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3 Auswertungsmethodik

3.2 Audiovisuelle Daten Videoanalyse

3.2.2 Methodische Schritte der Videoanalyse

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in den Vordergrund. Im Spiel können eigene melodische oder rhythmische Motive eingebracht und vom Anderen übernommen werden. Musikthera-peutisch wird mit Imitation und Variation der wechselseitige Austausch unter-stützt. Es bildet sich eine zwischenmenschliche Nähe, in der der Wunsch zu länger anhaltendem Austausch entstehen und in die Improvisation führen kann.

Im fortgeschrittenen Stadium einer Demenzerkrankung wird das Erreichen des Modus 5 erschwert.

Modus 6: Begegnung/Interaffektivität

Beide SpielpartnerInnen befinden sich in einer positiven Affektlage und gestalten ihr Spiel in emotionaler und vertrauter Verbundenheit. Das gemeinsame Musizieren wird oft von Erinnerungen und Vorstellungsinhalten geprägt und zeigt Erfindungsreichtum in der Übernahme verschiedener Rollen (z.B. Tanzpartner oder Märchenfigur). Der Spielraum wird gleichberechtigt mit Fröhlichkeit und Leichtigkeit ausgefüllt. Musiktherapeutisch werden die Stimmung, Freiheit und Flexibilität des Musizierens durch die spielerischen Wechsel von Mitgehen und Initiieren der Impulse im Fluss gehalten. Krankheitsbedingt kann der Modus 6 im schweren Stadium nicht mehr erreicht werden.

Weitere Erfahrungen mit der Anwendung des EBQ auf Demenzpatienten finden sich bei Warme (2005 und 2007) und Muthesius et al. (2011). Und Körber (2007) hat über das EBQ-Instrument bei Psychotherapiepatienten veröffentlicht.

Das EBQ-Instrument ist ein geeignetes Evaluierungsinstrument, um Beziehungs-qualitäten klar und schnell einschätzen zu können. Bei der Interpretation sollte immer berücksichtigt werden, dass das EBQ-Instrument uns das Was einer vor- herrschenden Situation bestimmen lässt, aber nicht das Warum.

Eine Qualifizierung der AnwenderInnen des EBQ-Instruments ist immer er- forderlich.

3.2.2 Methodische Schritte der Videoanalyse

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ich meistens allein zu den Hausbesuchen unterwegs war. Die Termine für die Drehtage hatte ich im Voraus für alle Patienten festgelegt, um möglichst unbeeinflusst von der Entwicklung des Therapieprozesses für alle gleiche Messpunkte durchzuführen. Die Videoaufnahmen entstanden beim 1., 5., 11., 18., 23., 30. und 35. Hausbesuch. Alle vorgesehenen sieben Videos konnte ich von drei Patienten drehen, aus technischen Gründen von einem Patienten sechs und von zwei Patienten nur fünf. Die Musiktherapiesitzungen wurden in voller Länge aufgezeichnet.

Datenaufbereitung

Die Videos wurden von der Festplatte der Kamera auf den Rechner überspielt und ungeschnitten in die entsprechend angelegte Patientenordner einsortiert und datiert. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurden alle Patientennamen pseudonymisiert. Es wurden folgende Sicherungskopien aller Filme angefertigt:

zweimal auf DVDs und einmal auf externer Festplatte, die außerhalb des Hauses aufbewahrt wurde, sowie einmal auf der Cloud.

Der nächste methodische Schritt war die Bestimmung und Extrahierung von relevanten Szenen mit bedeutsamen Momenten (pivotal moments, meanigful moments). Was kennzeichnet eine relevante Szene? Ich schließe mich Schumachers (2011) Auffassung an, nach der die Bedeutung einer Szene von der Fragestellung des Untersuchenden und seinem Motiv, eine bestimmte Szene auszuwählen, abhängig ist. Ich wollte unter der Berücksichtigung der Frage- stellung nach einer Entwicklungsmöglichkeit und -fähigkeit vor allem Szenen zeigen, in denen etwas geschieht, sich etwas ankündigt, verändert oder deutlich wird. Mit Trondalen (2006) gehe ich davon aus, dass in bedeutsamen Momenten verfestigte Beziehungsmuster erforscht und aufgeweicht werden und neue Be-ziehungerfahrungen durch die Musik gemacht werden können. Nach meiner Er-fahrung können dabei frühere Beziehungsqualitäten wiederbelebt werden und zu neuen Erfahrungen führen.

