Schnapphähne und hanseatischen Pfeffersäcke. Auch das Singen und Klingen des romantischen Liederkranzes. Von Preußens Großhungern und Ge-horchen, Zuchtstrenge und Ordnung war unter den ragenden Domtürmen meist nur unbotmäßig die Rede: Tünnes und Schäl verprügelten den Staat im blauen Dienstrock des Gendarmen. Diese Heimat war deutsch und welthaltig.

Zumal der Rhein von den Schneegebirgen des Südens stetig zum nördlichen Meer strömte und die Menschen lebensfreudige Geschöpfe einer Umarmung waren, in der sich Deutsche, Holländer, Franzosen und andere mehr jahrhun-dertelang miteinander vermischt hatten. Alles in allem: ein gutes Stück Erde für Deutsche und Weltbürger.

Allerdings, an jenem nebligen 7. März 1936 stampften Wehrmachtskolonnen mit geschulterten Gewehren über die Hohenzollernbrücke. Der Wind, der seit-dem aus den preußischen Kernlanden, seit-dem Innersten des Reiches, herüber-wehte, war herrisch und kalt und keineswegs derselbe, der den Wein fruchtig machte. Doch selbst an den Lagerfeuern, bei Trommeln und Fanfaren der dis-ziplinierenden Hitlerjugend irrlichterte ein romantischer Traum von Weltfahrt und Abenteuer, freilich nicht ohne Nibelungentreue und Heldentum. Und dann brach diese Welt zusammen: in den Bombennächten, den Feuerstürmen des großen Krieges – und ich war mitten darin. In der Katastrophe begann die Stunde der Wahrheit, die Qual der Widersprüche, die Unrast der Fragen.

Der junge Mensch, der Metallarbeiter im Klöckner-Humboldt-Konzern, dann zwangsverpflichteter Frontarbeiter, dann Soldat und Prisoner of war ge-wesen war, trug nach Kriegsende ein Bild in sich. Auszudrücken in einer zwil-lingshaften Losung: »Nie wieder Krieg!« und »Ein neues Deutschland!« Heim-kehrend in die Zerstörungen seiner Kindheitsstätten, glaubte er zu sehen, daß eine Restauration vollzogen wurde, die mit englisch-amerikanischen Redens-arten alles Braune verdrängte, aber die herkömmliche Ordnung im Wesen nicht wandelte. Er hatte nicht Lust, wiederum dienstwillig ins alte Fabrikver-hältnis zu gehen und zog – den Trecks der Umsiedler und der Vertriebenen dia-metral entgegengesetzt – nach Osten. Nicht als Revolutionär. Vielmehr als ein Pazifist und Arbeiter, der nie wieder eine Uniform anziehen, aber streitbar für eine Welt einstehen wollte, in der Bisherige sein Deutschland nicht mehr »über alles« stellen sollten.

Aus dem suchenden Abgang vom Rhein nach Berlin, auch nach Leipzig, ist das Leben eines Historikers geworden, der wohl gern gesehen hätte, daß ein demokratischer Sozialismus mit der Kraft seiner Überzeugungsfähigkeit zum Erfolg käme. Statt dessen muß er drei Niederlagen eingestehen, die eine zu-tiefst menschliche Erneuerung von Staat und Gesellschaft im Osten Deutsch-lands vereitelten: 1956 – die Unterdrückung der Einsichten und Schuldbe-kenntnisse des XX. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion;

1968 – die kollektive Vernichtung des »Prager Frühlings«; 1985 und in den Jah-ren danach – die Verweigerung der immerhin sowjetrussischen »Perestroika«

und »Glasnost«.

Was ist bei alledem noch die Botschaft, die ein Nachdenken über Deutsch-land geben kann?

1.

