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Wie bewältigt man Vergangenheit?

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 193-200)

gime muß ich jedoch insofern einschränken, als ich seit 1956 im Umfeld von Bloch und Hans Mayer, Markov und Engelberg ein früher Anhänger der »Pe-restroika« war, meine Arbeitsgegenstände nach Inhalt und Form in der »Skla-vensprache« Heinrich Heines behandelt habe, wobei zwar mehrere Aufsätze und Bücher ganz oder zeitweilig verboten wurden, jedoch das offene Risiko des Berufsverbotes oder des Landesverweises für mich persönlich nicht als eine annehmbare Alternative erschien.

Ich bin (Jahrgang 1928) nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal aus Op-positionsgründen »nach Osten« gegangen, denke aber nach allen Irrungen und Wirrungen, denen humane Utopien ja stets ausgesetzt waren und sind, daß ein demokratisches und friedfertiges Europa von gleichstrebenden In-dividuen und Völkern nunmehr eine gute Perspektive des Lebens und der Arbeit sein könnte. In diesem Zusammenhang erscheint es mir als nicht ganz zufällig, daß wir uns auf der Moskauer Tagung zum historischen Friedens-erbe (1987), wo ich mit Fritz Klein die hiesige Wissenschaft vertrat, flüchtig be-gegneten. Abschließend möchte ich bemerken, daß ich mich zum Bochumer Historikertag angemeldet habe.

Mit freundlichen Grüßen Ihr Helmut Bock.

An Herrn Prof. Dr. Helmut Bock

Düsseldorf, 3. September 1990 Sehr geehrter Herr Kollege,

ich bedanke mich sehr für Ihr Schreiben vom 22. Juli 1990, das bedauerlicher-weise länger auf meinem Schreibtisch gelegen hat, als der Sache eigentlich dienlich wäre. Es versteht sich von selbst, daß die Historiker in beiden Teilen Deutschlands ein gemeinsames Interesse daran haben, daß die Einrichtungen und die Forscher der Geschichtswissenschaft in der DDR nicht unterschieds-los zusammengestrichen werden. Andererseits wird ein erfolgreiches Eintre-ten für die Interessen der Geschichtswissenschaft in der noch DDR unserer-seits nur dann möglich sein, wenn deutlich wird, daß unsere Kollegen in der DDR auch eine inhaltliche Revision ihrer Positionen anzustreben bereit sind, und zugleich jene, die innerhalb des bisherigen Wissenschaftssystems Schlüs-selpositionen eingenommen haben, ins zweite Glied zurücktreten.

Für Ihr Interesse an einer Mitgliedschaft im Verband der Historiker Deutschlands möchte ich sehr danken. Grundsätzlich würde ich meinen, daß eine Doppelmitgliedschaft in beiden Verbänden dann unbedenklich ist, wenn und sofern sich die Historiker-Gesellschaft der DDR neu orientiert; sie ist be-kanntlich als Gegenorganisation zum Verband der Historiker Deutschlands

begründet worden. Der Vorstand und Ausschuß des Verbandes der Historiker Deutschlands haben diese Frage auf der letzten Sitzung grundsätzlich erörtert und, zwar ganz unabhängig von Ihrem Schreiben, beschlossen, damit die nächste Mitgliederversammlung des Verbandes der Historiker Deutschlands, die am 26. September 1990 stattfindet, zu befassen. Ich selbst werde dabei dafür eintreten, daß der Mitgliedschaft von Historikern der ehemaligen DDR, gleichviel welchen Verbänden sie ansonsten angehören mögen, keinerlei Hin-dernisse in den Weg gelegt werden sollten. Unmittelbar nach Abschluß des Historikertages werde ich mir erlauben, auf Ihre Bitte zurückzukommen.

Ich verbleibe mit den besten Empfehlungen Ihr Wolfgang Mommsen.

An Prof. Dr. Helmut Bock

Düsseldorf, 16. November 1990 Sehr geehrter Herr Kollege,

ich hatte Ihnen zugesagt, unmittelbar nach dem Historikertag mich hinsicht-lich Ihrer Anfrage vom 20. Juli 1990 neu zu melden; im Drang der Geschäfte ist dies noch länger liegen geblieben, als wünschenswert wäre.

