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5.3 Offenheit für Neues und neue Fähigkeiten

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz können eine Offenheit für Neues und neue Fähigkeiten entwickeln.

Angehörige können ebenfalls eine Offenheit für Neues und neue Fähigkeiten entwickeln.

110 5.3.1 Gestaltungsfähigkeit

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz fühlen sich weniger abhängig und erleben mehr Gefühle der Gestaltungsfähigkeit

Sich weniger abhängig zu fühlen bedeutete für diese Patientengruppe, ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit zurückzugewinnen, Wünschen nachzu-spüren, sie zu äußern und dann Handlungen oder Handlungsansätze zu ent-wickeln.

In der Einzelmusiktherapie konnte ich mich jedem Patienten und jeder Patientin in der Zweierbeziehung widmen. Methodisch unterstütze ich die Entwicklung des Erspürens eigener Wünsche zu eigenem Handeln, um die Wünsche zu erfüllen, im Wesentlichen durch ein aufmerksames Abwarten.

Um ihnen die Gelegenheit zu geben, sich auf sich zu konzentrieren und ihren Wünschen nachspüren zu können, bedurfte es zunächst einer Atmosphäre des Abwartens, des Beobachtens und des stillen Miteinanderseins.

Diese Entwicklung kann gelingen, wenn dem Patienten oder der Patientin kein Angebot aufgedrängt wird. Der Vorgang des Abwartens sollte so lange dauern, wie er an Zeit benötigt. Das kann auch mal 20 Minuten in Anspruch nehmen – wichtig ist zu überprüfen, ob der Kontakt zu ihnen solange stabil bleibt. Ich konnte die Erfahrung machen, dass manche PatientInnen sehr lange Zeit brauchten, einen Wunsch in sich zu spüren und eine Entscheidung für eine Handlung zu treffen, um diese dann ohne eine Beeinflussung in Form eines Vorschlags von meiner Seite auszuführen (z.B. ein Musikinstrument oder eine CD auszuwählen). In anderen Situationen war zu spüren, dass ein Patient nach einer Weile des Wartens überfordert oder sogar aus dem Kontakt zu gleiten schien.

Dann griff ich behutsam ein, machte Angebote, die Aufmerksamkeit wieder auf die gemeinsame Situation zu lenken. Manchmal übernahm ich die Entscheidung für ein Instrument oder eine CD nach Rückfrage an den Patienten und konnte eine für ihn sich als angespannt entwickelte Situation wieder entlasten. Zu Kontaktabbrüchen kam es nicht, sie wären aber im Fall des Auftretens zu respektieren gewesen.

Angehörige fühlen sich weniger abhängig und erleben mehr Gefühle der Gestal- tungsfähigkeit

Die Angehörigen im Forschungsprojekt waren mit der Pflege (manchmal in Doppelbeanspruchung mit der eigenen Berufstätigkeit), ihren Sorgen, Ängsten und ihrer Traurigkeit stark belastet. Sie zeigten alle Symptome des caregiver burden, fühlten sich ausgepumpt und fremdgesteuert. Freie Zeit blieb ihnen im arbeitsreichen Alltag kaum, und um eigenen Interessen nachzugehen, fehlte ihnen neben der Zeit oft auch die Kraft.

In der Angehörigengruppe erhielten die Teilnehmer zahlreiche Gelegenheiten,

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daran zu arbeiten, sich weniger abhängig zu fühlen und mehr Gefühle der Gestaltungsfähigkeit zu erleben. So gab es Situationen, in denen sie immer wieder selbst entscheiden konnten, wie stark sie Einfluss auf den Verlauf des Abends und des Gruppenprozesses nehmen wollten und konnten. Selbst-bestimmungserprobende und -fördernde Situationen waren z.B. die Mitge-staltung der aktuellen Themen, der Grad ihrer Teilnahme an der Gesprächsrunde (z.B. sich öffnen können und wollen oder auch negative Gefühle in einem stabilen Gruppengefüge ausdrücken können), die gewählte Rolle in den Improvisationen oder die Mitarbeit bei der Bewältigung einer musikalischen Aufgabe in der Gruppe.