Der Historiker, der die Weltgeschichte seit dem Anfang der Neuzeit über-schaut, erkennt in diesem halbtausendjährigen Werdegang der Menschheit zwei widerstreitende Entwicklungen. Die erste Geschehenslinie offenbart die objektive Tendenz und die subjektiven Triebkräfte einer Staatenpolitik, die mit den gewaltsamen Mitteln des Vormachtstrebens, der Kriegsvorbereitung und des Krieges letzten Endes zur Vernichtung der Zivilisation, zum Exitus der Menschheit führt. Die zweite, gegenläufige Entwicklung aber erweist das ob-jektive Bedürfnis und die subob-jektiven Interessenträger für eine alternative Staa-tenpolitik: Sie ist verkörpert in Friedensideen und Friedensbewegungen, Men-schenrechtsdeklarationen und Völkerrechtsgeboten, Staatenbeziehungen und universalen Föderationen, die auf friedliche Konfliktlösungen und letzten En-des auf eine dauerhafte Verwirklichung En-des Weltfriedens und En-des Fortschritts abzielen.

In diesem Spannungsfeld steht insbesondere heute eine jegliche Politik. Seit 1985 wagen die Reformer der Sowjetunion ihren welthistorischen Versuch, den

Teufelskreis der Hegemonialpolitik und der Militärgewalt zu durchbrechen – und sie suchen zugleich, die innenpolitischen Zustände den Fesseln des Stalin-schen Erbes zu entwinden. Die ehemalige Partei- und Staatsführung der DDR hingegen verweigerte die notwendige Erneuerung. Wohl praktizierte sie seit 1983, unter den Vernichtungswaffen der »Nach-Rüstung« und »Nach-Nach-Rüstung«, zudem der Last ihres wachsenden Schuldenberges, einen »Dialog«

in der Außenpolitik. Jedoch im Innern des Landes, wo sie mit der Erinnerung an die Galionsgestalten Preußens, an Friedrich »den Großen« und Bismarck, auch alte »preußische Tugenden« zu preisen begann, blieb sie in dem Irrtum befangen, daß neues Denken teilbar sei. Wer als ein »Andersdenkender«, aber durchaus nicht als Neo-Faschist, den Dialog für sich einforderte, erfuhr Poli-zeieinsatz, Gefängnis, Landesverweis. Die preußisch-militante Gewaltsamkeit dieses Vorgehens bezeugte der Welt und dem eigenen Staatsvolk keineswegs Dialog- und Friedensfähigkeit. Hier wurde eine Überzeugung mit Füßen ge-treten, für die linke Aufklärer, entschiedene Demokraten und ursprüngliche Marxisten gestritten hatten: Außen- und Innenpolitik sind unteilbar, und in der dialektischen Einheit gilt das Primat der Innenpolitik, die das Wesen einer Staatsordnung offen legt. Friedenspolitik nach außen verlangt friedliche Kon-fliktlösungen im Innern. Die Verletzung dieses Gebots mitsamt der Willkür ei-ner uneffektiven Kommandowirtschaft verursachten den Aufbruch der Volks-massen – die »Wende« im Herbst des Vorjahres, bei der sich viele als Triebkraft einer zweiten, aber deutschen »Oktoberrevolution« verstanden.

Was die Erwartungen ihrer Stimmführer betrifft, so hofften sie auf die Be-wältigung eines freilich sehr schmalen Gratweges, der zur Errichtung des Rechtsstaates der Werktätigen führen könnte. Dann erst, so besagte die Projek-tion, erstünde aus der gesamtgesellschaftlichen Krise die wirkliche Revolution.

Eine Umwälzung des Sozialismus: Weg von seiner Diktaturform, die durch die Herrschaft einer Arbeiteraristokratie, ihrer stalinistisch strukturierten Partei-und Staatsbürokratie geprägt wurde. Hin zur Demokratie der arbeitenden Massen, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Die Ereignisse drängten jedoch auf einen anderen Weg.

