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Die Erblast Stalins

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 133-149)

Von Ursachen und Zielen unserer Revolution (1989)

Alles Geschehen steht vor der globalen Alternative des Überlebens oder des Untergangs der Menschheit. Sollten humane Vernunft und friedliche Kon-fliktlösungen in der Weltgeschichte obsiegen, dann könnten die Annalen deut-scher Geschichte die gegenwärtigen Tage und Wochen, den Massenaufbruch zu besseren Gesellschaftszuständen, mit den großen Volkserhebungen der Vergangenheit vergleichen: mit der Reformation Luthers und Müntzers, der Revolution von 1848, der Novemberrevolution von 1918.

Uns allen aber, ob wir auf den Straßen, die wir selbst gebaut, demonstrie-ren oder hinter den Amtstüdemonstrie-ren, die wir aufgestoßen, diskutiedemonstrie-ren oder in den Apparaten der Parteien und des Staats funktionieren – uns allen ist jetzt an-heim gestellt zu entscheiden, was die Geschichtschronik vermelden, wie un-sere Nachfahren über uns urteilen werden. Wird da von einem zornigen, aber wirren Aufbruch zu berichten sein, der sich am Ende in taktischen Winkelzü-gen, vielleicht gar der Preisgabe lebenswerter Errungenschaften verlief? Oder von einer hellwachen, revolutionären Bewegung, die zur Erneuerung von Staat und Gesellschaft gedieh?

1.

In jedem Falle bleiben die Anfänge unserer Tage und Wochen merkwürdig ge-nug. Der Massenaufbruch begann nicht mit einem Thesenanschlag an der Domtür zu Wittenberg, nicht mit einem neuen Kommunistischen Manifest, nicht mit einem Kieler Matrosenaufstand. Er begann mit tausendfachen Indi-vidualprotesten, die – historisch gesehen – zumeist konservativ waren. Der längst angesammelte Sprengsatz, der im hermetisch geschlossenen Raum seit

»Sputnik«-Verbot, Kommunalwahlschwindel, Sympathiebekundung für Pe-kings Konfliktbereinigungsmethoden zur Explosion führte, sprengte das DDR-Staatsgebäude keineswegs in die Richtung des Sozialismus auf. »Wir wollen raus!« riefen die ausbrechenden Elemente und entwichen auf ungarischen Grenzwegen, Fahrstraßen, schließlich auch DDR-Reichsbahngleisen – befördert durch das strategische Management bundesbürgerlicher Politiker und Medien.

Verzweifelter Zustand! Da rann Blut aus dem Körper unseres vierzigjähri-gen Gemeinwesens, dem doch in allen Staatsreden und Leitartikeln paus-bäckige Gesundheit bescheinigt war. Empörender Zustand! Da erlitten ver-diente antifaschistische Kämpfer, die zu selbstgefälligen und ewig feiertäglich gestimmten Patriarchen geworden waren, den totalen Black-out ihrer Regie-rungskarriere. Sie verweigerten sich weiterhin marxistischer Analyse, unge-schminkten Tatsachen, ausgearbeiteten Konzepten für »Perestroika« und

»Glasnost«. Zurückgewiesen – die warnenden, drängenden Stimmen von der

Parteibasis der SED, wo man begann, Disziplin als Kadavergehorsam zu emp-finden. Ignoriert – die Unruhe und kritischen Hinweise der Erneuerer in den Künstlerverbänden, den Kirchenleitungen, den Bürgerinitiativen, den Partei-en und MassPartei-enorganisationPartei-en der NationalPartei-en Front. Jetzt hatte Festzeit zu sein! Politparty mit Paraden, Feuerwerk und Fackelschein. Immer noch unter-tänige Kollektivübungen mit vorgefertigten Dankadressen, obwohl man doch selbst es war, der gearbeitet hatte und abermals die Kosten für den Staatszir-kus zahlte: für Immerdieselben auf den Tribünen. Das wirklich Gute, Errun-gene, Feiernswerte herabgezogen ins hohle Pathos einer Selbstverherrlichung, die seit Jahren schon Irrweg, Demagogie, Lüge war.

Doch plötzlich vollkommen Neues. Gegendemonstrationen – und mehr noch! Das Gejohle der Rowdys, die Mauer-weg-Rufe der Konterrevolution weithin überstimmend, der massenhafte Aufschrei: »Wir bleiben hier! Wir sind das Volk!« Eine tönende Welle, die durchs Land wogt. Der Aufbruch hat begonnen.