Der Verband der Historiker Deutschlands hat auf seiner zweiten Mitglie-derversammlung den folgenden Beschluß gefaßt: »Der Verband der Historiker Deutschlands hat anläßlich des 38. deutschen Historikertages die Frage der zukünftigen Zusammenarbeit mit den Historikern der ehemaligen DDR ein-gehend erörtert. Er sieht es als eine der wesentlichen Aufgaben der Zukunft an, auf eine grundlegende Neuorientierung der Geschichtswissenschaft in der DDR hinzuwirken. Er begrüßt es, daß dem Beitritt von Historikern aus der DDR keine staatlichen Hindernisse mehr im Wege stehen. Der Verband der Historiker Deutschlands steht wie bisher entsprechend seinem Selbstver-ständnis und im Rahmen seiner Satzung Historikerinnen und Historikern aus der DDR offen. Der Verband erwartet, daß Historikerinnen und Historiker, die sich durch Ihre Tätigkeit im Dienst des SED-Regimes kompromittiert haben, keinen Antrag auf Beitritt stellen.«

Dies bedeutet, daß der Verband der Historiker Deutschlands grundsätzlich für Historiker aus der DDR offen steht und diese einen entsprechenden An-trag beim Schatzmeister des Verbandes […] stellen können. Die Probleme, die ich in meinem letzten Schreiben vom 3. September ansprach, sind ja, wenn ich recht sehe, im wesentlichen ausgeräumt, insofern als die Historiker-Gesell-schaft der DDR nunmehr ihre Tätigkeit eingestellt hat. Unter diesen Umstän-den ist es um so wünschbarer, daß Kollegen aus der ehemaligen DDR dem Verband beitreten, was ja der Handlungsfähigkeit gerade im Hinblick auf die

neuen Bundesländer förderlich sein würde. Ich verhehle freilich nicht, daß ich über Ihren Artikel im »Neuen Deutschland« [siehe: »In welcher Zeit leben wir« – HB] insofern etwas irritiert war, als darin, zumindest mittelbar, die The-se vertreten wird, daß die Öffnung der Mauer besThe-ser nicht hätte erfolgen sol-len und Egon Krenz in dieser Sache unautorisiert gehandelt habe. Aus unserer Sicht haben die Bürger der DDR spätestens seit dem Herbst des letzten Jahres unzweifelhaft mit ihren Füßen gegen die Mauer votiert, und man darf darin gewiß ein demokratisches Votum sehen; mehr ist dies natürlich dann mit der Wahl vom März des Jahres gegeben gewesen. Gewiß ist es eine naheliegende Erwägung, daß die Entwicklung zu einem demokratischen Sozialismus in der DDR durch diese Ereignisse verhindert worden ist, aber Ihr Artikel erweckt den Eindruck, als ob Sie die demokratische Entscheidung zugunsten der deut-schen Einheit als solche als nicht legitim empfinden. Diese Auffassung, die ich möglicherweise irrtümlich aus Ihrem Artikel herausgelesen habe, dürfte nun allerdings bei unseren Kollegen hier in Westdeutschland auf einige Irritation stoßen. Vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen dieses in aller Offenheit schreibe; nur eine wirklich offene Ausdiskutierung der unterschiedlichen Standpunkte kann, wie ich meine, zu einer nicht nur äußerlichen Einheit der beiden Teile Deutschlands führen.

Für heute mit den besten Grüßen Ihr Wolfgang Mommsen.

An Prof. Dr. Wolfgang Mommsen

Berlin, 14. Dezember 1990 Sehr geehrter Herr Mommsen,

daß Sie mir bei der großen Fülle der Geschäfte als Präsident, Hochschullehrer und Forscher gleichwohl ausführlich und geduldig fragend geschrieben ha-ben – danke ich Ihnen sehr. Selbstverständlich bin ich bereit, die politischen Prämissen zu erklären, die im erwähnten ND-Artikel meine Behandlung der

»DDR-Grenzfrage« immanent bestimmt haben.

1. Wie Sie gewiß dem Text entnommen haben, erwartete ich in rund drei-einhalb Jahrzehnten, insbesondere seit 1985, die Ablösung des totalitären Re-gimes. Doch tat ich dies von der Position eines gedachten »demokratischen Sozialismus«. Ich hoffte, man könnte im Zuge der Entmachtung der zentrali-stisch-bürokratischen Führungsorgane und der Staatssicherheit zu einem So-zialismus gelangen, der im sozialen, politischen, kulturellen Wettstreit mit der BRD alternative Lebensformen hervorbrächte und somit zur Milderung der globalen Probleme beitrüge. Mit dieser Haltung gelangte ich in den Aufbruch des Herbstes 1989 und wirkte dort als einer unter vielen aktiven Teilnehmern.

