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Das süße Wort Frieden war nie vergessen

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Zum letzten Historikerkongreß der DDR. Interview (1989)

Freie Welt: Auf dem jüngsten Historikerkongreß nahm das Problem Krieg-Frieden die zentrale Rolle ein. Sehen sich Historiker nun als Krieg-Friedensforscher?

Bock: Der Kongreß unter dem Thema »Krieg Frieden gesellschaftlicher Fortschritt« war notwendig und längst überfällig. Der vorige Kongreß von 1982 befaßte sich mit dem Vergleich von bürgerlicher und sozialistischer Revo-lution obgleich es zu jener Zeit der sogenannten Raketen-Nachrüstungen durchaus angeraten war, den Themen des gegenwärtigen und historischen Friedensringens den Vorzug zu geben. Insoweit wir nunmehr die Lücke schließen, begreifen wir uns auch als Friedensforscher.

Freie Welt: Sind die genannten Versäumnisse aufgeholt?

Bock:Auf dem Kongreß wurden neue Forschungen vorgetragen, aber ebenso die Erfordernisse künftiger Arbeit deutlich. Präzisierungen erweisen sich als nötig, so bei vereinseitigten Forschungsrichtungen, die sich ausschließlich der Problematik des Klassenkampfes widmeten, ohne diese in eine dialektische Be-ziehung zu den Fragen des Friedens gebracht zu haben. Man kann jede Revo-lution danach befragen, wie streitbar und konsequent die jeweilige Führungs-klasse ihre Kampfziele erreichte; man kann aber auch viel bewußter die Frage nach dem Zusammenhang von Revolution und Frieden, von Klasseninteressen und Menschheitsinteressen stellen.

Freie Welt: Und das sind keine rein akademischen Fragestellungen?

Bock:Keineswegs. Der Marxismus hat seit Anbeginn die Abschaffung der Ausbeutung und der Kriege als sein Fernziel postuliert. Doch Wandlungen, die die »klassischen« Marxisten von der Bejahung zeitgenössischer Kriege als Mittel des Fortschritts bis zur prinzipiellen Ablehnung der Staatenkriege vollzogen, sind lange ohne Berücksichtigung geblieben. In einem schwieri-gen Erfahrungsprozeß lernten Marx und Engels begreifen, daß die nationalen Arbeiterklassen und ihre Parteien möglichst friedlicher Staatenbeziehungen bedurften, um die soziale Emanzipation voranzutreiben. Heute steht die Fra-ge nach diesen friedlichen BedingunFra-gen noch schärfer: Geht es doch um Sein oder Nichtsein der Menschheit. Dennoch hat sich auch für uns der Weg zur Erkenntnis als schwierig erwiesen. Selbst bei einer so bedeutenden Zäsur wie dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) hat sich gezeigt, daß zwar der Frieden als ein erwünschter Weltzustand formuliert, aber der Nuklearkrieg falls westlicher Imperialismus ihn auslöse für den Sozialismus als gewinnbar und nicht als Vernichtungsgefahr für die Menschheit aufgefaßt wurde. Das war eine falsche Einschätzung. Das berühmte Einstein-Russell-Manifest von 1955 dagegen hatte den atomaren Krieg als den Untergang der Menschheit bezeichnet.

Freie Welt: So tat sich auch in der Wissenschaft eine Kluft auf zwischen objek-tiv notwendigen Erkenntnissen und den tatsächlich vollzogenen Forderungen?

Bock:Ja, es war ein langwieriger Lernprozeß. Er ist auch dem Umstand ge-schuldet, daß die Erkenntnisfindung durch die politische Konfrontation der Gesellschaftssysteme erschwert wurde. Sich dieser Kluft bewußt zu sein, heißt für den Historiker, die Analyse und die Erklärung des Werdeganges der Menschheit auf die Alternative Krieg-Frieden, den obersten aller globalen Kon-flikte, auszurichten. Ich hoffe, daß die Geschichtsforschung nachdrücklich in diese Richtung gehen wird. Es sind marxistische Beiträge zur historischen Frie-dens- und Konfliktforschung vonnöten.

Freie Welt: Wie soll diese Forschung aussehen?