Endlich! Die historische Chance für einen demokratischen und humanen Sozialismus ist da. Das nämlich ist sie, die entscheidende Rolle der Volksmas-sen in der Geschichte: geduldige, noch immer mühsame Arbeit zur materiel-len Sicherung des Gesellschaftslebens – und wenn nötig, vielköpfiger Unmut auf Straßen und Plätzen, der die umfassende Krise offenlegt. »[…] Wenn die Unterschichten das Alte nicht mehr wollen und die Oberschichten in der alten Weise nicht mehr können – erst dann kann die Revolution siegen«, heißt es bei Lenin (Werke, Bd. 31, S. 71).

Mit der Triebkraft von Sachzwängen hat die Entlassung überhängender Spitzenpolitiker angefangen. Ihr Absturz löst jenen Schneeballeffekt aus, der noch manchen der Nomenklaturkader in die Tiefe reißen – richtiger: in die ar-beitsame Masse der Werktätigen befördern wird. Nicht zu überhören ist jetzt die Verheißung von politischen Novationen und Gesetzen, die mehr Demo-kratie, mehr Rechtssicherheit, neue Freiheiten schaffen, den regierungsamtli-chen Verfassungsbruch endigen sollen. »Wende« ist nun das Wort, benutzt von allen und jedem: Sie sei bereits eingeleitet, habe begonnen!

Doch was ist »Wende«, wenn nicht auch sie zum Gummiwort verkommen soll, das von jedermann aufgeblasen wird? Und überhaupt: Was bedeutet

»Wende« in der Geschichte der Wege, Um-Wege, Ab-Wege sozialistischer Be-wegung?

2.

Die Frage stellen heißt auch, sich auf Anfänge zu besinnen. Was heute geern-tet wird, wegen Frühfäule aber auch liegen bleibt auf den Feldern der Ge-schichte, hat mit guten und schlechten Vorgängen der Vergangenheit zu tun.

Marx und Engels, die eine Programmatik des »wissenschaftlichen Sozialis-mus« begründeten, wurzelten im Humanismus der Aufklärung. Sie waren

zugleich Zeitgenossen der Industriellen Revolution, mit der die maschinell produzierende Gesellschaft des Industriekapitalismus entstand. Unter dem Eindruck dieser weltgeschichtlichen Entwicklungstendenz – mit der Möglich-keit eines materiellen Auskommens für alle, jedoch der WirklichMöglich-keit einer Klassenspaltung in wohlständische Kapitalisten und vegetierende Lohnarbei-ter – begriffen sie die Abschaffung jeglicher Ausbeutung als das Ziel der Menschheitsgeschichte. Die proletarische Revolution sollte das Mittel sein, um die Beziehungen der Individuen und der Völker letzten Endes gerecht und friedvoll zu gestalten.

Diese Revolution, die in der Aufhebung des Privateigentums an den größe-ren Produktionsmitteln und der Errichtung einer »Gütergemeinschaft« der ar-beitenden Klassen an den Ergebnissen der gesellschaftlichen Produktion be-stehen sollte, werde, so glaubten sie, als eine baldige Weltrevolution erfolgen:

»Die kommunistische Revolution wird […] keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern, d. h. wenigstens in England, Amerika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein […]. Sie wird auf die übrigen Länder der Welt ebenfalls eine bedeutende Rückwirkung ausüben und ihre bisherige Entwicklungsweise gänzlich verändern und sehr beschleu-nigen. Sie ist eine universelle Revolution und wird daher auch ein universel-les Terrain haben.« Das schrieb Engels bei der Ausarbeitung des Manifestes der Kommunistischen Partei (MEW, 4, 374 f. – hervorgh. v. HB). Gleichzeitige Befreiung des Proletariats, ausgehend von den entwickelten kapitalistischen Ländern – insbesondere von England, Frankreich, den USA! Dieser Grundge-danke fixierte den damaligen Höchststand der Entwicklung der Produktiv-kräfte, die soziale Formierung des Proletariats, den gereiften Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse als entscheidende Voraussetzungen der gedachten Weltrevolution. Er setzte damit noch eine weitere Prämisse: Der Beginn des proletarischen Emanzipationskampfes wurde in den Ländern der bürgerlichen Demokratie erwartet, wo Verfassung und Gewaltenteilung, Wahlen und Parlamente, Ministerverantwortlichkeit und öffentliche Recht-sprechung, zugesicherte Freiheiten der Persönlichkeit, der Meinungen, der Versammlung, der Assoziation, der Presse existierten. Wohl wurden diese ver-fassungsmäßigen Rechte durch die Geldsäcke des Kapitals beständig einge-schränkt, und gerade die Proletarier litten unter den staatlich bevorzugten Ausbeutergewalten. Doch zu den absolutistischen und scheinkonstitutionel-len Regimen im größeren Rest der Welt verhielten sich die parlamentarisch re-gierten Länder mit ihrer politischen Kultur wie das Licht zur Finsternis – sie verkörperten die Zivilisation gegenüber der Barbarei.

