• Keine Ergebnisse gefunden

Pazifismus und Marxismus

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 83-95)

Historisches Friedenserbe (1987)

Vor genau einem Jahrhundert sehen wir in den fortgeschrittenen Ländern Europas eine stürmische Entwicklung der Fabrikproduktion, des Verkehrs-und Nachrichtenwesens, der Wissenschaften Verkehrs-und Technologie: ein Wachstum der Industriegesellschaft, deren Basis durch die weithin vollzogene Industri-elle Revolution vorgegeben war. Es herrscht die Hoch- und Endzeit des Kapi-talismus der freien Konkurrenz, in der das große Kapital bereits beginnt, sich in Monopolvereinigungen der Industrie und der Banken zu konzentrieren.

Zugleich aber waren mit Konstituierung und Festigung der bürgerlichen Nationalstaaten auch deren gewaltsam ausgetragene Gegensätze gewachsen:

militärische Regionalkonflikte. Seit dem Beginn des Krimkriegs, der Rußland (das letzte Bollwerk des Feudalsystems) aus der Arena der führenden Großmächte warf, erschütterten siebenmalige Heerzüge und Blutstürze die Staatenwelt Europas (1853/56, 1859, 1864, 1866, 1870/71, 1877/78, 1885/86).

Ganz zu schweigen von jenen Metzeleien, die, wie die englischen und franzö-sischen Kolonialkriege in Asien und Afrika, der ungemein verlustreiche Se-zessionskrieg in den USA, andere Erdteile mitsamt ihren Bevölkerungen heimsuchten. Viele Jahrzehnte nach den Kriegen der napoleonischen Ära wur-de die Alternativfrage »Krieg owur-der Friewur-den?« wiewur-der zum dauernwur-den Alp-druck all derer, die den humanen Geist der Aufklärung empfangen hatten und einen Gesellschaftszustand des Fortschritts, der Gerechtigkeit, des Völkerfrie-dens wünschten.

Da nun die Große Französische Revolution zum hundertsten Male sich jähr-te und die von ihr ausgehende Herrschaft der Bourgeoisie sich mit der Pariser Weltausstellung und der Errichtung des Eiffelturms, des damals höchsten Bau-werks der Erde, ein schillerndes Fest gab, wiesen bürgerliche Friedensfreunde auf die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Die populäre Losung »Liberté! Égalité! Fraternité!« noch immer beim Wort nehmend, erin-nerten sie daran, daß damals eine neue, friedvolle Menschheitsära verheißen worden war. Das geschah auf dem Pariser Weltfriedenskongreß, der vom 23.

bis zum 27. Juni 1889 tagte (wenige Wochen vor dem Arbeiterkongreß, der die Zweite Internationale begründete). Einzelkämpfer und Abgesandte von rund hundert Gesellschaften, Vereinen, Zirkeln, Freundesgruppen leiteten bislang verstreute Rinnsale aus Europa und den USA in ein Strombett hinüber. Zählen die älteren Bemühungen um kosmopolitische Friedenspropaganda und Kom-munikation gewiß zur Frühgeschichte des Pazifismus, so entstand mit dem Pa-riser Weltfriedenskongreß die moderne bürgerliche Friedensbewegung.

Vermeidung von Kriegen und Anerkennung interstaatlicher Schiedsverträ-ge zwecks friedlicher Schlichtung von Konflikten das war und blieb der

Kerngedanke, für den sich die Verfechter der Friedensideen zielstrebiger organisierten: durch den Aufbau nationaler Vereinigungen und eines interna-tionalen Zentralbüros, die Veranstaltung periodischer Kongresse, die Verbrei-tung wirksamer Friedensschriften. Diese allgemeine Antikriegs- und Kongreß-bewegung verstärkte sich durch eine gleichzeitige Interparlamentarische Kon-ferenz, an der in Paris insgesamt 97 Abgeordnete der Nationalparlamente Frankreichs (55), Englands (30), Italiens (5), Spaniens, Belgiens, Dänemarks, Ungarns, Griechenlands, Liberias und der USA (je 1) teilnahmen.