Als großer Wirkfaktor hatte sich die Gruppenatmosphäre erwiesen, die als vertrauensvoll beschrieben und gewürdigt wurde. In einer Parallele zu der Patientengruppe konnten sich auch bei den Angehörigen die Verbesserungen durch eine Form des Abwartens der Therapeutin vollziehen. Eine vertrauensvolle und einladende Atmosphäre bot die Umhüllung und die Grundlage für ein Sicherheit vermittelndes Gefühl. Von da aus kam die Selbstentfaltung in Gang, und eigene Wünsche tauchten an die Oberfläche, erst vorsichtig, im Verlauf des Jahres zunehmend selbstbewusster. Es wurde in der Gruppe diskutiert, auch kritisiert und verteidigt und konstruktiv ausgehandelt.

Es zeigte sich deutlich, wie der Selbststeuerungsprozess im Verlauf des Jahres an Interesse und Kraft gewinnen konnte. Mehr noch, die Erfahrung zeigte, dass sich in einer Angehörigiengruppe, die mit Gespräch und mit musiktherapeutischen Mitteln arbeitet, ein auffällig hoher Grad der Gruppenentwicklung entfalten kann (siehe auch Beispiel Nr. 24 in Kap. 4.2.2 "Goldwäscher im lebendigen Fluss", S.99–

101).

Nach dem Phasenmodell von Rechtien (2007) hatte die Gruppe an diesem siebenten Angehörigentreffen bereits die vierte von fünf Phasen erreicht (Fremdheit – Orientierung – Vertrautheit – Konformität – Auflösung). In der Phase der Konformität zeigte sich ein starkes Wir-Gefühl, das sich darin ausdrückt, dass alle Gruppenmitglieder an einem gemeinsamen Thema arbeiten wollen. In diesem Beispiel wird das Gruppenthema (das Treffen mit einer Improvisation statt mit einem Gespräch zu beginnen) zwar noch kurz verhandelt, dann aber als ein gemeinsames und allen wichtiges Thema angenommen und behandelt. Auch nach dem Phasenmodell von Tuckman (1965 und Tuckman &

Jensen, 1977), das ebenfalls fünf Phasen formuliert (Forming – Storming – Norming – Performing - Adjourning) hatten in diesem Beispiel die Teilnehmer die vierte, vorletzte Phase erreicht und zeigten sich selbstorganisiert und kreativ.

Auch Negatives (Ablehnung eines Teilnehmers, für die Improvisation ein Thema zu wählen) konnte ohne Ablehnung dieser Person geäußert werden.

Die Angehörigengruppe fand auf Wunsch der Teilnehmenden nach dem offiziellen Ende des Forschungsprojekts noch viermal in vierteljährlichem Rhythmus statt und bearbeitete dort die Auflösungsprozesse der letzten von Rechtien und Tuckman beschriebenen Phase Adjourning bzw. Auflösung. Es wird

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an dieser Stelle darauf nicht weiter eingegangen, da diese Sitzungen der letzten Phase ausserhalb des zeitlichen Forschungsrahmens lagen.

5.3.2 Verantwortung und Hilfe

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz können Verantwortung abgeben und Hilfe annehmen

Bei einer Patientin ließ sich beobachten, wie sie zunächst alle Angelegenheiten noch uneingeschränkt selbst regeln wollten. Dies betraf ihre gewohnten An-forderungen, z.B. die Beauftragung von Handwerkern oder ihre üblichen Bank-geschäfte, die aber nicht mehr ausreichend bewältigt werden konnten und zu Stresssituationen für die Patientin und den pflegenden Sohn führten. In der Musiktherapie konnten der Patientin diese Situationen von Überforderung immer wieder bewusst gemacht und zu Momenten des klanglichen (Für-Spiel) und körperlichen (Ausruhen im Lieblingssessel) Genießens umgearbeitet werden.

Diese korrigierende Erfahrungen in der Musiktherapie führten allmählich dazu, Hilfsangebote anzunehmen; zuerst während der Musiktherapiestunden, später auch im Alltag der Patientin. Indem sie bestimmte, wer sie bei welcher Tätigkeit unterstützen sollte, war es ihr möglich gewesen, das Abgeben von Verantwortung sowie das Annehmen von Hilfe als einen Akt autonomen Handelns zu erfahren.