Nach dem Sturz Honeckers betrieb Nachfolger Egon Krenz eine Strategie der Schadensbegrenzung und Systemerhaltung. Jedoch unter dem Feuer der Kritik alsbald in Panik geratend, benutzte er das Vakuum der Staatsmacht, das durch den Rücktritt des Ministerrats am 7. und die Umbildung des SED-Politbüros am 8. November entstanden war, für eine Entscheidung, die das Schicksal der Revolution besiegelte: Unter Mißachtung der Volkskammer und aller Möglich-keiten, geeignete außenpolitische Absprachen für eine einstweilige Souverä-nität, eine vernunftgemäße Verhandlungs- und Kooperationsfähigkeit des Lan-des zu führen, ließ Krenz in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 die Grenzen bedingungslos öffnen. Seitdem vollzieht sich die Umwälzung der DDR unter der unmittelbaren Einflußnahme aller politischen und

wirtschaftli-chen Exponenten der Bundesrepublik Deutschland – abzielend auf die Wie-derherstellung des Kapitalismus und die schnellstmögliche »Wiedervereini-gung« der Deutschen.

Anstelle der »Oktoberrevolution« ist der schillernde Begriff der »Novem-berrevolution« stimmig geworden. Er betont die Ereignisse, die die Entwick-lungsalternative entschieden haben, und entspricht immerhin der Tatsache, daß – wie 1918 – die erhoffte »Arbeiterrevolution« gescheitert ist. Es geschieht, was Leo Trotzki vor einem halben Jahrhundert voraussagte: Wenn die politi-sche Revolution des Arbeitervolkes gegen die sogenannte sozialistipoliti-sche Staats-bürokratie nicht siegt, erfolgt die Restauration des Kapitalismus – und dies so-gar mit der Hilfe bisheriger Staatsbürokraten und Wirtschaftsadministratoren.

Stahlharte Patentpolitiker des fehlgeleiteten Systems entdecken urplötzlich ihr weiches Herz für den Liberalismus des großen Kapitals.

Was immer nun über Deutschland zu sagen ist, erfolgt im gegenwärtigen Prozeß der deutsch-nationalen Einigung. Diese aber schien zuvor nur ein ir-gendwie vages, irgendwann vielleicht einmal mögliches Ziel der Geschichte zu sein. Bei den »Reden über das eigene Land«, über Deutschland also, die in den Münchner Kammerspielen gegen Ende des Jahres 1988 traditionsgemäß gehal-ten wurden, sprach nur Martin Walser von einem dunklen Einheitserwargehal-ten, das wider alle rationalen Gewißheiten als ein »Geschichtsgefühl« in ihm fort-lebe. Alle anderen – Sontheimer, Jens, Bahr, Höpcke – verneinten die Möglich-keit einer »Heimholung der Ostdeutschen ins Reich der Bundesrepublik«. Sie bestritten sogar die Existenz genügender Voraussetzungen an politischer De-mokratie und westdeutscher Sensibilität für eine solche »Wiedervereinigung«.

2.

Der Historiker aber muß die Macht des Faktischen akzeptieren. Mehr noch: Er ist gehalten, selbst im Voluntarismus seiner Zeitgenossen die Grundströmun-gen der Geschichte, die unabweislichen Prozesse zu begreifen. So sei an die welthistorische Tatsache erinnert, daß in dem bereits genannten halben Jahr-tausend der Neuzeit eine weitere objektive Entwicklungstendenz wirksam ist und heute die Deutschen noch immer außer Atem versetzt: Eingebettet in das Werden und Wachsen der bürgerlichen Gesellschaft, arbeitet diese Tendenz auf die Herausbildung von Nationen und Nationalstaaten hin. Schon Martin Lu-thers Reformation gegen die römische Papstkirche, seine deutschsprachige Bi-belübersetzung und der deutsche Bauernkrieg waren ihre embryonalen Sym-ptome. Sie bewegte sodann offenkundig den erfolgreichen Kampf der Nieder-länder gegen die spanische Fremdherrschaft. Sie wirkte geradezu bahnbre-chend in den bürgerlichen Revolutionen der Engländer, der US-Amerikaner und der Franzosen.

