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5.12 Die Bewertung der Musiktherapie

Alle Angehörigen bewerteten die Erfahrungen mit der Musiktherapie als positiv und hätten sich erneut zum Forschungsprojekt angemeldet.

Zwei Angehörige verlängerten die häusliche Musiktherapie auf privater Basis in geringerer Frequenz.

Die musiktherapeutischen Hausbesuche zeigten den Angehörigen, dass trotz des Schweregrads der Erkrankung des Patienten bzw. der Patientin das Ausdrücken von Gefühlen noch möglich war.

Musiktherapie bot keine Heilung für die demenzielle Erkrankung, erwies sich aber als psychische Unterstützung für sowohl die PatientInnen als auch den Angehörigen, während der Großteil der psychischen und physischen Belastung im Alltag bestanden blieb.

Die Lebensqualität der PatientInnen schätzten die Angehörigen als kurzfristig verbessert ein: "Die Musiktherapie hat Fröhlichkeit ins Mienenspiel meiner Frau gebracht." (Z 32). Zwei Angehörige sahen dort keine Verbesserung. Ein teil-nehmender Angehöriger hatte bei den abendlichen Besuchen den Eindruck, dass an den Tagen, an denen Musiktherapie stattgefunden hatte, die Stunde positiv für den Vater gewesen war.

Eine pflegende Tochter verdeutlichte, wie sie durch die häusliche Musiktherapie eine Humanisierung, also eine menschlichere Gestaltung der Lebensbedingungen ihres Vaters, erlebt hatte: „Ich wollte mit dem Projekt etwas für ihn speziell, auch weil ich Therapie nicht leisten kann. Für meinen Vater ist Zuwendung das Wichtigste und dass er seine Gefühle so ein bisschen bearbeiten kann, was ich nicht mit ihm machen kann.“ (Z 33).

Die Angehörigengruppe bedeutete für mehrere Teilnehmer eine längerfristige Psychohygiene und eine Erinnerung an die erlebte Begeisterung beim Improvisieren blieb lange präsent. In der Gruppe fielen Beschreibungen für die

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positive Bewertung des Improvisierens: Können gegen Nichtkönnen, fest- stehende Melodie gegen Improvisation, ´Kopf gegen Herz´.

Alle wünschten sich eine Verlängerung der Angehörigengruppe, was mit finanzieller Unterstützung der Alzheimer Gesellschaft Frankfurt auch für ein weiteres Jahr mit vier Terminen realisiert werden konnte.

Einigkeit bestand darüber, dass bei den Angehörigen ein Interesse an Musik-therapie entstanden war. Ein pflegender Sohn schilderte seine erste Berührung mit Musiktherapie bei meinem ersten Besuch als Vorbesprechung. Die Heran-gehensweise des Ausprobierens von Musikinstrumenten und die interessierte Reaktion des Vaters beeindruckten ihn.

Bei der Beurteilung war allen klar, dass Musiktherapie grundsätzlich in fachliche Hand gehörte und waren der Ansicht, dass ein Erfolg auch von der Sympathie zur Musiktherapeutin abhing.

Der Weg abends zur Angehörigengruppe war im Vorfeld für einige als manchmal beschwerlich und belastend wegen der Entfernung, der nötigen häuslichen Organisation oder wegen der Belastung bei voller Berufstätigkeit empfunden. Die Treffen haben dann aber immer Gefallen gefunden. Für manche war der Termin ungünstig, wurde aber möglich gemacht.

Eine Teilnehmerin aus einer benachbarten Stadt hatte sich einen Austausch mit anderen außerhalb der Treffen gewünscht, was wegen der Entfernung leider nicht zustande gekommen war.

Die Angehörigentreffen hätten für die meisten häufiger und die Projektzeit länger sein sollen, um noch mehr Möglichkeit zum Ausprobieren der Instrumente und mehr emotionalen Austausch zu ermöglichen.

Ein pflegender Sohn hatte den Wunsch, noch mehr Anregung zu einer akustischen Milieugestaltung beim Vater zu erhalten. Er wollte erreichen, dass Musik für den Vater im Alltag (wieder) zu einer positiven Erfahrung werden und sie ebensolche Auswirkungen auf die ganze Familie haben könnte.

5.13 Zusammenfassende Ergebnisse mit Bezug auf die Forschungsfragen Die Forschungsfragen beschäftigten sich damit, ob und wie mit

musik-therapeutischen Interventionen bei Hausbesuchen die Beziehungsfähigkeit und damit die Lebensqualität der Patienten und Patientinnen verbessert werden könnten. Und ob und wie mit einem musikgestützen Kommunikationstraining in einer Angehörigengruppe die pflegenden Angehörigen psychisch entlastet wer- den könnten.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Forschungsfragen positiv beantwortet und die Hypothesen bestätigt werden konnten.