Angehörige können Verantwortung abgeben und Hilfe annehmen

Bei den Angehörigen ging es um die veränderte häusliche Situation mit dem Pflegeaufwand, der zusätzlichen Betreuung und mit der körperlichen und psychischen Belastung. Die meisten Angehörigen in der Gruppe pflegten ihren Verwandten in allen Belangen allein, und nur wenige nahmen tagsüber einmal die Unterstützung eines Pflegedienstes in Anspruch. Trotz ihrer sichtbaren und immer wieder thematisierten Belastungssymptome sperrten sie sich gegen größere Unterstützung von außen. Als Hauptgrund wurde angegeben, dass nur sie selbst den Verwandten und seine Bedürfnisse gut kennen würden. Des weiteren fühlten manche eine Verpflichtung, sich allein kümmern zu müssen.

Letztlich wussten die wenigsten von Hilfsangeboten und deren Finan-zierungsmöglichkeiten oder zeigten Hemmschwellen, sich danach weiter zu erkundigen. Die Angehörigengruppe konnte in vielen Gesprächen diese Thematik erörtern. Dabei erwiesen sich die TeilnehmerInnen untereinander als Experten, da fast jede(r) etwas beitragen konnte, wie beispielsweise eine Auskunft über eine Fördermaßnahme der Pflegekasse oder auch einen Tipp, wie man den Ver-wandten zu einem Bad überreden könnte. Die eigene steigende häusliche Belastung und die vielen gemeisamen Gespräche in der Gruppe, in der andere Mitglieder Lösungen ähnlicher Probleme aufzeigten, konnten die starre und überfordernde Haltung allmählich aufweichen und führten schließlich bei allen Teilnehmern zum Umdenken und Annehmen von Entlastungsangeboten.

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5.3.3 Interesse an unbekannten Musikinstrumenten

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz zeigen Interesse an bisher unbekannten Musikinstrumenten

Die meisten Angebote für Menschen mit Demenz knüpfen an im Leben erfahrene Eindrücke an und möchten positive Erinnerungen verstärken. Über ein Angebot, sich mit Neuem, Ungewohnten auseinanderzusetzen, und über einen eventuellen Nutzen davon, gib es kaum Erkenntnisse. Sich auf neue Situationen und Angebote einzulassen, stellte eine Herausforderung dar, für Menschen mit und ohne Demenz.

Neu waren einige der von mir mitgebrachten Musikinstrumente, z.B. die Ocean Drum. Sie wurde von einem Patienten und einer Patientin abgelehnt, beide interessierten sich auch nicht für andere Instrumente außer für die Gitarre, die ich spielte und die ihnen sicherlich als Musikinstrument bekannt war. Die anderen vier PatientInnen ließen sich darauf ein, die Ocean Drum anzuschauen, zu befühlen, sie selbst in die Hände zu nehmen und zum Klingen zu bringen.

Neben den sinnlich-ästhetischen Erfahrungen beim Schauen, Fühlen und Hören konnte sie der Klang des Instruments sehr berühren, ja aufwühlen. Der Klang wirkte erinnerungsfördernd und regte zu Äußerungen (Sätzen, Worten, Lauten) an, von denen ausgehend die Patienten und Patientinnen wichtige Lebens-themen (z.B. die Studienzeit in Königsberg) rekonstruierten und weiter musikalisch und verbal bearbeiten konnten.

Bei einer anderen Patientin regte das Entdecken der vielen Metallkügelchen im Musikinstrument zu einer spontanen Äußerung an: Sie klagte, welche Unordnung auf ihrem Teppich entstehen würde, wenn das Instrument undicht wäre und alle Perlen herausfallen würden. Diese Assoziation der Patientin konnte zum Ausgangspunkt einer sich anschließenden Phase genutzt werden, in der sie sich mit zwei Klangstäben ein wie sie sagte "ordentliches" Instrument wählte und sorgfältig ausrichtend vor sich platzierte. Auf diese Weise konnte sie ihre Vorstellung von Ordnung selbst wiederherstellen. Dieselbe Patientin lernte in der ersten Stunde auch interessiert zuhörend die Klangstäbe kennen und spielte auch nach anfänglicher Scheu mit mir zusammen. Anschließend zeigte sie Über-raschung, Zufriedenheit und auch ein wenig Stolz und äusserte sich über ihr Erleben in einem Sprichwort (siehe auch Beispiel Nr. 6, Frau Oestrich, S. 65).