Bock:Der Historiker reproduziert im Geiste die Vergangenheit. Er muß aber auch die heutige Staaten- und Völkerwelt als ein Gewordenes begreiflich ma-chen. So trägt er die Verpflichtung, mehr zu verstehen und zu erklären, als bis-lang verstanden und erklärt worden ist. Wie also gebis-langte die Menschheit in diese Existenzkrisis und Entscheidungssituation, die unseren größten Einsatz für Weltfrieden und Fortschritt erfordert?Ich bin Historiker der Neuzeit, und wenn ich die Geschichtsepochen dieses halben Jahrtausends überschaue, so entdecke ich zwei widerstreitende Entwicklungstendenzen und Bewegungs-kräfte, die diese globale Alternative zwischen Krieg und Frieden hervortrieben und verkörpern. Zum einen sehe ich eine Staatenpolitik, die seit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert mit den gewalttätigen Mitteln des Hegemonie-strebens, der Kriegsvorbereitung und des Krieges letzten Endes zur Vernich-tung der Zivilisation, zum Exitus der Menschheit führt. Diesem Teufelskreis zu entrinnen, ist bis jetzt nicht gelungen. Deshalb betonen wir die Verwobenheit eines jeglichen Imperialismus mit Kriegspolitik. Doch sind Defizite entstanden, weil wir nicht auch nach friedlichen Alternativen in der Geschichte geforscht haben. Diese waren und sind ebenfalls wirksam. Sie sind verkörpert in Frie-densideen und Friedensbewegungen, Menschenrechtsdeklarationen und Völ-kerrechtsgeboten, sogar in Staatenbeziehungen und universalen Föderationen, die drohende Kriege abwenden und Konflikte friedlich lösen wollten. Dies ist eine Entwicklungslinie, die sich ebenfalls durch die Jahrhunderte zieht und die insbesondere seit der wachsenden Zerstörungskraft der Waffen auf Weltfrie-den und Entwicklung abzielt.

Freie Welt: Diese alternativen Denkverhalten haben Kriege nicht verhindert.

Wie kann historische Forschung heute politisch wirksam werden?

Bock:Kriege sind tatsächlich selten verhindert worden. Jedoch entstanden völkerrechtliche Abmachungen, internationale Gebote und Vertragswerke. Sie sind heute in den zwischenstaatlichen Beziehungen und in der UNO lebendig.

Allerdings: Über die Genfer Konventionen, die internationalen Schiedsgerichte, den Völkerbund, ja nicht einmal die UNO wurden in unserem Land historische Forschungen betrieben. Dadurch haben wir uns so mancher Möglichkeiten

be-raubt, eine systemübergreifende »Koalition der Vernunft und des Realismus«

wirksam zu unterstützen.Ein anderes Problem, das Defizite deutlich macht:

Schon lange wirkt der bürgerlich-humane Pazifismus, dem aber von unserer Seite die Bündnispartnerschaft verweigert worden ist, weil man in ihm einen irrigen, wenn nicht gar unehrlichen Anwalt des Friedens zu sehen glaubte.

Heute, im Ringen um die Erhaltung der Menschheit, müssen Sozialisten den Pazifismus als ein positives Erbe der Geschichte und die Pazifisten als Gefähr-ten der Gegenwart auffassen.Selbst auf jenem Gebiet, das die marxistischen Historiker traditionell dominieren, der Untersuchung von Kriegen, ihrer Ursa-chen, Triebkräfte und Wesenszüge, müssen noch weiße Flecken getilgt werden.

Was wir heute als nukleare Bedrohung begreifen, ist Resultat zweischneidiger Entwicklungen der Produktivkräfte, der Technik, der Wissenschaften und ihres Gebrauchs für Politik. Wir haben diese Zusammenhänge mangelhaft widerge-spiegelt, nicht zuletzt auch infolge einer überkommenen Arbeitsteilung. So wird die Entwicklung der Technik von Technikwissenschaftlern, die Entwick-lung der Produktivkräfte von Wirtschaftshistorikern, die EntwickEntwick-lung politi-scher Prozesse von Politikhistorikern usw. dargelegt. Eine schlimme Folge ist der Mangel einer übergreifenden interdisziplinären Sicht.