Kein Wunder, daß die Vordenker der Arbeiteremanzipation ihre Zielvor-stellungen auf eben dieser Kulturstufe entwickelten, um die noch höhere Kul-tur der Demokratie ohne Ausbeuter, die Demokratie der allseitigen Entfaltung al-ler werktätigen Individuenzu gewinnen: »An die Stelle der alten bürgerlichen

Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden dieBedingungfür die freie Entwicklung al-ler ist.« So – und nicht anders – lautet der Schlußsatz im Programmteil des Kommunistischen Manifestes (MEW, 4, 482 – hervorgh. v. HB).

Natürlich sollte der Staat der Bourgeoisie durch die Revolution zerschlagen werden. Es war das Beispiel der Pariser Kommune (1871), wovon Marx die Charakterzüge eines Staatswesens der arbeitenden Klassen ableitete. Unsere heutigen »Revolutions«-Bürokraten, die immerfort von sich behaupteten, die Arbeiterklasse selbst zu sein, haben nur die Verneinung der bürgerlichen Ge-waltenteilung rezipiert – denn wie die Kommunarden, so wollte Marx, daß die parlamentarischen Volksvertretungen nicht nur redende, sondern auch arbei-tende Körperschaften sein sollten, »vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit«. Alle weiteren Prinzipien aber, womit Marx die »Selbstregierung der Pro-duzenten« betonte und ausstattete, sind tunlichst in Vergessenheit getaucht worden: So die freie Wahl der Abgeordneten, die »jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein« sollten. So die Lei-stung aller Regierungs- und Verwaltungstätigkeit »für Arbeiterlohn«. So die Reorganisation der Polizei zu einem »verantwortlichen und jederzeit absetz-baren Werkzeug« des Gemeinwesens. So die Gleichstellung der Richter mit den übrigen »öffentlichen Dienern«, ebenfalls »gewählt, verantwortlich und absetzbar«.

Dieser Entwurf des sozialistischen Demokratismus ist im 20. Jahrhundert unter den Stiefel einer neo-absolutistischen Administration geraten. Mit der Berufung auf den Arbeiter-und-Bauern-Staat, tatsächlich aber mit dem im-merwährenden Anspruch auf bürokratisch-diktatorische Leitungsfunktionen und Entscheidungsprivilegien, haben Partei- und Staatsführungen die volks-fremden Methoden von Ausbeuterdiktaturen restauriert. Ihren eingefleischten Vertretern muß ins Stammbuch geschrieben werden, was Marx von den Auf-gaben der Arbeitermacht gegenüber dem zu bekämpfenden Altstaat sagte:

»Die Einheit der Nation sollte […] organisiert werden durch die Kommunalver-fassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staats-macht,welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war« (MEW, 17, 340 – hervorgh. v. HB). Nichts sei dem Geist der Kommune fremder, als das allgemeine Stimmrecht zu ersetzen

»durch hierarchische Investitur«, ein System der willkürlichen Ernennung von Amtspersonen. Das Staatswesen im Sinne von Marx war konsequent demo-kratisch, also von unten heraufgebaut. Es setzte keineswegs den absoluten Vor-rang des Zentralismus.