Waren dies Aufbrüche zu bürgerlichen Nationalstaaten, so standen an ihrer Wiege sogleich Krieg und Frieden als schicksalhafte Alternative. Krieg war die

Waffe der Revolutionäre und Unabhängigkeitskämpfer, die gegen die Gewalt ihrer Unterdrücker die Gewalt der Unterdrückten kehrten. Frieden aber sprach aus unvergeßlichen Manifestationen, in denen weltbürgerliche Menschenrech-te und Eintracht der Völker verkündet wurden. Auch Preußen und Deutsch-land müssen sich gefallen lassen, daran gemessen zu werden. Hugo Grotius zum Beispiel, Parteigänger der niederländischen Revolution und Zeitgenosse des Dreißigjährigen Krieges, wollte mit seinem Hauptwerk »De jure belli ac pa-cis« (1625) in die zerrüttete Staatenpolitik Europas eine Berechenbarkeit und Vertragsgemäßheit einführen. Er setzte ein auf Ordnung und Sicherheit be-dachtes Bürgerrecht als Maßstab für Völkerrecht. Während er den Krieg aber nur mit Gesetzeszäunen umstellte, gedachte wenige Generationen später ein anderer mehr zu tun.

Der Frühaufklärer Abbé de Saint-Pierre wollte den Krieg abschaffen. Was er zu diesem Zweck gegen alle kontemporären Widerstände, alles Gelächter sei-nes Jahrhunderts, pedantisch und unverdrossen in die Welt setzte, war sein dreibändiges Lehrgebäude »Projet pour rendre de la paix perpétuelle en Euro-pe« (1713/17). Obwohl er Franzose und ein Zeitgenosse des zentralistischen Staats Ludwigs XIV. war, bevorzugte er die im Herzen des Kontinents gelege-nen föderativen Strukturen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – er transponierte sie in den völkerrechtlichen Entwurf einer Staatenföderation der »mächtigsten Souveräne Europas«. Es sollten Grundsätze des Gewaltver-zichts gelten, der geachteten Souveränität und Gleichberechtigung, des Schiedsspruchs im Konfliktfall und des Mehrheitsbeschlusses im Staatenparla-ment, schließlich auch der Unterhaltung von Bundestruppen und ihres Einsat-zes gegen Friedensbrecher. In diesen Bauformen reiner Logik blitzte die frühe Idee eines Friedensbundes der Staaten oder Vereinter Nationen auf. Wegen der Unmöglichkeit freilich, ein solches Projekt schon für die ganze Menschheit ver-wirklichen zu können, beschränkte Saint-Pierre seinen Plan auf die christlichen Mächte Europas. Doch galt ihm der Weltfrieden als das größere, weitgesteckte Ziel. Dieser Menschenfreund schrieb auch an Friedrich II. von Preußen – in dem rührenden Glauben, der Mann, der einen »Anti-Machiavell« geschrieben, könnte durch den Friedensplan überzeugt werden, von schlesischen Kriegszü-gen abzulassen.

Was der Untertan des feudalen Absolutismus noch im Sinne einer gemäßigt-loyalen Frühaufklärung gesät hatte, keimte als ein radikales Gewächs der bei-den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts auf. Der Gedanke, eine friedli-che Staatenordnung herbeizuführen, verband sich mit dem energisfriedli-chen An-spruch auf Widerstand gegen unfriedliche Monarchen. Die nordamerikani-schen Kolonisten und Unabhängigkeitsrevolutionäre, die die »Bill of Rights«

(1776) proklamierten, teilten mit Thomas Paines »Common sense« (1776) ein weltbürgerliches und zugleich friedliches Zukunftserwarten. Nur die monar-chische Staatsordnung stürze die Menschheit in Kriege – hingegen eine

Repu-blik in Amerika den dauernden Frieden verwirklichen werde: Denn die »voll-kommene Gleichheit der Staatsbürger« bewirke »keine Versuchung« zum Krieg. Nur wenig früher wirkten in Frankreich Jean-Jacques Rousseau und der Abbé de Mably ebenfalls als Programmatiker einer besseren Einheit von Innen-und Außenpolitik: Die Erneuerung der Völkerbeziehungen erfordere eine Staatsordnung, in der die Souveränität den Königen entzogen und auf die Na-tionen übertragen werden müsse. Nur eine Innenpolitik, die sich auf Volks-souveränität gründe und auf das Gesamtwohl einer Nation orientiere, könne auch die Lebensinteressen anderer Völker sowie den Frieden der Menschheit achten.