Freie Welt: Friedens- und Konfliktforschung ist heutigentags eine solche inter-disziplinäre Wissenschaft. Gibt es Elemente, die nur der Historiker in diese Forschung einbringen kann?

Bock:Es gibt Historiker verschiedener Fachrichtungen. Als Politik- und Kul-turhistoriker habe ich schon einige Beispiele genannt. Hinzufügen möchte ich die simpel anmutende Frage: »Was wäre, wenn … ?« Wo immer sie gestellt wird, berührt sie Vergangenheit und Gegenwartalso Geschichte. Traditionel-le Geschichtsschreibung hat diese Frage jedoch abgeTraditionel-lehnt: Der Historiker habe nur zu sagen, wie es gewesen ist. So wurde die Tatsächlichkeit der Kriege zwar dargelegt. Doch zumeist unterblieb die Frage, ob diese Kriege vermeidbar, ob friedliche Lösungen möglich gewesen wären. Die Frage »Was wäre, wenn …?«

zielt auf historische Alternativen. Das betrifft uns selbst. Wir haben uns als eine Generation in der Kette von ringenden Generationen und Klassenkämpfen ver-standen, als Widerstandskraft gegen die kriegerischen Kräfte des modernen Kapitalismus. Nun aber sind wir zu der Erkenntnis gezwungen, daß Klas-senkämpfe, wenn sie zum Krieg zwischen den Atommächten überspringen, zur Vernichtung der Menschheit führen. Folglich müssen wir Alternativen denken und leben: Die Vernunft muß darauf gerichtet sein, alle Konflikte durch möglichst friedliche Regelungen, jedenfalls ohne Krieg, zu bewältigen.

Ebenso müssen wir die Vergangenheit befragen, ob Kriege, nur weil sie statt-gefunden haben, als unvermeidbar hinzunehmen sind. Das ist keine akade-mische Gedankenspielerei, sondern Gegenstand wissenschaftlicher Analyse, um politische Versäumnisse aufzudecken und ihre Wiederholung unmöglich zu machen. Solch ein Forschungsbemühen wäre noch vor kurzem undenkbar

gewesen. Jedoch wir werden für eine unabsehbare Zeit in einer konfliktrei-chen Welt leben. Die diplomatische Kunst der friedlikonfliktrei-chen Konfliktregelung muß schleunigst erlernt werden. Die humanistisch Gesinnten der bürgerlichen Friedensforschung haben sich seit ihren Anfängen in der BRD um 1970 eben-falls als historische Konfliktforscher verstanden.

Freie Welt: Die Friedensideen–vom Altertum bis zur Neuzeitwaren wenig wirksam. Sind die Ursachen nicht auch darin zu suchen, daß Kriege eine durchaus treibende Kraft in der Geschichte waren?

Bock:Kriege waren nicht nur eine treibende Kraft. Sie waren in einigen Epo-chen sogar eine Bedingung für die Existenz der Gesellschaft. Die Sklavenhal-tergesellschaft war auf Kriege angewiesen, um Menschen als Produktivkraft zu unterjochen, um das Reservoir ihrer Arbeitskräfte zu erneuern. Der agrarischen Feudalgesellschaft war infolge extensiver Landnutzung und geringer Arbeits-kräfte die Expansion wesenseigen; unter dem Vorwand der Christianisierung wurden die Volksstämme Osteuropas unterworfen. Erst mit dem aufkommen-den Kapitalismus stand die Frage Krieg-Frieaufkommen-den neu: Denn für die Entwick-lung der Produktivkräfte und die Akkumulation des Kapitals waren Kriege keineswegs unverzichtbar. Den französischen Physiokraten und den Vertretern der klassischen bürgerlichen Ökonomie, insbesondere Adam Smith, dem Für-sprecher des Freihandels, galten Kriege als eine unsinnige Zerstörung von Pro-duktivkräften. Sie sahen im Krieg nur Unvernunft und Willkür, das größte Hindernis für gesunde Beziehungen zwischen Ländern und Völkern. »Frieden durch Freihandel!« proklamierten diese ökonomischen Denker. Sie gingen noch einen Schritt weiter und erklärten das ganze Militärwesen für einen Schmarotzer an der Gesellschaft, für verlorenes produktives Kapital.