Angehörige zeigen Interesse an bisher unbekannten Musikinstrumenten

Angehörigen waren in der Angehörigengruppe ständig mit Möglichkeiten zu neuen Erfahrungen konfrontiert. Sie staunten über den Raum in der Fach-hochschule, der mit zahlreichen Musikinstrumenten gefüllt war, von denen ihnen die meisten unbekannt waren. Sie wussten, dass an den Abenden geredet und musiziert werden sollte, letzteres erschien den meisten aber nicht vorstellbar. Sie verfügten nach eigenen Angaben über nur wenige oder gar keine instrumentalen

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Erfahrungen oder gar Fähigkeiten. Der Appellcharakter der Instrumente, die ent-spannte, vertrauensvolle Gruppenatmosphäre und eine behutsame, nieder-schwellige und neugierweckende Anleitung ermöglichten allen Teilnehmern schon am ersten Abend einen Zugang zu einigen Instrumenten und zu einer ersten Gruppenimprovisation. Das instrumentale Improvisieren und das Nach-gespräch über eigene Empfindungen oder Beobachtungen im Gruppen-geschehen war für alle absolut neu. Nach und nach konnten alle Teilnehmer an Zutrauen und an Ausdrucksfähigkeit gewinnen und schätzten das Improvisieren mit oder ohne spezielle Aufgabenstellung sehr. Diese neue Erfahrung des ab-sichtslosen Ausdrucks, des selbstregulierenden Miteinander-in-Kontakt-Tretens wurde zum wichtigen Bestandteil der Abende und bescherte allen spielfreudige, begeisterte, manchmal witzige Momente und Gefühle von Entlastung, Zufrie-denheit und oft auch Stolz.

5.3.4 Improvisieren

Der Weg zum Improvisieren verlief bei PatientInnen und Angehörigen ähnlich:

Zuerst existierten geringe Hemmungen, dann erfolgte ein Sich-Einlassen auf das Ausprobieren und schließlich wurde in der Improvisation freies, unbekümmertes und beglückendes Spiel erreicht.

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz können instrumental oder vokal improvisieren lernen

Ein Patient und eine Patientin erlangten während des Behandlungsjahres die Fähigkeit zum vokalen bzw. instrumentalen Improvisieren. Das hatten sie früher nie gemacht. Sie hatten dadurch den höchsten Grad an Verbesserung ihrer Lebensqualität erreicht. Sie konnten noch am Ende des Behandlungsjahres, ob- wohl sich ihre kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten deutlich verschlechtert hatten, nun, wann immer sie wollten, mühelos mit mir in einen schwingenden Kontakt treten und sich musikalisch emotional mitteilen. Sie erlebten im musikalischen Kontakt Unbekümmertheit und Freude, spaßige Momente und fühlten sich in der Musik sicher und vollwertig.

Das Improvisieren der beiden wird in diesem Kapitel unter dem Gesichtspunkt ihrer erreichten Lebensqualität unter 5.4.3 „Die Bedeutung des Improvisierens für die Beziehungserfahrung“ weiter behandelt werden.

Angehörige können instrumental oder vokal improvisieren lernen

Bis auf eine Angehörige, die früher Flöte in einer Band gespielt hatte, konnte keiner der Teilnehmer auf improvisatorische Erfahrungen zurückgreifen.

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Instrumentale Kenntnisse aus der Kindheit gab es nur bei einer klavierspielenden Patientin.

Die vielfältigen und den Teilnehmenden meist fremdartigen Musikinstrumente im Musiktherapieraum übten eine große Faszination aus und wurden zunächst von einigen nur ehrfürchtig bestaunt. Der Appellcharakter der Instrumente und meine niederschwellig formulierte Einladung zum Umschauen im Raum und zwanglosen Anspielen einiger Instrumente weckten überwiegend Neugier und Interesse. Bei wenigen blieb eine Scheu noch einige Minuten länger bestehen und löste sich erst beim Beobachten der anderen, bereits neugierig agierenden Gruppenmitglieder auf. Die Teilnehmenden probierten in Ruhe und mit Freude aus, wurden dabei mutiger und lauter. Das noch überwiegend beziehungs- und strukturlose Klanggeschehen endete mit zaghaften Versuchen einiger, mit Blicken oder schon musikalisch in einen Kontakt zu treten. Hier deuteten sich die ersten Schritte zur Improvisation als Beziehungsgeschehen an, was von einem Teil-nehmer als Fazit einer ersten Klangerfahrung verbalisierte wurde: "Wir müssen das nächste Mal aber mehr aufeinander hören!" (Z 22).