Ob nun von gemäßigter oder revolutionär-demokratischer Tendenz – das neue Denken der Aufklärung berief sich auf rationale Einsichten in die unge-schriebenen Gesetze der Natur, wonach alle Menschen und Völker als gleich-berechtigt gelten mußten. Es wirkte daher im Namen des Naturrechts, das durch die menschliche Kraft der Vernunft endlich in ein anwendbares System gebracht schien, für eine humane Gesellschaftsordnung. Es forderte nationale wie internationale Zustände, in denen »Freiheit« und »Gleichheit« für alle In-dividuen als »unveräußerliche Menschenrechte« garantiert, auch die Souverä-nität der Völker vor Willkürakten – vor Aggressoren und Angriffskriegen – be-wahrt sein sollten.

Mit einstweilen noch logischer Konsequenz beseelte dieses Denken insbe-sondere die Anfänge der Französischen Revolution. Hier ertönten weltbürger-liche Friedensbotschaften – nicht nationalistische Kriegstrompeten. Das erfolg-te bei allen Grundsatzerklärungen dieses Umbruchs von Staat und Gesell-schaft, der zur bürgerlich-demokratischen Herausforderung und Leitrevoluti-on für den KLeitrevoluti-ontinent Europa, sogar für die Welt wurde. Die unvergeßliche De-klaration der Nationalversammlung vom 26. August 1789, die Prinzipien der Neugestaltung Frankreichs enthielt, aber auch an die Völker gerichtet war, be-siegelte nicht nur die Liquidation der Vorrechte des Adels und des Klerus. Sie stellte nicht nur den Grund- und Kapitalbesitz unter den Schutz der künftigen bürgerlichen Verfassung. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte kün-digte ebenfalls eine darüber hinausweisende humanistische Aufgabe an: den freien Menschen und Staatsbürger in einer möglichst vollkommen gestalteten Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. In dieser kritischen Phase der politi-schen und sozialen Entwicklung vertrat das Bürgertum sein besonderes Inter-esse als das gemeinsame InterInter-esse der Menschheit.

Die zur Herrschaft drängende Besitzklasse hielt auch für angeraten, aus dem Munde ihrer Abgeordneten einen neuen Grundsatz der Außen- und Mi-litärpolitik zu verlautbaren: »Die französische Nation verzichtet darauf, einen Krieg zu Eroberungszwecken zu unternehmen; sie erklärt, daß sie ihre Streit-kräfte niemals gegen die Freiheit irgendeines Volkes einsetzen wird« (22. Mai 1790). Das Vertrauen auf die Allmacht der Vernunft, die stille Werbekraft der

neuen Menschheitslehre, schien damals nicht in Frage gestellt. Das sichtliche Bestreben, den Krieg, mehr noch die Aggression, aus dem Leben der Völker zu verbannen, konnte die Herzen des eigenen Volkes und aller Franzosenfreunde gewinnen. Der Deutsche Klopstock drückte denn auch die Solidarität des fran-kophilen Europa in Versen aus, mit denen er »Galliens Freiheit« besang: »Was vollbringet sie nicht! Sogar das gräßlichste aller Ungeheuer, der Krieg, wird an die Kette gelegt!«

3.

Zu dieser Zeit lag das benachbarte Deutschland in 296 Territorialstaaten zer-stückelt, die sämtlich feudalen Charakters waren. Viele Ideen und sämtliche Taten, die zu bürgerlich-nationalen Höhen vordringen mochten, verfingen sich in den Grenzpfählen der unüberwindlich scheinenden Kleinstaaterei. Und doch – das neue Denken der Aufklärung überflog Hindernisse. Es vollzog sich in einer Region kosmopolitischer Geister, die über diplomatische Intrigen und militärische Waffengänge hinweg miteinander verkehrten. Immanuel Kant in Königsberg beispielsweise folgte längst schon den Ideen Saint-Pierres und Rousseaus – und gerade als Preußen den konterrevolutionären Krieg gegen Frankreich verlor, erhob er die Fackel der Friedensdenker: Sein Traktat »Zum ewigen Frieden« (1795) gedieh noch einmal zum weltbürgerlichen Vermächtnis der Aufklärung.