Demnach ist schwerlich zu bestreiten, daß die Staatsideen der originalen oder »klassischen« Marxisten noch immer ein Erbgut sind, an dem Sozialisten der Gegenwart sich zu prüfen haben. Allerdings in sehr viel anderen

Weltver-hältnissen als die strategischen Vordenker des 19. Jahrhunderts voraussehen konnten. Indem sie die Befreiung der Arbeiterklasse bis an ihr Lebensende als die Revolution ihrer Zeit erwarteten, hatten sie den historischen Horizont zu kurz bemessen. Was aber die Vorstellung von einer gleichzeitigen und von den entwickelten Ländern des Kapitals ausgehenden Weltrevolution betrifft, so irrten sie gänzlich: Nicht von Westen her kam die Revolution der arbeitenden Klassen, sondern von Osten!

3.

Die ungeheuerliche Vernichtung von Menschen und Produktivkräften im Er-sten Weltkrieg, zudem die gegenseitige Ruinierung der Staaten bedingten, daß die Revolution zuerst dort ausbrach, wo Staat und Gesellschaft noch weithin der absolutistisch-spätfeudalen Barbarei verhaftet, daher in besonderer Weise veraltet und brüchig waren. Die gegen den Zarismus gerichtete bürgerliche Revolution von 1905 wiederholte sich in der erfolgreichen Februarrevolution von 1917, und im Oktober desselben Jahres stürmten Arbeiter und Soldaten gegen die relativ schwache russische Bourgeoisie. Solange in der Welt soziale Unterdrückung herrscht, wird es Sympathisanten und Parteigänger des So-zialismus geben, die in dieser Oktoberrevolution den welthistorischen Auf-bruch zu einer gerechten und friedlichen Lebensordnung erkennen.

Was da begonnen wurde, war ein Werk von heroischer Größe – jedoch un-ter denkbar ungünstigen Verhältnissen. Die Möglichkeit der Größe lag in dem subjektiven Faktor begründet, daß Rußlands aktuell revolutionäre Traditionen und die politische Qualität einer Arbeiterpartei, der Bolschewiki, allen ande-ren Ländern überlegen war. Aber die Ungunst der objektiven Verhältnisse wi-dersprach ganz und gar den Bedingungen, die Marx und Engels für eine so-zialistische Revolution angenommen hatten.

Da waren zunächst die schwerwiegenden Probleme, die aus den weltpoli-tischen Vorgängen, aus Krieg und Nachkriegskrise, erwuchsen. Hatte Lenin nach dem schnellen Sieg der Oktoberrevolution noch auf erfolgreiche Arbei-tererhebungen in den hochentwickelten Ländern Mittel- und Westeuropas gehofft, so scheiterten diese in den Kriegsverliererstaaten Deutschland, Öster-reich und Ungarn. In den Siegerstaaten FrankÖster-reich, England, den USA fand nicht einmal ein Versuch dafür statt. Der Sozialismus mußte in einem einzigen Land aufgebaut werden, umgeben von einer extrem feindlichen und vielfach überlegenen kapitalistischen Umwelt.

Dieses Land bedeckte ein Sechstel der Erde, umfaßte außer den Tropen alle Klimazonen, integrierte Dutzende von Völkern und Völkerschaften – was zwar Großräumigkeit für den Versuch der politisch-sozialen Umwälzung, aber nicht unbedingt Vorteile anzeigte. Geradezu schlechte Vorbedingungen ergaben sich aus dem niedrigen Niveau der Produktivkräfteentwicklung, der zahlenmäßig geringen Arbeiterklasse, der analphabetischen

Bevölkerungs-mehrheit und – man sollte es nicht vergessen: dem nahezu gänzlichen Fehlen einer politischen Kultur, die durch bürgerlich-parlamentarische Demokratie und möglichst freie Geistesbewegung gefördert gewesen wäre. Die weitaus überwiegende Volksmasse, die Bauernschaft, war zutiefst geprägt von der pa-triarchalischen Primitivkultur des Dorfes. Die Aufgaben, vor denen die Bol-schewiki standen, waren gigantisch und in der Geschichte ohne Beispiel.

Daher müssen die Leistungen unvergessen bleiben, die seit 1917 von nur drei politischen Generationen erbracht wurden. Aus einem rückständigen Agrarland, wo gerade die zivilisierten Gebiete durch Weltkrieg, Bürgerkrieg und revolutionären Verteidigungskrieg verwüstet waren, entwickelte sich in nur zwanzig Jahren eine Großmacht: 1939/40 übertraf die Sowjetunion – gemäß ihrem absoluten Wirtschaftspotential – Frankreich und Großbritannien, sie holte Deutschland nahezu ein und stand nur hinter den USA sichtlich zurück. Moderne Großindustrien, technisierte Landwirtschaft, tiefgreifende Kulturumwälzung waren die Hauptresultate der sozialistischen Revolution.