Die Bürgerbewegungen der demokratischen Linken (ich nenne sie im Artikel) erstrebten trotz mancher Differenziertheit eine Volks-Demokratie, und sie benötigten Zeit, um sich während des Ringens für den Sturz des Regimes zu organisieren, miteinander zu klären und um politisch-rechtliche Novationen zu begründen.

Letzteres läßt sich mit den beiden folgenden Zielsetzungen ausdrücken: In der Innenpolitik sollte ein Verfassungsentwurf des »Runden Tisches« die Menschen- und Staatsbürgerrechte gemäß den gewachsenen Erfordernissen unserer Zeit fixieren; der Entwurf sollte das Beispiel des Bonner Grundgeset-zes beachten, im Sinne des staatsrechtlichen Fortschritts aber auch weiter-führen, um ihn sodann öffentlich zur Diskussion und Volksabstimmung zu stellen. In der Außenpolitik hielt die Revolutionsbewegung, die selbst nur mit friedlichen Mitteln kämpfte, auch völkerfreundliche Vorleistungen und Be-dingungen zugunsten einer entschiedenen Abrüstung, sogar Entmilitarisie-rung in der Mitte Europas für angezeigt. Um solcherart Novationen in mög-lichst gleichberechtigte Verhandlungen zwischen Repräsentanten der DDR und der BRD einzubringen, war das Endziel der deutschen Wiedervereini-gung an die gewünschten, bekanntlich auch vorgeschlagenen Eröffnungsstu-fen einer Vertragsgemeinschaft und Konföderation geknüpft. Alle diese Maß-nahmen in der schrittweisen Selbsterneuerung und nationalen Vereinigung hätten im vorigen Winter jene »einstweilige Souveränität«, jene »vernunft-gemäße Verhandlungs- und Kooperationsfähigkeit des Landes« erfordert, von der in meinem Artikel die Rede ist. Die etwaigen Möglichkeiten scheiterten je-doch, indem Krenz, der amtierende Kopf des alten Regimes, die Grenze be-dingungslos öffnete: Nicht bloß (wie er wohl dachte) für den freizügigen Rei-severkehr, dessen Zulassung seit jeher notwendig, also überfällig war. Indem er die Öffnung ohne jegliche staats- und völkerrechtliche Absprache, ohne spezielle Legitimation durch die Volkskammer, ohne Vereinbarungen zwi-schen DDR, BRD und den in Berlin anwesenden Vertretungen der Sieger-mächte von 1945 vollzog, lieferte er das Territorium mitsamt der Erneue-rungsbewegung allen Einmischungen von außen her aus. So zeitigte die kaum durchdachte, in ihren Folgen nicht kalkulierte Maßnahme eben jene irreversi-blen Wirkungen, die den Versuch einer volks-demokratischen Revolution zu-nichte machten.

2. Vom Standpunkt einer Erneuerungsbewegung, die sich selbständig durchkämpfen und in adäquaten Resultaten ausweisen wollte, war einstwei-lige DDR-Souveränität auch infolge politischer Haltungen der Bonner Regie-rung und der westdeutschen Rechtslage zu wünschen. Viele Grundrechte und soziale Errungenschaften des werktätigen Volkes waren und sind nicht garan-tiert. In der Außenpolitik existierte eine Fragwürdigkeit, die gerade vor den Erfahrungen der von mir betriebenen Friedens- und Konfliktforschung neu-ralgisch erscheinen mußte: Der regierende Kanzler verweigerte fortdauernd

die definitive Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens – ein Hindernis auf dem Weg zu endgültiger Völkerfreundschaft in Europa, ein In-diz, daß in Bonn noch immer nicht mit Entschiedenheit friedenspolitisch ge-handelt wurde. Welche weiteren Unwägbarkeiten, etwa einer hegemonialen NATO-Strategie, einer innenpolitischen Abschottung gegenüber einem Mehr an Demokratie, mochten sich dahinter verbergen? Kurz – eine Erneuerungs-bewegung mit souveräner Volksvertretung hätte, so war zu denken, in pa-ritätischen Verhandlungen auf dem Weg zur Einheit Deutschlands aktuelle Weiterungen der Demokratie und der Friedenspolitik verfechten, bei genü-gend Öffentlichkeit vielleicht gar bewirken können.