Freie Welt: Das sind bemerkenswerte Aussagen. Hat jedoch der Verlauf der Geschichte nicht gezeigt, daß stärkere Kräfte diesen Ansatz zur Friedensfähig-keit des Kapitalismus zunichte gemacht haben?

Bock: Selbstverständlich ist es die Aufgabe des Historikers, dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Wir haben daher den Krieg beständig zu thematisieren.

Doch es gilt auch, auf die Kräfte zu verweisen, die eine Entwicklung des Kapi-tals mit friedlichen Mitteln als durchaus gegeben, sogar wünschenswert ansa-hen. Das ist heute von besonderer Aktualität. Die relative Friedensfähigkeit von Elementen und Interessenträgern des Kapitals ist wichtig; das historische Erinnern kann diese selbst für ein Verhalten in der Gegenwart mahnen und er-mutigen. Wir müssen alle kriegverhütenden Aspekte des Wettbewerbs und der Zusammenarbeit in einer ganzheitlichen Welt durch Wissenschaft erkennen und durch Politik verwirklichen. Dabei steht die Janusköpfigkeit des Kapitals außer Zweifel. Für die marxistische Friedens- und Konfliktforschung ist es aber von einschneidender Bedeutung, das Wirken beider Fraktionen des Kapitals der zum Krieg treibenden und der zum Frieden fähigenzu analysieren, um jede Möglichkeit künftiger Kompromisse und Kooperationen mit jenen Teilen

der Bourgeoisie auszuloten, die den Frieden als eine Lebensbedingung ihres Profits begreifen. So verstehe ich Hilfe der Wissenschaft für eine Politik, die unter der strategischen Losung »Koalition der Vernunft und des Realismus«

agiert. Der Historiker muß den waffenstarrenden Elfenbeinturm aufbrechen, worin er als ein »rückwärtsblickender Seher« der Klassenkämpfe verharrte.

Seine Forschungen müssen heute den Friedensnerv der Gegenwart und der hoffentlich noch erreichbaren Zukunft treffen.

Freie Welt: Adam Smith hat sozusagen die materiell-ökonomische Basis eines möglichen Weltfriedens angesprochen. Wie beurteilen wir den Versuch des Franzosen Abbé de Saint-Pierre, der Anfang des 18. Jahrhunderts auf eine an-dere Weise dem ewigen Frieden nahe kommen wollte?

Bock:Als sich Saint-Pierre an die Regierungen des damaligen Europa wand-te, existierten zumeist feudal-absolutistische Regime, in Gestalt der Nieder-lande und Großbritanniens aber auch bürgerliche Staaten. Erbfolge-, Handels-und Kolonialkriege waren an der Tagesordnung. In dieser Situation unterbrei-tete Saint-Pierre seine Vorstellungen für eine Keimform friedlicher Koexistenz:

Eine Föderation der Staaten Europas sollte mit Hilfe des Gewaltverzichts, der periodischen Kongresse, des Schiedsspruches im Konfliktfall und einer ge-meinsamen Friedenstruppe den dauerhaften Frieden ermöglichen.

Freie Welt: War er ein Vordenker für das, was wir heute »Haus Europa«

nennen?

Bock:Das möchte ich bejahen. Was für lange Zeit als Utopie oder gar als Illu-sion galt, erscheint heute in einem neuen Licht. Der objektive Zwang, den Krieg zu vermeiden, rückt uns die Gedanken interstaatlicher Organisationsfor-men und Konfliktregelungen wiederum nahe. Die ArguOrganisationsfor-mentationsweise Saint-Pierres war humanitär und völkerrechtlich angelegt. Seine Intentionen wurden fortgesetzt durch Rousseau und Kant. Das von Saint-Pierre ausgehende Frie-densdenken der Aufklärung brachte einen historischen Fundus der Völker-rechtsentwürfe und Föderationspläne hervor, die heute fortleben. Auch die UNO konnte an solche Prinzipien anknüpfen. Interessierten Adam Smith die ökonomischen, Saint-Pierre und Kant die ethisch-völkerrechtlichen Aspekte zum Aufbau einer Friedenswelt, so bilden sie für uns Heutige eine dialektische Einheit. Natürlich wird Ökonomie ein drängendes Interesse im gewünschten Wettbewerb und in der Zusammenarbeit der Systeme sein. Doch ohne mensch-liche und völkerrechtmensch-liche Normen des Friedens ist internationales Überleben undenkbar. Kurz gesagt, die erstrebte Welt muß auf zwei Pfeilern stehen: auf der Förderung ökonomisch-sozialer Lebensinteressen und auf einem rechtlich-ethischen Überbau in Gestalt internationaler Instrumentarien der Staatenko-operation und der Konfliktbewältigung.