Wie sehr diese Bewegung entschlossen war, die Beschränktheiten national-staatlicher Interessen und unfriedlicher, aber patriotisch verhüllter Chauvinis-men zu überwinden, offenbarte im folgenden Jahr schon der Friedenskongreß in London. Seine Beschlüsse vermitteln eine genaue Programmatik der ge-wünschten Erneuerung. Abermals finden wir die deklarierten Verheißungen von 1789 zum Maßstab internationaler Politik erhoben: »Die Brüderlichkeit zwischen den Menschen bedingt die Brüderlichkeit zwischen den Völkern.«

Gemäß dieser ethischen Prämisse sollten die Friedensorganisationen eine ge-sicherte Rechtsordnung aller Staaten und Völker erstrebenund dies mit sol-cher Konsequenz, daß nicht nur der Krieg zwischen den »Kulturvölkern«, sondern auch die Aggressionen der Kolonialmächte zurückgewiesen, der Schutz »eingeborener und unentwickelter Rassen gegen jeden Mißbrauch der Gewalt und gegen die Laster der sogenannten fortgeschrittenen Nationen«

proklamiert wurde. Als erste Schritte auf dem Weg zur Welt-Friedens-Ord-nung galten staatliche Neutralitätserklärungen, gleichberechtigte Handels-beziehungen, internationale Vereinheitlichung der Maße und Gewichte, der Tarife und Währungen, der Transportwege, des Post- und Telegrafenverkehrs zur Förderung eines »völkerverbindenden Freihandels«. Vor allem erstand wiederum die Forderung nach Schiedsverträgen zwischen den Staaten und Gründung von unabhängigen Gerichten, denen die Aufgabe obliegen sollte, politische Streitigkeiten, die zum Krieg führen konnten, zu schlichten. Kein in-ternationaler Vertrag sollte von den Nationalparlamenten gebilligt werden, der nicht die Schiedsklausel enthielt.

Weil aber die idealen Entwürfe und Resolutionen vor dem düster-realen Hintergrund unablässiger Aufrüstungen erfolgten, konnte auch der Abrü-stungsgedanke nicht fehlen: Die »Kulturwelt« erwarte ungeduldig den Ver-zicht auf Rüstungen, weil sie den Frieden gefährdeten und überdies eine Ur-sache wirtschaftlicher Bedrückung seien. Europas Staatsführungen sollten auf einem Kongreß zusammentreffen, um Maßnahmen für allgemeine und all-mähliche Abrüstung zu beraten.

Der Londoner Friedenskongreß ermutigte die Friedensgesellschaften auch zu aktiver Propaganda gegen militärisches Denken, das »häufig die Ursache der Kriege« sei. Bei nationalen Parlamentswahlen sollten die Wähler nur für Anhänger des Friedens, der Abrüstung und des Schiedsgerichts stimmten.

Abgesehen davon, daß insbesondere Frauen und Lehrer des Religionsunter-richts angesprochen wurden, für die »Prinzipien des Friedens und des Wohl-wollens unter den Menschen« einzutreten, richtete sich eine unmittelbare Auf-forderung an die Geschichtslehrer: Sie sollten die Jugend über die Übel auf-klären, die der Menschheit zu allen Zeiten durch den Krieg zugefügt wurden, und lehren, Friedensaktionen zu unterstützen. Anstatt »militärischer« Zurich-tung würden »physische und friedliche Übungen« für die Schuljugend weit dienlicher sein.

1.

In diese internationale Bemühung der Friedensfreunde, die ein Bedürfnis nach hochwirksamen Mitteln trugen, um den Geist des Militarismus, die Politik des Wettrüstens und des Kriegsrisikos zu bekämpfen, trat plötzlich ein Buch, das für den Pazifismus von epochemachender Bedeutung wurde. Die Österrei-cherin Bertha von Suttner veröffentlichte im Dresdner Verlag E. Pierson gera-de zum Jubiläumsjahr 1889 einen Roman, gera-der zum Bestseller wergera-den sollte:

»Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte.« Schon der thematische Titel ver-lieh dem Pazifismus seinen bündigsten und wirksamsten Streitruf.

Es war eine Frau, die den geistigen Aufstand gegen Nationalismus und Chauvinismus, gegen die militaristischen Ideologien der Staaten Europas wagte. Ihr galt der Krieg nicht als »Vater aller Dinge«, nicht als »Erwecker der schönsten menschlichen Tugenden« und »wichtigster Faktor der Kulturent-wicklung«. Was die sogenannte öffentliche Meinung wie eine geheiligte Insti-tution behandelte, entlarvte sie als »gräßlichste Form des Menschenjammers«, als Völkermord und politisches Verbrechen. Hier verblaßte die Glorie der Heerführer und Schlachtengewinner, die von zahllosen Literaten als die »vor-züglichen Träger der Geschichte, die Lenker der Länderschicksale« verherr-licht wurden. Diese Schriftstellerin appellierte mit allen Mitteln rationaler Ar-gumente und emotionaler Aufwiegelung an die Zeitgenossen, ihre Regierun-gen in die Pflicht zu nehmen und »des Volkes Willen« zur Geltung zu brinRegierun-gen.