Trotz kapitalistischer Umkreisung vermochte sich die Sowjetunion zu festigen.

Die zweite historische Leistung wurde durch eine mörderische Herausfor-derung erzwungen: den Überfall des Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Der angeblich »tönerne Koloß« behauptete sich an der Entscheidungsfront der Anti-Hitler-Koalition, so daß die Völker Europas – auch das deutsche Volk – den faschistischen Herrschaftssystemen entrissen wurden. Mit diesem Sieg er-stand die Sowjetunion neben den USA als Weltmacht.

Doch Rüstung und Kriegsgefahr sind geblieben. Ein tödliches Damokles-schwert – so hängen sie infolge der durchaus vermeidbaren amerikanischen Bombenwürfe vom 6. und 9. August 1945 über der Menschheit. Was aber wäre geschehen, wenn die Sowjetunion die Hölle von Hiroshima, von Nagasaki und die weitere Kernwaffenrüstung der USA nicht als eine auf den Sozialis-mus zielende Drohung verstanden hätte? Wenn sie nicht, nach schwersten Verlusten an Menschen und Produktivkräften im soeben überstandenen Krieg, zum ungeheuer kostspieligen Bau der totalen Vernichtungswaffen vor-geschritten wäre? Objektiv wurden Menschen aller Länder, ob sie nun auf We-gen zum Sozialismus waren oder unter der Herrschaft des Kapitals fortlebten, um eine Chance für Frieden und Koexistenz reicher, als am 29. August 1949, im Gründungsjahr der DDR, die erste Versuchsexplosion einer sowjetischen Atombombe gelang. Das Kernwaffenmonopol der USA war gebrochen. We-gen einer möglichen Vergeltung durch die Sowjetunion wagte die US-Regie-rung nicht mehr, ihre Nuklearwaffen einzusetzen. Unter sowjetischem Schutz, ergänzt durch politische und wirtschaftliche Hilfeleistungen, verbreitete sich das sozialistische Weltlager.

Sind dies die wichtigsten Pioniertaten der Sowjetunion in der Geschichte des Sozialismus, so muß doch auch von höchst fragwürdigen Vorgängen und Resultaten gesprochen werden.

4.

Die Oktoberrevolution hatte vor der historischen Aufgabe gestanden, die von Marx vorgedachte Diktatur des Proletariats – die Diktatur der arbeitenden Mehrheit über die ausbeuterische Minderheit – zu errichten: Der Arbeiterstaat sollte den Aufbau der neuen Gesellschaft organisieren und beschirmen. Es wa-ren die russischen Sowjets, die Räte der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die frühe Anfänge des sozialistischen Staats prägten; mit ihrer Verwurzelung in den Massen tendierten sie zu einem höheren Grad der Demokratie als dies der bürgerliche Parlamentarismus je angestrebt hatte. Hinzu kam die Tatsache, daß viele Millionen russischer Werktätiger ihr Leben für die Revolution ein-setzten – eine demokratische Legitimation, die ebenfalls schwerer wog als jede Parlamentswahl es hätte sein können.

Doch die Kriegswirren, sodann die anhaltende Drohung der inneren und äußeren Konterrevolution, bis zu einem gewissen Grad auch die Gewohnheit, jahrhundertelang unter der Diktatur der Zaren, der Vormundschaft der Guts-besitzer und der Popen gelebt zu haben, begünstigten folgenschwere Unter-lassungen. Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten, sogar dauer-haft funktionsfähige Repräsentativorgane der Demokratie des Volkes wurden vernachlässigt. In den werdenden Arbeiter-und-Bauern-Staat wurden keine hinreichend gesetzlichen Sicherungen gegen eine Überspannung der Zentral-gewalt, keine wesentlichen Kontrollinstitutionen gegen einen Macht-mißbrauch der neuen Administration eingebaut. Eine bewußte Aufteilung der Befugnisse zwischen Partei und Staatsapparat, eine rechtssichernde Gewal-tenteilung zwischen Legislative und Exekutive, eine wahrhaft eigenständige Rolle der Gerichtsbarkeit wurden nie ernsthaft diskutiert.