Freie Welt: Was sagt ein Historiker zu den pessimistischen Vorstellungen vie-ler Wissenschaftvie-ler, daß es, um den Zyklus Krieg-Frieden zu durchbrechen, den Menschen an Vernunft und nun auch an Zeit mangele?

Bock:Ich gestehe offen, daß ich Wissenschaftlern, die bei der Betrachtung der historisch gewordenen Welt pessimistische Folgerungen ziehen, nicht dreist entgegentreten möchte. Allerdings will ich eines betonen: Kommt der Pessi-mismus aus der anthropologischen Deutung, daß der Mensch allzeit unverän-derlich bleibe und er seine aus dem Tierreich übernommene Aggressivität ewig in kriegerische Gewalt übertragen müsse, so lehne ich diese Vorstellung ab. Ich kenne jedoch selbst Marxisten, die aufgrund lebenslanger Analysen der ver-gangenen und heutigen Welt wenig Mut aufbringen, dem oft beschworenen Geschichtsoptimismus zu vertrauen, der im Alltag der Politik euphorisch ver-lautbart wird. Zweifellos sind in den letzten Jahren deutliche Fortschritte im Friedensringen erzielt worden. Doch diesem Novum, wie es sich in der par-tiellen Abrüstung nuklearer Mittelstreckenraketen darbietet, steht die Tatsache entgegen, daß mächtige Kräfte immer noch an der Rüstungsschraube drehen, daß sie immer noch Mißtrauen und Feindseligkeit für geeignet halten, eine Konfrontationspolitik zu betreiben. Angesichts der noch nicht geleisteten Gleisveränderung, die den Zug der Geschichte endgültig in Richtung Völker-frieden und Zusammenarbeit leitet, begreife ich den Pessimismus so mancher Historiker, Philosophen und anderer Wissenschaftler. Doch ich nehme an die-sem Pessimismus nicht gern teil. Ich sehe mich als Glied einer gemeinschaftli-chen Bemühung, die historische Gleisveränderung dadurch zu ermögligemeinschaftli-chen, daß wir aus der Geschichtetrotz vieler unseliger Tatsachenjenes Erbe zu-tage fördern, das dem Friedensringen Ermutigungen vermittelt.

Freie Welt: Reifen bei dem Blick zurück in die Geschichte auch die Fähigkeiten, den Blick in die Zukunft zu richten?

Bock:Wissenschaft kann alternative Prognosen anbieten, jedoch nur, wenn sie subjektive Eingrenzungen und lineares Wunschdenken überwindet. Ich meine damit ein Denken, daß entweder den eigenen Wunsch zum Vater des Gedan-kens macht oder in seiner Eindimensionalität alle Verwicklungen der Wirklich-keit überfährt. Wir leben in einer Welt der äußersten Widersprüche, der ent-setzlichen Spannungen und nur sacht beginnenden Entspannung. Gegenwart und Zukunft schließen mehrere Entwicklungen in sich einund nicht nur die erwünschten. Ich halte es für falsch, wollte man für diese widerspruchsvolle Welt nur einen einzigen Weg, nur eine Antwort ohne Alternativen dulden.