»[…] Das Volk will die produktive Arbeit, will die Entlastung, will den Frie-den«, heißt es im »Epilog«.

Durch das Studium philosophischer und historischer, naturwissenschaftli-cher und technologisnaturwissenschaftli-cher Literatur war Bertha von Suttner nicht ohne ge-gründete Erkenntnisse. Zur längst erfahrenen humanistischen Bildung waren die Ideen Darwins, Haeckels, des englischen Geschichtsphilosophen Henry Thomas Buckle gekommengeistige Quellen, aus denen sie den Gedanken der »Evolution«, der stetigen Entwicklung von Natur und Gesellschaft schöpf-te. Den Aufstieg der Menschheit sah sie als einen Kulturfortschritt, der vor-nehmlich dem Entdeckergeist der Wissenschaften und ihrer technischen Nutz-anwendung entsprang. »Maschinenalter«, gedacht als Gegenbegriff zum

»Mittelalter«, so nannte sie ihre Epoche, benutzte sie diesen Zeitalterbegriff

auch als Titel einer populärwissenschaftlichen Abhandlung, die ihrem Friedens-buch noch im selben Jahr 1889 voranging. Auf dem Gebiet der Maschinen, überhaupt der technischen Erfindungen, erschien ihr »kein Gedankenflug zu hoch«, erblickte sie die Menschheit »an der Schwelle neuer Umwälzungen« schon deutlich erkennbar durch Elektrizität, Telegraf und Telefon, demnächst gar Television. Sie glaubte bei alledem an eine Ratio in der Geschichte, die Ver-nunft der Humanität, die sich durch Denken und Tat bedeutender Menschen gegen alle Widerstände durchsetzen werde. Daran knüpfte sie die Überzeu-gung notwendiger Gerechtigkeit: »Alle Ungerechtigkeiten, alle Mißstände in den sozialen Verhältnissenals da sind: Sklaventum, Arbeiterelend u. dgl. beruhen auf irgendeiner fundamentalen Ungerechtigkeit, auf irgendeinem von den Menschennicht von der Naturbegangenen Fehler. Und Fehler las-sen sich gutmachen, Irrtümer laslas-sen sich berichtigen.«

Dieser Fortschrittsglaube, mit dem die Literatin die Aufklärung des 18. Jahr-hunderts beerbte, wurde aber durch schlimme Einsichten verfinstert. Suttner erkannte, daß »alle Errungenschaften des neuen Geistes« von Barbaren der modernen Gesellschaft ausgenutzt, »alle Fortschritte der Technik sogleich für Mord- oder Vertilgungszwecke« mißbraucht wurden. Kriegsdrohung und Kriegsvorbereitung erschienen ihr als Hauptproblem der zeitgenössischen Ge-sellschaft, die mit der Feudalordnung vergleichbar sei: Der »Militarismus«

habe im »Maschinenalter eine solche Höhe und Blüte erreicht, wie im Mittel-alter die Kirchenmacht«. Im Klima der Staatsrivalitäten, der Wehrhaftma-chung und Verhetzung der Völker sah diese Frau ein Militärwesen und eine Waffentechnik wuchern, die bereits jetzt alles Bisherige übertrafenbald aber mit geradezu sinnwidriger und verheerender Zerstörungskraft gegen die Menschheit entfesselt würden.

Es war ein kontinentaler Krieg, den sie am politischen Horizont gewahrte und in warnenden Visionen beschrieb: »[…] Jedes Dorf eine Brandstätte, jede Stadt ein Trümmerhaufen, jedes Feld ein Leichenfeld und noch immer tobt der Kampf: unter den Meereswellen schießen die Torpedoboote, um mächtige Dampfer in den Grund zu ziehen, in die Wolken steigen bewaffnete und be-mannte Luftschiffe einer zweiten äronautischen Truppe entgegen […].« Dies werde, so urteilte die Schreiberin, der herandrohende »nächste«, der »große«, der »letzte Krieg des zivilisierten Europa« sein. Käme er aber um einiges später als man befürchtete, so werde der Mißbrauch des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu noch schlimmeren, nämlich totalen Vernichtungs-waffen führen: Zu weittragenden Schnellfeuergeschützen mit »500 Schuß in der Minute«. Zu elektrischen Mordmaschinen, die »mit einem Schlage ein ganzes Heer vertilgen«. Zu »Sprengstoffpillen, die, aus Wolkenhöhen herun-terregnend, in ein paar Minuten eine Stadt zertrümmern«.