Ich habe mich entschieden, für jedes Video zwei bis drei relevante Szenen herauszugreifen. Eine Ausnahme bilden das 2. Video von Herrn Galbert (Patient Nr. 2) und das 3. Video von Herrn Bayer (Patient Nr. 6), da die Stunden früher abgebrochen wurden. Ich gab bei der Auswahl den Szenen, in denen sich Entwicklung andeutete oder zeigte, den Vorrang. In Musiktherapiestunden, in denen kaum oder keine Veränderungen in den Ver-haltensweisen auftraten, habe ich Szenen mit immer wiederkehrenden Be-ziehungsqualitäten ausgewählt, die für den Stundenablauf an diesem Tag typisch waren. Die einzelnen Videoszenen erhielten (sachliche oder poetische) Über-schriften und dienten dazu, die Leserschaft auf die Szene einzustimmen. Für mich öffneten diese Überschriften Räume der Erinnerung, und die Szenen wurden beim Lesen der Überschriften erneut lebendig.

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Jede Wiedergabe einer Szene beinhaltete zwei bis drei Unterteilungen:

• Einführung

• Darstellung

• Interpretation

Erläuternde Sätze zur Einführung wurden nach Bedarf geschrieben, z.B. bei der jeweils ersten Szene eines Videos, um die aktuelle Lage des Patienten oder der Patientin zu schildern und/oder zu Beginn einer späteren Szene, um zu beschreiben, was ich kurz zuvor beobachten konnte. Eine Einführung in eine Szene konnte in Einzelfällen auch wegfallen. Die Bausteine Darstellung und Inter-pretation waren hingegen fester Bestandteil dieser Veranschaulichung. Bei der Darstellung habe ich mich bemüht, meine Beobachtungen wertfrei festzuhalten.

Die Interpretation erfolgte in Textform und mündete am Ende in die Einschätzung der Beziehungsqualität nach dem EBQ-Instrument.

Ich gebe zu bedenken, dass der methodische Schritt der Extrahierung bestimmter Videoszenen mit bedeutsamen Momenten nicht trennscharf zu dem der Aus-wertung gesehen werden kann. Denn schon die Benennung einer Szene als bedeutsam und ihre Auswahl schließen bereits eine subjektive Interpretation und damit einen Akt des Auswertens ein.

Datenauswertung

Die Videos wurden nach jeweils zwei Skalen ausgewertet: immer nach der Therapeutenskala (TBQ) und zusätzlich nach derjenigen, bei der sich der musikalische Ausdruck der PatientInnen zeigte oder vorwiegend zeigte (Basisqualität). Videos, bei denen sich PatientInnen nicht musikalisch äußerten, wurden als zweites nach der Skala des körperlich-emotionalen Ausdrucks (KEBQ) analysiert. Die Analyse folgte dem zeitlichen Verlauf jeder einzelnen aufgezeichneten Sitzung und markierte eine Anfangsbeziehungsqualität sowie jede deutliche Veränderung. Momente, bei denen nur kurzfristig eine andere Beziehungsqualität erreicht wurde, werden als peaks bezeichnet. Alle Videoanalysen eines Patienten bzw. einer Patientin wurden auch miteinander verglichen, untereinander betrachtet und ausgewertet. Dazu wurde für jeden Film eine Hauptbeziehungsqualität (Basisqualität) benannt und diese dann in Beziehung zu den der anderen Videos gesetzt (Eine Übersicht der in allen Videos aufgetretenen Beziehungsmodi der PatientInnen findet sich in der Tabelle Nr. 2

„Die EBQ-Modi in den Videos“, S. 119).

Es folgt ein Beispiel für eine relevante Szene mit ihren drei Bestandteilen Einführung, Darstellung und Interpretation:

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"Vor-, Zwischen- und Nachspiel"

(Patientin Nr. 1, Frau Schwan, Video Nr. 7, Szene Nr. 3, siehe auch S. 201–202)

Einführung

"Was machen wir noch?" fragt die Patientin, nachdem wir schon einige Lieder miteinander gesungen haben, und wir überlegen beide. Frau Schwan schnalzt ein paar Mal und schaut im Zimmer herum.

Darstellung

Aus der Stille heraus spiele ich eine einfache Kadenz (1-4-5-1) im Dreiertakt und wiederhole sie immer wieder. Noch ist nicht klar, ob mehr daraus werden kann.

Ich schwinge mit dem Oberkörper. Frau Schwan wiegt den Kopf zum Dreiertakt und deutet mit einer Hand eine Dirigierbewegung an und beginnt zu summen.

Ich stimme mit ein, lasse ihr mit einem Solo mehr Raum und antworte wieder.

Nun klingt es wie eine Einleitung zu einem Lied.

Ich singe "Zum Tanze da geht ein Mädel". Frau Schwan erkennt es sofort, blickt mich an und spielt dann die Chicken Shakes, die sie in den Händen hält.Ab der ersten Strophe singt die Patientin in gewohnter Weise auf "Ah" mit und wippt zur Musik, sodass manchmal die Instrumente erklingen. Zweimal richtet sie sich auf, rückt von der Rückenlehne der Couch ab und sich vor. Nach der Strophe singt sie weiter und improvisiert eine Melodie. Ich unterstütze ihr Singen und es kommt zum ersten Zwischenspiel. Frau Schwan führt, ich lasse sie ein Stück solo singen oder umspiele ihre Melodie mit meinen spielerischen Einwürfen auf "La-la-la" und "Ja-ja-ja".