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Hier die zusammengefassten Ergebnisse: Alle PatientInnen ließen Wunsch und Fähigkeit erkennen, in zwischenmenschlichen Bezug zu gehen. Um auf diesen Beziehungswunsch adäquat und unterstützend einzugehen, war es notwendig, ihnen in einer Sicherheit stiftenden Atmosphäre mit Wertschätzung und Zeit zu begegnen und auf ihre momentane Befindlichkeit genau abgestimmte Angebote zu machen, die beziehungsfördernd und beziehungsentwickelnd wirken.

Bei allen Patienten und Patientinnen zeigten sich zu Behandlungsbeginn deutlich ausgeprägte psychopathologische Symptome. Während der Behandlung und danach in den Alltagssituation traten diese Symptome seltener, weniger aus-geprägt oder gar nicht mehr auf, und die Stimmung der PatientInnen hatte sich deutlich verbessert.

Auch bei den pflegenden Angehörigen verringerten sich bis auf eine Ausnahme die vorher deutlich gezeigten Belastungssymptome, und auch ihre Stimmung hatte sich verbessert.

Es lässt sich sagen, dass Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz eine Offenheit für Neues und neue Fähigkeiten entwickeln können. Sie fühlen sich weniger abhängig und erleben mehr Gefühle der Gestaltungsfähigkeit. In einem Zustand der Handlungs-enthaltsamkeit können Wünsche an die Oberfläche gelangen und Handlungen in Gang gebracht werden.

Auch Angehörige können eine Offenheit für Neues und neue Fähigkeiten entwickeln. Auch sie fühlen sich weniger abhängig und erleben mehr Gefühle und Gestaltungsfähigkeit. In der vertrauensvollen Atmosphäre der Angehörigen-gruppe können sie an ihrer Selbstbestimmung und Selbstentfaltung arbeiten. Der Gruppenprozess in einer musikgestützten Angehörigengruppe kann sich trotz einer eher geringeren (monatlichen) Frequenz deutlich entwickeln.

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz können Verantwortung abgeben und Hilfe annehmen. Mithilfe des instrumentalen Fürspiels können Stress-situationen bei nicht mehr zu bewältigenden Alltagsaufgaben in Momente des Genießens umgearbeitet werden.

Auch Angehörige können Verantwortung abgeben und Hilfe annehmen.

Gespräche in der Angehörigengruppe führen dazu, die eigene Belastungs-situation zu erkennen, zu erörtern, Hilfsangebote kennenzulernen und an-zunehmen.

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz zeigen Interesse an bisher unbekannten Musikinstrumenten. Sie erleben neue optische, akustische und haptische Reize und können beim gemeinsamen Spiel mit unbekannten Instrumenten Freude und Stolz fühlen.

Auch Angehörige zeigen Interesse an bisher unbekannten Musikinstrumenten.

Sie erlebten in entspannter Gruppenatmosphäre die Wirkung des Appellcharak-ters der verschiedenen Musikinstrumente und gewannen Zutrauen, Klänge auszuprobieren und improvisieren zu lernen.

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Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz können instrumental oder vokal improvisieren lernen.

Zwei PatientInnen können instrumental bzw. vokal improvisieren lernen und einen beglückenden Kommunikationsweg erleben, während sich ihre Kognation und Sprachfähigkeit im Verlauf des Behandlungsjahres weiter verschlechtert.

Auch Angehörige können instrumental oder vokal improvisieren lernen. Sie empfinden (Lebens-)Freude und Stolz. Die Improvisationen können einen hohen Stellenwert in der Gruppe erlangen, und ihre klangliche Qualität kann sich deut- lich entwickeln.

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz sowie ihre pflegenden Ange-hörigen zeigen Interesse an ihnen unbekannten Musikrichtungen. Das Hören ihnen unbekannter Musikstücke erweitert ihre Hörgewohnheiten, manchmal ihre Hörpräferenz und unterstützt die Teilhabe an der Kultur. Gründliche Be-ziehungsarbeit fördert Beziehungsentwicklung bei Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz. In der intensiven Zweierbeziehung einer Einzelmusiktherapie können Begegnungen in der zunächst vom Patienten bzw. von der Patientin angebotenen Beziehungsqualität gestaltet werden, aus denen heraus sich allmählich Entwicklungen zu anderen Beziehungsqualitäten ergeben können. Die PatientInnen können dabei zu Interaktivität mit gemeinsamem Erleben gelangen (Modus 4). Die vokal oder improvisierenden PatientInnen können sogar die Fähigkeiten zu einem dialogischen (Modus 5) oder interaffektivem (Modus 6) Austausch erreichen.

Gründliche Beziehungsarbeit mit Angehörigen fördert ihre Beziehungs- entwicklung. In einer Angehörigengruppe kann der verbale Austausch mit anderen Betroffenen Hilfestellungen zur Alltagsbewältigung und psychische Ent- lastung bieten.