Streift solcherart Warnphantasie auch die Konstruktionen des Science-fiction, so wissen wir Heutigen doch, daß diese Freundin Alfred Nobels die

tenden-zielle Entwicklung der Kriegstechnik damals keineswegs falsch einschätzte.

Vor allem stimmte die welthistorische Folgerung: »[…] Ein Zusammenbruch des anwachsenden Wehrwahnsinnes in kurzer Frist war unvermeidlich. Jener Punkt, wo alles, was ist, aufhören mußder Punkt der Unerträglichkeit näm-lich –, von dem war die Waffenbelastung der Welt nicht mehr fern. Aller Reichtum, alle Volkskraft, alles Leben nur auf ein ZielVernichtung hin-gelenkt: ein solches System muß endlich entweder die Menschheit oder sich selber vernichten.«

Frieden oder Krieg? Leben oder Vernichtung? Erst als Suttner diese Schick-salsfrage der Menschheit erkannte und nach humanen Konfliktlösungen such-te, erfuhr sie von der Existenz zweier Frühbewegungen des Pazifismus: der seit 1867 bestehenden »Ligue internationale de la Paix et de la Liberté« mit dem Hauptsitz in Genf und der jüngeren, 1880 gegründeten »International Ar-bitration and Peace Association«, die neben dem Hauptsitz in London auch nationale Zweigvereine in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Ungarn, Norwegen, Schweden, Dänemark und den USA unterhielt. Die Lite-ratin übernahm diese Information noch in die Druckfahnen ihres »Maschinen-alters«. Sie vertrat dort selbst die bislang aktuellen Vorschläge des Pazifismus:

Abrüstung und Schiedsgerichte. Da sie nun einmal die Menschheitsgefähr-dung erkannt hatte, verschrieb sie sich ganz dem Lager der Friedenskämpfer, obwohl diese von militaristischen Gegnern als »Vaterlandsverräter« und

»Friedensbestien« verleumdet wurden. »Der Friedensliga wollte ich einen Dienst leisten wie konnte ich das besser tun, als indem ich ein Buch zu schreiben versuchte, das ihre Ideen verbreiten sollte? Und am wirksamsten, so dachte ich, konnte ich das in Form einer Erzählung tun. Dafür würde ich si-cherlich ein größeres Publikum finden als für eine Abhandlung.« Also schrieb Bertha von Suttner »Die Waffen nieder!«

Der Roman ist die fiktive Autobiographie einer österreichischen Gräfin, Martha Althaus, die in Böhmen lebt und in die Militärkonflikte ihrer Zeit hineingerät: vier Kriege von 1859 bis 1871. Wie das adlige Fräulein in einer Generalsfamilie reaktionär und kriegsgläubig erzogen wird, zweimal heira-tet, beide Männer und ihr Kind in den Kriegswirren verliert und schließlich die peinliche Frage nach dem Sinn des Kriegs stelltund wie sie dann von ei-ner Kriegsbefürworterin zur Kriegsgegei-nerin wird, eben das ist der Hergang des Buches.

Kühle und vernünftelnde Kritiker, im Lager des Antimilitarismus selbst Carl von Ossietzky, haben gerügt, daß hier nicht ohne Sentimentalität, phan-tasievolles Mitleiden, schmerzhafte Empfindungen erzählt wird. Aber Sutt-ners Grundhaltung ist unverbrüchlich der Vernunft, dem Rationalismus ver-bunden. Rational ist die stetige Argumentation gegen militaristisch gefärbte Zeitphrasen, Traditionsbilder, Geschichtsdeutungen. Rational ist das Arrange-ment des Ganzen, insbesondere die Verflechtung des Fiktiven mit den

au-thentischen Zeugnissen des erzählten Weltausschnitts. Denn Suttner hatte ge-naue Studien betrieben, Archive und Zeitungen gesichtet, Kriegsberichte und Geschichtswerke ausgewertet, Augenzeugen befragtbevor sie deren pseu-dopatriotische Phraseologie wider den Strich bürstete, um auf die Verherr-lichungen des Kriegs mit entschiedener Kriegsverneinung zu antworten.