Die Große Revolution, die in Frankreich den bürgerlichen Nationalstaat konstituierte, vertiefte bei den Nachbarvölkern aber auch das Bewußtsein der eigenen, nationalen Wesenheit. Friedrich Schiller, Kants großer Dichter-Schüler, schien inmitten der Kleinstaaterei den kategorischen Imperativ ins Nationale zu übertragen, indem er eine »Pflicht für jeden« gebot:

»Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an.«

Hatten die an atlantischen Küsten lebenden Völker Englands und Frank-reichs, auf die Dauer sogar Nordamerikas, ihre Nationalstaaten begründet, sich folglich als »Staats-Nationen« konstituiert, so gaben deutsche Dichter und Denker ihren nationalen Bestrebungen einen anderen Sinn. Sie sahen in den Deutschen eine Nation, die nicht durch die Existenz eines vereinigenden Staats, wohl aber die Gemeinsamkeit von Sprache und Mentalität, Sitten und Gebräuchen, Literatur und Künsten, also durch eine eigentümliche Kultur ge-kennzeichnet war. Die Idee der »Kultur-Nation« – anstelle der »Staats-Nation«

– sollte diese Besonderheit ausdrücken. Aber der »deutsche Genius«, dieses fik-tive Gebilde von Intellektuellengeist und Volksseele, war ein zwiespältiges We-sen. Es strebte im Bemühen um nationale Eigenart und Gemeinschaft zu den hohen Werten der Menschheit empor, während es an den Bleigewichten der politischen deutschen Misere schleppte. »Gedankenvoll« und »tatenarm«, ta-delte Hölderlin. Schiller ermutigte – und dämpfte zugleich:

»Ringe, Deutscher, nach römischer Kraft, nach griechischer Schönheit!

Beides gelang dir; doch nie glückte der gallische Sprung.«

Die Kraft der Revolution, die mancherlei Grenzzäune nieder fegte, kam in der Tat von außen. Sie provozierte – um nicht zu sagen: sie peitschte – einen gut Teil der Deutschen zu Fortschritt und Nationalbewußtsein, und sie trägt in der historischen Erinnerung nur einen Namen: Napoleon Bonaparte. Um Frank-reichs Vormacht auf dem Kontinent zu sichern, vollendete Napoleon die seit dem Frieden von Basel (1795) betriebene Annexion des linken Rheinufers. Er gebrauchte sodann den ewigen und räuberischen Landhunger deutscher Für-sten als die Axt, die dem brüchigen Staatsgefüge des tausendjährigen Reiches den Todeshieb versetzte: Für den Preis von Gebietszuwachs und Ranger-höhung kündigten diese Fürsten ihrem habsburgisch-deutschen Kaiser die Ge-folgschaft auf. Sie schlossen sich 1806 unter der Schirmherrschaft des »Kaisers

Die Kraft der Revolution, die mancherlei Grenzzäune nieder fegte, kam in der Tat von außen. Sie provozierte – um nicht zu sagen: sie peitschte – einen gut Teil der Deutschen zu Fortschritt und Nationalbewußtsein, und sie trägt in der historischen Erinnerung nur einen Namen: Napoleon Bonaparte. Um Frank-reichs Vormacht auf dem Kontinent zu sichern, vollendete Napoleon die seit dem Frieden von Basel (1795) betriebene Annexion des linken Rheinufers. Er gebrauchte sodann den ewigen und räuberischen Landhunger deutscher Für-sten als die Axt, die dem brüchigen Staatsgefüge des tausendjährigen Reiches den Todeshieb versetzte: Für den Preis von Gebietszuwachs und Ranger-höhung kündigten diese Fürsten ihrem habsburgisch-deutschen Kaiser die Ge-folgschaft auf. Sie schlossen sich 1806 unter der Schirmherrschaft des »Kaisers

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 169-189)