Lenin sah die Beschränktheit der Demokratisierung im Frühjahr 1919, in-dem er feststellte, »daß die Sowjets, die nach ihrem Programm Organe der Verwaltung durch die Werktätigensein sollen, in Wirklichkeit Organe der Ver-waltungfür die Werktätigensind, einer Verwaltung durch die fortgeschrittene Schicht des Proletariats, aber nicht durch die werktätigen Massen selbst« (Werke, 29, 168 f. – hervorgh. v. HB). Er machte dafür das niedrige Kulturniveau verantwortlich, suchte aber die Einheit von Partei und Volk zu fördern. »Nach unseren Begriffen ist es die Bewußtheit der Massen, die den Staat stark macht.

Er ist dann stark, wenn die Massen alles wissen, über alles urteilen können und alles bewußt tun« (ebd., 26, 246).

Kaum war Lenin tot, so brachen die Diadochenkämpfe um die weitere Poli-tik, zwangsläufig auch um die Führung der Bolschewiki und somit des Staats offen hervor. Unter der Losung der »Einheit der Partei« siegte Stalin über Trotz-ki und andere Opponenten, wobei der von Lenin immerhin noch vertretene kollektive Führungsstil und die innerparteiliche Demokratie auf der Strecke blieben. Die permanente Gefährdung von außen, dazu noch die Spannungen, die sich aus dem hohen, sogar exzessiven Tempo der Umgestaltung ergaben,

begünstigten Führernaturen, insbesondere Durchpeitscher von der Art Jossif W. Stalins: eines Mannes von großer Willens-, Organisations- und Durchset-zungskraft – aber auch von unmenschlicher Härte und Skrupellosigkeit.

Die sichtlichen Erfolge, die unter seiner Partei- und Staatsführung erreicht wurden, steigerten sein offizielles Ansehen, seine Macht ins Unermeßliche.

Es gab schließlich überhaupt keine demokratischen Mechanismen mehr, die ihn bremsen oder von der wiederum absolutistischen Zentralgewalt entfer-nen konnten. Die Verherrlichung seiner Person widersprach allen Prinzipien des Marxismus-Leninismus. Sie war ein kaltschnäuziges Attentat auf die politische Vernunft, jedoch zelebriert als ein irrationaler Kultus staatlicher Demagogie.

Dabei hatte es an innerparteilicher Kritik auch in den 30er Jahren keines-wegs gefehlt – zumal die Kollektivierung der Landwirtschaft mit blutigen Re-pressalien und Massendeportationen einherging und sich Stalin dabei so schuftig verhielt, die eigene Verantwortung auf örtliche Funktionäre abzuwäl-zen. Doch der Staatsterrorist ließ seine Kritiker in unvorstellbarer Weise aus dem Wege räumen. Der Mord an ZK-Sekretär Kirow, der auf dem XVII. Par-teitag (1934) mehr Deputiertenstimmen als Stalin erhalten hatte, war der

»Reichstagsbrand« in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: der ver-brecherische, geheimnisvoll inszenierte Vorwand, die eigenständig denken-den Kader nicht mehr in Worten und Beschlüssen zu bekämpfen, sondern physisch zu vernichten. Auf der Grundlage einer sogenannten politischen Theorie, wonach sich der Klassenkampf mit dem Sieg des Sozialismus »ge-setzmäßig« verschärfe, wurden unzählige Kommunisten verfolgt. Fingierte Anschuldigungen, gemeine Denunziationen, unter der Folter erpreßte Ge-ständnisse waren die Zwangsmittel, sie als »trotzkistische Elemente« und

»Reichstagsbrand« in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: der ver-brecherische, geheimnisvoll inszenierte Vorwand, die eigenständig denken-den Kader nicht mehr in Worten und Beschlüssen zu bekämpfen, sondern physisch zu vernichten. Auf der Grundlage einer sogenannten politischen Theorie, wonach sich der Klassenkampf mit dem Sieg des Sozialismus »ge-setzmäßig« verschärfe, wurden unzählige Kommunisten verfolgt. Fingierte Anschuldigungen, gemeine Denunziationen, unter der Folter erpreßte Ge-ständnisse waren die Zwangsmittel, sie als »trotzkistische Elemente« und

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 133-149)