Geschult am literarischen Naturalismus, nicht zuletzt an den Elendsschilde-rungen Émile Zolas, konfrontierte sie die schönfärbende Staatsräson und Kriegsromantik mit dem Leiden und Sterben der Individuen, die nur ein einziges Leben haben und unwiederbringlich zugrunde gehen. So nahm die Erzählerin Elemente einer Schreibweise vorweg, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in der französischen und deutschen Antikriegsliteratur von Henri Barbusse bis Arnold Zweig, Ludwig Renn und Erich Maria Remarque auf ei-ner höheren Stufe persönlicher Kriegserfahrung und literarischer Umsetzung herausbilden sollte. Jedoch die sensitive Radikalität der Antikriegshaltung in Suttners Roman resultiert aus der bis heute seltenen, bei Christa Wolfs »Kas-sandra« wiedererscheinenden Erzählperspektive nämlich der einer vom Krieg betroffenen, am Krieg leidenden Frau. Sie entmystifizierte den Krieg als ein von den Herrschenden gemachtes und zu verantwortendes Verbrechen ge-gen die Menschheit.

Die Autorin stritt nicht nur gegen die hochorganisierten Staatsgewalten. Sie sah sich auch weltweit verbreiteten Bibliotheken gegenüber, die mit Schriften kriegerischen Inhalts angefüllt waren: den nationalen Kriegsgeschichten und Heldenleben, der nationalistischen Erbauungsliteratur und Traditionspflege, den Lehrbüchern der Militärwissenschaft und Kampftechnik, den Leitfäden der Rekrutenausbildung und Truppenführung, des Waffengebrauchs und der Ballistik, den Generalstabsberichten und Schlachtchroniken, den Sammlungen der Soldatenlieder und Kriegsbräuche. Gegenüber dieser ungeheuren Litera-turmasse des Kriegs erinnerte Suttner an historisches Friedenserbe wertvol-les Gut der Weltliteratur, aber in ein »paar Heftchen« zu sammeln, so daß ein Friedensfreund kleinmütig werden könnte, wenn er Kraft und Zukunftsträch-tigkeit nur nach literarischen Quantitäten messen wollte. Um den Leser mit Friedensideen der Vergangenheit bekannt zu machen, ließ die Autorin ihre Romangestalten an Aristophanes, Sokrates, Terenz, Cicero, Virgil denken, an Größen der Antike, die auf Humanität und friedliches Leben gerichtet gewe-sen waren. Sie nannte Projekte friedenstiftender Fürsten- und Staatenbünde, entworfen von dem Hussitenkönig Georg Podiebrad, von den Franzosen Hen-ry Quatre und Sully. Sie skizzierte die Linie des Fortschrittsdenkens und der Friedensutopien, die von Abbé de Saint-Pierre über Voltaire zu Kants Traktat

»Zum ewigen Frieden«, sogar weiter zu den französischen Sozialisten Saint-Simon und Fourier führt. Sie vergaß auch nicht die nordamerikanischen Quäker und Kriegsdienstverweigerer seit William Penn, die englischen Völ-kerrechtler und Freihandelspropagandisten seit Jeremy Bentham. In sehr

be-wußtem Kontrast zu Generalfeldmarschall Moltkes berüchtigter Sentenz, wo-nach der »ewige Frieden« nur ein »Traum« sei »und nicht einmal ein schöner«, finden wir bei Schilderung der Krisen- und Kriegssituation von 1870 »ein aus Volkskreisen« stammendes Manifest: gezeichnet von Wilhelm Liebknecht, nennt es den »bloßen Gedanken an einen deutsch-französischen Krieg« ein folgenschweres »Verbrechen«. Der »Epilog« des Buches informiert abermals über die Friedensgesellschaften des Jahres 1889, ihre aktuellen Bestrebungen und Vorschläge, wobei ein tatsächliches Dokument der »International Ar-bitration and Peace Association« fiktiv an die Romanheldin gerichtet wird.

So suchte das neue, pazifistische Denken sein ihm angemessenes ge-schichtliches Erbe. Es stellte die humane Tradition des Friedens und des Fort-schritts gegen die Tradition des Militarismus und der Bedrückung des Volkes, von dem die Suttner stets hochsinnig dachte. »Aber das Volk? Man frage es nur, bei ihm ist der Friedenswunsch glühend und wahr, während die Frie-densbeteuerungen, die von den Regierungen ausgehen, häufig Lüge, gleisne-rische Lüge sindoder wenigstens von den anderen Regierungen grundsätz-lich als solche aufgefaßt werden. Das heißt ja eben ›Diplomatie‹. Und immer mehr und mehr werden die Völker nach Frieden rufen.«