Die Art und Weise der Grenzöffnung begünstigte die schnelle Wiederverei-nigung nach den alleinigen Grundprinzipien der BRD. Das mag heute von der CDU, den ihr nahestehenden Parteien und Wählern mit Zufriedenheit quit-tiert werden. Es bleibt aber – im Spektrum der Meinungen – doch wohl mög-lich, die Vor- und Nachteile des Geschehens auch nach den Interessen der ge-scheiterten »deutschen Oktoberrevolution«, die ja der Demokratie nicht feind-lich sind, öffentfeind-lich zu bedenken.

3. Egon Krenz sieht sich in seinem Buch »Wenn Mauern fallen«, mehr noch in wiederholten Interviews und Ansprachen für Medien und auf Veranstal-tungen der BRD als ein Staatsmann, dessen Leistung darin besteht, Europa von dem feindlich trennenden Grenzwall befreit zu haben. Das könnte leicht zu einer Aureole gedeihen, die der Vielzahl von Anmaßungen und Legenden noch eine weitere Irritation hinzusetzt. Es liegt mir daran, zu interpretieren, daß Krenz nicht als Demokrat, sondern als totalitärer Machthaber handelte.

In der Presseerklärung zu meinem ND-Artikel , die im selben Organ publi-ziert worden ist, betont Krenz, daß die Grenzöffnung keine »jähe Entschei-dung«, sondern ein Resultat mehrtägiger Erwägungen und daß er in seiner Machtstellung befugt gewesen sei, die folgenreiche Anordnung zu treffen.

Selbst im Abstand eines Jahres also vermag sich Krenz nicht hinreichend kri-tisch, nicht anders als in seiner zentralistisch-bürokratischen Machtvollkom-menheit zu spiegeln. Es genügt ihm, das »Reisegesetz« vor dem Zentral-komitee verlesen, sodann kraft der undemokratischen Dreieinigkeit als SED-Generalsekretär, Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des nationalen Ver-teidigungskomitees entschieden zu haben. Daß dieser Vorgang keineswegs demokratisch, noch weniger »staatsmännisch« war, bezeugen die Fakten sei-nes eigenen Buches und weit mehr noch die kritisch-selbstkritischen Darle-gungen von Günter Schabowski im Interview-Band »Das Politbüro«.

Krenz war der bürokratisch gewachsene Apparatschik, der das unsinnige System als höchster Systemrepräsentant in die Absurdität der Selbstvernich-tung führte – er verschönt diese Rolle aber zu einer freiheitlichen Entschei-dung, die in Europa die Mauern fallen ließ. Die Mauer wäre auch ohne ihn ge-stürzt. Dafür bürgen die objektiv globalen Erfordernisse unserer Zeit und die

steigende Bewußtwerdung von Millionen Menschen, die unter Bedingungen festungsmäßiger Selbstisolierung und militant organisierter Kommandoge-walten nicht mehr leben wollen.

Dies also, verehrter Herr Präsident und Kollege, sind die Gedanken, die mich bei der Abfassung des besagten Textes, übrigens auch meines Vortrags in Bonn [siehe: »Was ist des Deutschen Vaterland?« – HB], bewegten. Es sind die Überlegungen eines einzelnen Menschen in der weit größeren Demokratiebe-wegung, die die Losungen des Herbstes 1989 beseelte, aber nun nicht zu den aktuellen »Siegern der Geschichte« zählt.

Ich danke Ihnen, daß Sie mich zur Erklärung angeregt und ermutigt haben, weil es doch nötig ist, voneinander zu wissen, mit welch vielen und natürlich auch verschieden erlebten Ideen, Bestrebungen, Erfahrungen wir deutsche Hi-storiker heute und morgen aufeinander zugehen werden.

Mit freundlichen Wünschen grüßt Sie Ihr Helmut Bock.

An Prof. Dr. Helmut Bock

Düsseldorf, 7. Januar 1991 Sehr geehrter Herr Bock,

vielen Dank für Ihren ausführlichen Brief vom 14. Dezember, den ich, nach-dem die Weihnachtstage gekommen sind, mit etwas mehr Ruhe beantworten kann, als mir sonst wohl möglich wäre.