Es zeigte sich, dass die Gruppe in den ersten Stunden der Angehörigenabenden einen großen Harmoniewunsch hatte, der sich auch auf die gewünschte Klang-präferenz der Improvisationen ausbreitete: Es sollte harmonisch klingen und Dissonanzen waren zunächst ebenso wie solistisches Hervortreten unerwünscht.

Zunächst war es allen wichtig, auf die Gruppe zu hören und Gleichklang zu suchen. Von Mal zu Mal konnten die Teilnehmenden an den Abenden neue Klangerfahrungen mit dem Improvisieren sammeln und zeigten nach und nach größere Toleranz gegenüber Dissonanzen und gegenüber den Persönlichkeiten der anderen. So wurden mit der steigenden Gruppenentwicklung auch solistische Abschnitte wertgeschätzt und von den anderen musikalisch begleitet.

Es fanden gebundene Improvisationen mit klaren Vorgaben oder innere Bilder als Vorstellungshilfe sowie freie Improvisationen statt. Nach etwa vier Abenden dominierten die freien Improvisationen, da diese von den TeilnehmerInnen selbst angeregt und manchmal sogar regelrecht eingefordert wurden. Ab dieser Zeit steigerte sich der Bedarf an freien, emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten. Fast allen war es dabei wichtig geworden, nicht nur für sich zu spielen, sondern in einen musikalischen Austausch mit einzelnen oder der ganzen Gruppe zu treten, zu hören und gehört zu werden. Parallel zu dem steigenden Bedürfnis an freien Improvisationen, die innerhalb der Abende einen immer größeren Zeitumfang einnahmen und oft die Gesprächsteile verkürzten, verbesserten sich die musikalischen Wahrnehmung und instrumentalen Ausdrucksmöglichkeiten der TeilnehmerInnen deutlich. Spielanweisungen wirkten von da an eher einengend als unterstützend und traten in den Hintergrund.

Das Improvisieren erlangte einen hohen Stellenwert, es wurden Spaß und Entspannung erlebt, es konnte Lebensfreude herausgelassen und Lebendigkeit gespürt werden.

116 5.3.5 Neue Musikrichtungen

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz zeigen Interesse an ihnen unbekannten Musikrichtungen

Wenn man davon ausgeht, dass der Einsatz von bekannter und beim Patienten bevorzugter Musik Struktur und Sicherheit bietet und Wohlbefinden und Freude auslöst, so konnte dies hier bestätigt werden. Nicht immer waren das die Schlager und Melodien aus den Jugendjahren der Patienten, der Zeit, als viele von ihnen am Wochenende zum Tanzen gingen.

Muthesius berichtet, dass sich im Umgang mit Menschen mit Demenz be-obachten lässt, dass sie für Momente bis hin zu monatelangen Phasen in ihre Erfahrungen früherer Lebensalter mit ihren persönlichen Erfahrungen begeben.

Die Art des Umgangs mit Musik kann uns Erkenntnisse geben, in welcher Lebensphase sich der Mensch mit Demenz gerade fühlt (2010).

Aufgrund des Einzelsettings im Forschungsprojekt konnten die musikalischen Angebote individuell auf die Erfahrungen und momentanen Bedürfnisse ab-gestimmt werden.