Natürlich bestimmt ein jeder seinen Platz, von dem er die Zukunft zu sichten und zu formulieren sucht. Jedoch darf diese Position des Wissenschaftlers nicht zu traditioneller Verharrung und Einseitigkeit verführen. Wir stehen vor inter-nationalen Entwicklungen, die nur annähernd richtig erfaßt werden können, wenn nationalpolitische Enge, wenn eurozentrische Befangenheit und Über-heblichkeit fallen. Denn objektiv existiert der universalhistorische Zusammen-hang aller Entwicklungen und Aktivitäten. Betrachten wir beispielsweise die Gründung der DDR im Jahre 1949, so müssen wir uns vergegenwärtigen, daß vier Jahre zuvor die Hiroshima-Bombe die Welt in tragischer Weise verändert

hatte und nun im Jahr der DDR-Gründung auch die Sowjetunion ihren ersten erfolgreichen Kernwaffentest durchführte. Steht das Datum des August 1945 für den Willen, sich die Welt durch die furchtbare Gewalt einer Waffe gefügig zu machen, so signalisiert das Datum des August 1949, daß der Einsatz dieser Waffe für die USA zum unkalkulierbaren Risiko wurde. Schon 1950 wagten sie nicht mehr, ihre Atomwaffen im Korea-Krieg anzuwenden. In diesem Kontext müssen wir auch die Bedingungen für den Bestand der DDR sehen.

Heute ist in der DDR eine beachtliche Mobilität im Umgang mit dem histo-rischen Erbe erreicht worden. Doch die Historiker wenden sich zumeist nur dem nationalen und regionalen Erbe zu. Ohne universalgeschichtlichen und weltpolitischen Blick, ohne die ständige Bewußtheit, daß unsere eigene Ge-schichte nur ein kleiner Teil der universalen Entwicklung ist, verliert man die Sicht auf notwendige Zusammenhänge. Wenn wir zum Beispiel die Zeit nach dem Schwellenjahr 2000 anvisieren, sollten wir uns im klaren sein, daß sich we-sentliche politisch-ökonomische Prozesse und internationale Entscheidungen aus Europa in andere Weltregionen verlagern werden. Die Frage, ob diese Ver-änderungen friedlich oder kriegerisch ablaufen, wird die Welt nicht nur tan-gieren. Sie wird über ihren Bestand entscheiden.

Freie Welt: Stellt sich in diesem Zusammenhang nicht auch die Frage, wie man

«gerechte Kriege« heute einzuschätzen hat?

Bock:Nach rückwärts gewendet, fallen dem marxistischen Historiker die Ur-teile über »gerechte« und »ungerechte« Kriege nicht schwer. Die Einschätzun-gen für heute sind weit komplizierter. Im hochindustrialisierten Europa bei-spielsweise kann jeder Krieg, auch der konventionelle, nicht führbar weil schlechthin massenvernichtend sein. Die Wertung, ob dies ein »gerechter« oder

»ungerechter« Krieg wäre, entbehrt aller Vernunft. Für die Regionen in Asien, Afrika, Lateinamerika, wo seit ungefähr vierzig Jahren infolge von Aggressio-nen und nationalen Befreiungen über 200 kriegerische Auseinandersetzungen stattgefunden haben und noch stattfinden, ist schwer zu sagen, in welcher Wei-se die Gewalt der Unterdrücker durch die Befreiungstat der Unterdrückten ge-brochen werden kann. Welcher Marxist will es auf sich nehmen, im Namen des Weltfriedens die revolutionäre Regierung in Nikaragua aufzufordern, gegen-über den Waffen der Contras zu kapitulieren? Dennoch müssen konkrete Si-tuationsanalysen für jeweilige Konfliktsituationen ganz konkrete Antworten geben, die mitunter auch zu bitteren Kompromissen raten werden. Das hat nichts mit Prinzipienlosigkeit zu tun. Für Afghanistan hat die Sowjetunion (mit dem Rückzug ihrer Truppen) endlich eine derartige Schlußfolgerung gezogen.

Weitere Kompromisse zeichnen sich in Asien, Südafrika und Lateinamerika ab.

Sie sind Folgerungen eines neuen internationalen Denkens, sind Anzeichen histo-rischer Lernvorgänge, die mehr und mehr von einer zentralen Einsicht getra-gen sind: Staatenkonflikte friedlich zu lösen. Alle Menschen und Völker haben ein Recht auf internationalen Frieden.

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