Leo Tolstoi verglich Suttners Buch »Die Waffen nieder!« mit Harriet Bee-cher-Stoves Roman »Onkel Toms Hütte« (1852), weil es wie jener, der die Ab-schaffung der Sklaverei propagierte, ein literarisch-politisches Epochensignal setzte. In Preußisch-Deutschland allerdings waren die nationalistischen Par-teien, die Rüstungstreiber, Kolonialvereine, Kriegshetzer und deren Gazetten sogleich als giftende Gegner auf dem Plan. Sie entblödeten sich nicht, in der streitbaren Humanistin auch die Frau herabzuwürdigen, die sich als »Frie-densbertha«, als ein unbefugtes, hirnloses Geschlecht in die Politik einmische.

Aber aus den zögerlichen tausend Exemplaren der Erstauflage wuchsen meh-rere hunderttausend in zwölf Sprachen Europas. Die Persönlichkeit dieser ungewöhnlichen Frau erwies sich hinfort als eine Integrationsgestalt des in-ternationalen Pazifismus. Sie gründete Friedensgesellschaften in Österreich, Ungarn, Deutschland und wurde als Vizepräsidentin in das internationale Friedensbüro gewählt, das in Bern die Aktivitäten der Pazifisten koordinierte.

2.

Der deutsche Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht, Chefredakteur des »Vor-wärts«, erkannte Suttners Buch als massenwirksame Antikriegsliteratur. Er bat die Verfasserin am 11. April 1892 um ihr Einverständnis für den Nach-druck in seiner Zeitung und quittierte ihre Zusage mit dem selbstbewußten Versprechen: »[…] In der Saat, die aufgehen wird, werden Sie Ihren Lohn ha-ben. Was Sie erstreben, den Frieden auf Erden, wir werden es durchführen – ich meine die Sozialdemokratie, welche in Wahrheit eine große internationale Friedensliga ist.«

Liebknecht wünschte, daß die Pazifistin einige Zeilen dem Abdruck voran-stellte. Die Friedensstreiterin erfüllte auch dieses Erwarten. Sie schrieb als Pazi-fistin, also nicht als Sozialdemokratin, an die Mitglieder und Leser der bedeu-tendsten Arbeiterorganisation: »Die Partei, welche als einen Hauptpunkt ihres Programms den internationalen Frieden hinstellt, ist wohl am geeignetsten, dem genannten Buch ihre Sympathie entgegenzubringen, und wird auf diese Weise vielleicht dieselbe Sympathie auch auf die bestehende Friedensliga er-strecken, die das gleiche Zielinternationale Gerechtigkeitals einzigen Punkt ihres Programms erwählt hat.« So wurde das Buch »Die Waffen nieder!« zum Medium kurzzeitiger Kooperation zwischen der bürgerlichen Friedensbewe-gung und der deutschen Arbeiterpartei. Von August bis November 1892 er-schien der Roman in Fortsetzungen im Zentralorgan der Sozialdemokratie.

Zu dieser Zeit war Karl Marx schon neun Jahre tot. Er hatte jenen Staaten-konflikt längst vorausgesehen, der objektiv in das 20. Jahrhundert wirkte, in subjektiven Befürchtungen aber bereits bis zum Ende des 19. Jahrhunderts er-wartet wurde. Zusammen mit Friedrich Engels hatte er im Kriegssommer 1870 die deutschen Arbeiterführer dazu angehalten, unbedingt gegen einen Raub-frieden zu wirken: Eine Annexion Elsaß-Lothringens sei das »unfehlbarste Mittel, Deutschland und Frankreich durch wechselseitige Selbstzerfleischung zu ruinieren«. Der Brief an den Ausschuß der Sozialdemokratischen

Zu dieser Zeit war Karl Marx schon neun Jahre tot. Er hatte jenen Staaten-konflikt längst vorausgesehen, der objektiv in das 20. Jahrhundert wirkte, in subjektiven Befürchtungen aber bereits bis zum Ende des 19. Jahrhunderts er-wartet wurde. Zusammen mit Friedrich Engels hatte er im Kriegssommer 1870 die deutschen Arbeiterführer dazu angehalten, unbedingt gegen einen Raub-frieden zu wirken: Eine Annexion Elsaß-Lothringens sei das »unfehlbarste Mittel, Deutschland und Frankreich durch wechselseitige Selbstzerfleischung zu ruinieren«. Der Brief an den Ausschuß der Sozialdemokratischen

Im Dokument Wir haben erst den Anfang gesehen (Seite 83-95)