Den PatientInnen vertraute, bevorzugte und deshalb häufig angebotene Musik waren:

Griechische Volksmusik für den Patienten mit noch gutem Erinnerungsvermögen, der aktuell noch mit seiner Frau einen Kurs mit griechischen Volkstänzen be-suchte; für denselben Patienten später selbstgewählte Volks- und Kinderlieder aus seiner Kinderzeit, die er in den ersten Therapiewochen vehement abgelehnt hatte, obwohl ich sie ihm gar nicht angeboten hatte und die er dann auf dem Metallophon spielen wollte und mein begleitendes Singen immer wieder einforderte;

Volkslieder für eine Patientin, die seit ihrer Jugend leidenschaftlich gern sang;

Volkslieder für eine weitere Patientin, die aufgrund eines Sprachfehlers meinte, nicht singen zu können, aber gerne entsprechende Sendungen im Fernsehen ver-folgte und zu den Liedern mitklatschte; Kinderlieder, besonders Wiegenlieder für dieselbe Patientin, wenn sie sich in regressiven Phasen zeigte, was gehäuft in ihren letzten Musiktherapiestunden der Fall war;

Opernmusik, vornehmlich des 19. Jahrhunderts, für einen Patienten, der diese Musikrichtung erst in seinem mittleren Erwachsenenalter kennen und lieben gelernt hatte;

Klaviermusik der Klassik und Romantik, besonders Wiener Walzer, für eine Patientin, die im Kindesalter mit Klavierunterricht begonnen hatte und für die das Klavierspiel zeitlebens eine besondere Bedeutung behielt, weil es nach eigenen Angaben bei der Verarbeitung ihrer Kriegserlebnisse sehr wichtig gewesen sei.

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Alle PatientInnen habe ich gelegentlich behutsam aus der Vertrautheit ihrer bevorzugten Musik herausgelockt, um ihnen auch einmal neue Hörerfahrungen anzubieten. Einer Patientin spielte ich von der CD ein kurzes, neoklassizistisches Orchesterstück von Ottorino Respighi vor, dem sie etwa zur Hälfte hörend folgen konnte und das sie kurz anerkennend kommentierte (siehe auch Beispiel Nr. 7 Frau Oestrich, S. 66).

Für einen anderen Patienten mischte ich unter zwei CDs mit ihm bekannten Opernarien auch eine weitere mit ihm unbekannten spätromantischen Liedern von Richard Strauss. Er wählte diese zum gemeinsamen Hören aus und zeigte sich von der Musik sehr angetan (siehe auch Kap. 3.1.6, Seite 86).

Bei einer weiteren Patientin diente neuere Musik, ihre aufgebrachte Stimmung zu begleiten und den Affekt zu regulieren. Dazu spielte ich an ihrem Klavier einen Satz aus Paul Hindemiths „Ludus tonalis“, der zunächst ihre aufgebrachte Stimmung widerspiegelte und sie aufhorchen ließ. Während meiner an-schließenden Improvisationen mit allmählicher Hinzunahme traditioneller Harmonien konnte sich die Patientin beruhigen.

Angehörige zeigen Interesse an ihnen unbekannten Musikrichtungen

In der Angehörigengruppe hatte das gemeinsame Musikhören nur einen kleinen Stellenwert, denn das Improvisieren und der Gesprächsteil nahmen den größten Raum ein. Ich habe aber regelmäßig Musik aus verschiedenen Jahrhunderten von der Spätrenaissance bis zur Moderne angeboten. Mit diesem weiten Spektrum sollte den Angehörigen eine Möglichkeit zur Erweiterung ihrer eigenen Hör-gewohnheiten und -vorlieben und eine Teilhabe an der Kultur ermöglicht werden.

Die TeilnehmerInnen haben an den Abenden grundsätzlich sehr gern Musik gehört. In der Erwartung eines passiven Genießens haben es sich alle auf ihrem Stuhl bequem gemacht und sich entspannt, manche auch die Augen geschlossen.

Die Reaktionen auf die verschiedenen Musikbeispiele waren unterschiedlich. So wurde z.B. das Ricercari von Andrea Gabrieli sehr gut aufgenommen und als entspannungsfördernd umschrieben. Zu Music for 18 Musicians von Steve Reich fielen Assoziationen wie ´einlullend ´oder ´ausweglos´. Einige Sätze aus Sechs Stücke für Orchster Opus 6 von Anton Webern sorgten zu ablehnendem Kopf-schütteln, ratlosem Lächeln zu den anderen im Raum und bei einigen zu Dis-kussionen über Vergleiche zu den eigenen instrumentalen Improvisationen.

5.4 Förderung der Beziehungsentwicklung durch gründliche Beziehungsarbeit