Die zweite Strophe singen wir noch ausdrucksvoller. Frau Schwan versteht den Text "Ach, herzallerliebstes Mädel, so lass mich doch los!" und blickt mit mitfühlender Miene. Vor der Stelle "Ich lauf ´dir gewisslich auch so nicht davon!"

schaut sie zu mir, um dann punktgenau an dieser Stelle in schwungvolles Mitgestalten einzutauchen. Diesmal geht die Initiative zu einem Zwischenspiel von mir aus, ich singe eine kleine Variation der Strophenmelodie mit kurzen, eingestreuten Achtelketten. Frau Schwan singt die Teile mit, die sie auf die Schnelle erfassen kann. Dabei wiederholt sie meine letzte Phrase so sicher, dass ich sie sie allein singen lasse.

Es folgt die dritte und letzte Strophe. Wir singen etwas ruhiger bis zur Stelle "Da ward in den Wald schon der Jüngling gerannt." Diesen Höhepunkt des Liedtextes musizieren wir beide wieder lauter und lachen über die Wendung in der erzählten Geschichte.

Das Nachspiel beginnt lebhaft und fröhlich. Ich beginne es, und Frau Schwan kommt dazu. Nach Beendigung einer Phrase summt sie noch weiter, und ich

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singe noch zweimal eine kleine Melodie, die an ein Lebewohl-Rufen klingt. Diese führe ich mit einem Ritardando auf dem Grundton zurück. Frau Schwan singt dazu die obere Terz und kippt dann sehr leise ebenfalls zum Grundton ab.

Interpretation

Die Szene zeigt, wie die Patientin in einer langen Aufmerksamkeitsspanne ein Lied mit allen drei Strophen mitsingt und dazu ein Vorspiel, Zwischenspiele und ein Nachspiel gestaltet. Von Anfang an ist unser Musizieren mehr als ein Fokussieren auf ein gemeinsames Thema, also auf das Lied mit seinen drei Strophen. Schon in der Musik vor dem Lied und auch sogar, bevor sich eine Einleitung zu einem Lied zu erkennen gibt, zeigt Frau Schwan eine entwickelte Fähigkeit zum Nach- und Mitmachen.

Mit meiner Kadenz am Anfang biete ich Frau Schwan noch kein Lied (gemeinsames Thema) an und weiß zu diesem Zeitpunkt selbst überhaupt noch nicht, dass ein Lied folgen wird. Vielmehr gebe ich eine Struktur in Klang und Form vor, die einen Sicherheit vermitteltenden Rahmen vorgibt und gleichzeitig in ihrer Einfacheit zum Anreichern mit vokalen Äusserungen einlädt.

Frau Schwan zeigt sich initiativ, sie beginnt mit einem eigenen melodischen Einfall. Sie improvisiert und kennt den weiteren Verlauf unserer Musik ebenso wenig wie ich, aber ihre interpersonelle Beziehung zu mir bleibt durch die aufeinander bezogenen Vokalisationen über die gesamte Szene hinweg klar erkennbar. An mehreren Stellen gibt es Momente, bei denen ich der Patientin den Übergang von der Interaktivität zur Interaffektivität anbiete. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ich im zweiten Zwischenspiel nach der zweiten Strophe die kleine Variation der Strophenmelodie mit kurzen, eingestreuten Achtelketten unbekümmert auf "La-la-la" singe. Frau Schwan scheint jedoch zu konzentriert meinen Achtelketten hörend und mitsingend zu folgen, als dass sie sich ins freie Spielen mit mir einlassen könnte.

Auch nach der dritten Strophe, als wir uns herzlich zur textlichen Schlusspointe angelacht haben, wäre die Möglichkeit zu einem improvisierten Nachspiel auf der Beziehungsebene der Interaffektivität gegeben. Ich spüre hier, dass Frau Schwan noch während der Strophe kurz in einem lustvollen Spielen mit mir agiert hat (Sie zeigt hier im EBQ eine Tendenz zum Modus 6). Im sich anschließenden Nachspiel nimmt sie meinen weiter angebotenen, spielerischen Affekt im Singen aber nicht auf. In beiden Fällen kehre ich zum dialogischen Level zurück, um sie nicht zu überfordern, sondern ihr in ihrem aktuellen Beziehungsmodus zu begegnen.

(Einschätzung der gesamten Szene: im EBQ Modus 5 mit Peak zu 6 : Pat. VBQ 5 mit Peak zu 6 , Ther. TBQ 5 mit Peak zu 6).

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