Ich nehme Ihre zusätzlichen Informationen gerne zur Kenntnis, doch fürch-te ich, daß damit der grundsätzliche Dissens, der zwischen uns besfürch-teht, ei-gentlich doch noch nicht ausgeräumt ist. Bitte gestatten Sie mir, dies noch ein wenig näher darzulegen. Auch ich gehöre zu denen, die es durchaus für ak-zeptabel angesehen haben würden, wenn in der DDR eine demokratische Be-wegung zum Zuge gekommen und demgemäß der zweite deutsche Staat in einen freiheitlich-demokratischen Staat verwandelt worden wäre. Demge-genüber war die Frage der »Wiedervereinigung« oder, wie ich gemeinhin sage, der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ziemlich nachrangig, auch wenn sich dann vermutlich sehr bald zumindest föderative Strukturen hätten ausbilden müssen. Ich habe auch große Sympathie für die Bürgerbewegungen auf der Linken, wie sie sich seit 1988 in der ehemaligen DDR etabliert haben;

zumal sie es waren, allerdings aufgrund der außenpolitischen Entwicklungen, die dann die Änderung des politischen Systems durchgedrückt haben. Aber, mir scheint, es ist eines, den Sieg eines demokratischen Sozialismus in der DDR zu wünschen, und ein anderes, den Willen der breiten Mehrheit der

Bür-ger der DDR zu respektieren. Diese aber waren nicht an der Etablierung eines demokratischen Sozialismus, welcher Art auch immer, in der DDR interes-siert, sondern an einer möglichst raschen Einigung beider deutscher Staaten, weil sie nur auf diese Weise eine baldige Verbesserung der ökonomischen, so-zialen und politischen Verhältnisse in der DDR erwarten konnten. Was wir seitdem über die tatsächlichen Verhältnisse in der DDR erfahren haben, scheint mir diese Ansicht der großen Mehrheit der Bürger der DDR voll zu be-stätigen; tatsächlich hatte das System des realen Sozialismus in einem solchen Maß politisch, moralisch und nicht zuletzt auch ökonomisch abgewirtschaftet, daß es an Utopismus grenzt, glauben zu wollen, daß, sofern Herr Krenz die Mauer noch ein wenig länger hätte bestehen lassen, die Chance gegeben ge-wesen wäre, die Selbständigkeit der DDR zu retten. Die Wahrheit ist, und Sie sollten dies, wie ich finde, nolens volens anerkennen, daß die große Mehrheit der Bürger der DDR überhaupt kein Interesse mehr daran hatte, die Selbstän-digkeit der DDR zu erhalten, unter gleichviel welchen Bedingungen auch im-mer. Sie votierten, wie wir alle gesehen haben, in eindrucksvoller Weise mit ihren Füßen, und die Öffnung der Grenze war nur eine der Konsequenzen die-ser Tatsache. Daß Krenz dieses »unautorisiert« vorgenommen hat, scheint mir zwar den Grad der inneren Korrumpierung des ehemaligen SED-Regimes schlaglichtartig zu beleuchten, kann aber nichts an der Tatsache ändern, daß es die Bürger der DDR selbst waren, die diese Entwicklung gewollt haben; mir scheint es nach wie vor unvertretbar, daß Sie glauben, daß an dieser Tatsache nachträglich noch gerüttelt werden könnte. In gewisser Weise wird man sagen dürfen, daß es die Bürger der DDR waren, die den Bürgern der Bundesrepu-blik Deutschland eine schnelle Wiedervereinigung nach den im Westen gülti-gen Grundprinzipien oktroyiert haben, und nicht umgekehrt. Was die Bürger der Bundesrepublik anging, so haben sie diese Entwicklung keineswegs un-eingeschränkt mit Begeisterung zur Kenntnis genommen, wie Sie zu sugge-rieren scheinen; sondern eher mit sehr großer Nüchternheit, zugleich aber mit dem Gefühl der Solidarität mit den Bürgern der DDR.

Sie sollten sich vielleicht doch klarmachen, daß für das von Ihnen vertrete-ne Alternativmodell, nämlich eivertrete-ner schrittweisen invertrete-neren Regevertrete-neration und Demokratisierung der DDR, der geeignete Zeitpunkt längst vorbei war. Wir sehen immer deutlicher, in welchem Ausmaß das bisherige System wirt-schaftlich und politisch am Ende war. Ich kann nicht sehen, welche Grund-rechte den Bürgern der DDR, die sie zuvor wirklich und realiter besessen hät-ten und nicht bloß auf dem Papier, durch die Vereinigung der beiden deut-schen Staaten verloren gegangen seien; und was die sozialen Errungenschaf-ten des werktätigen Volkes angeht, wie Sie schreiben, so war für jedermann klar, daß das in der DDR bestehende Sozialnetz nichts mehr und nichts weni-ger als die Verwaltung von immer größerer Armut darstellte und keineswegs eine Garantie für ein menschenwürdiges Leben. Der in bestimmten Bereichen

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