Das Improvisieren auf Musikinstrumenten kann das Selbsterleben, die Wahr-nehmung und das Ausdrucksvermögen des einzelnen unterstützen sowie den Gruppenprozess zu einem musikalischen Team fördern. Menschen mit mittlerer Demenz können in der Musiktherapie nicht nur früher erworbene und durch die Krankheit verschüttete Beziehungsqualitäten wiederbeleben. Sie können auch (eine Patientin ausgenommen) beim ausreichend langen Explorieren den Entwicklungschritt vom Selbsterleben (Modus 3) zur Intersubjektivität mit einem Teilen eines interaktiven Erlebens (Modus 4) erneut vollziehen.

Es zeigt sich im Kontakt mit den PatientInnen durchgängig eine Häufung und Stabilität der intersubjektiven Beziehungsqualität (Modus 4). Diese Konituität, die trotz der Verschlechterung der allgemeinen Krankheitssymptomatik während des Behandlungsjahres bestand, wird als Gewinn für die Patienten eingeschätzt.

Improvisieren fördert intensive Beziehungserfahrung bei Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz. Es kann dabei der Wunsch der PatientInnen, ge-meinsames Singen oder Musizieren noch nicht zu beenden, als Antrieb für den

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Einstieg in ein gemeinsames Weitersingen oder -spielen ohne feste Struktur genutzt werden. In einem so entstehenden Spielraum können Weiterentwick-lungen zu nächsthöheren Beziehungsqualitäten (Modus 5 und 6) entstehen, in denen die Patienten und Patientinnen sicher, freudig und stolz auf einem Niveau kommunizieren können, das sie auf sprachlicher Ebene nicht mehr erreichen könnten.

Improvisieren fördert intensive Beziehungserfahrung bei Angehörigen. Die neue Erfahrung des Improvisierens in der Gruppe wirkt wie eine Selbstbehandlung, ermöglichte Selbstausdruck, lässt Resonanz und Gemeinschaft erfahren und stärkt das Selbstbewusstsein.

Musik wirkt kompensatorisch bei Sprachdefiziten bei Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz. Gemeinsames Hören, Singen oder Musizieren braucht auf Sprachbarrieren keine Rücksicht zu nehmen und bietet vielfältige Kommuni-kationswege, auf denen die Patienten und Patientinnen druck- und angstfrei eine emotionale Beziehung herstellen können.

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz können in der Musiktherapie ihren regressiven Bedürfnissen (z.B. nach Geborgenheit, das sich durch Sehnen nach der Mutter zeigen kann) Ausdruck verleihen. Musik als Fürsingen/-summen oder das gemeinsame Lauschen der Stille mit und ohne sanfte Körper-berührungen kann Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln.

Angehörige können in der Angehörigengruppe ihren regressiven Bedürfnissen Ausdruck verleihen. Das Fürspielen oder -summen, hier von den Teilnehmern für einen Angehörigen, oder das Musizieren auf einem als zu seiner aktuellen Befindlichkeit passend empfundenen Musikinstrument konnten als beruhigend und heilsam empfunden werden.

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz können das Ende des Lebens als wichtiges Thema bearbeiten und den Prozess des Loslassens erproben. Das Beieinandersein in der Stille stellt einen besonderen Entwicklungsraum bereit, in dem Wünsche wie das Ziehen einer Lebensbilanz auftauchen und auf der Sprachebene bearbeitet werden können. Darüber hinaus kann der Patient bzw.

die Patientin beim gemeinsamen Erleben des Atmens in der Stille das Loslassen als Teil des späteren Sterbeprozesses erproben.

Ebenso konnten die Angehörigen das Ende des Lebens als wichtiges Thema bearbeiten und den Prozess des Loslassens erproben. Die Traurigkeit über ein verändertes Bild des Erkrankten, das Nicht-Wahrhaben-Wollen eines Verschlech-terns der häuslichen Situation und die Angst davor konnten in Gesprächen und durch gezielte Improvisationsaufgaben (z.B. mit einem/einer selbstgewählten Spielpartner/-partnerin) bearbeitet werden.

Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz zeigen Verbesserungen bei ihrer Erinnerungsfähigkeit und Stimmung. Wenn ihnen der Hausbesuch vorher ange- kündigt wurde, konnten sie Vorfreude auf die Musiktherapiestunde und ein

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Wiedererkennen der Therapeutin zeigen. Bei manchen hielt eine Stimmungs- verbesserung nach dem Hausbesuch noch für Stunden an.

Trotz der Verschlechterung des Gesundheitszustands während des Behandlungs-jahrs, verbunden mit spürbaren Einbußen verschiedener Fähig- und Fertigkeiten, konnten Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz Verbesserungen bei sprachlichem Ausdruck, zeitlicher Orientierung und Motorik zeigen.

Viele Ergebnisse der Patienten und Angehörigen vollzogen sich parallel.

Das System Patient und Angehöriger kann gestärkt werden, im Wesentlichen durch eine positivere Haltung der Angehörigen zu sich selbst, eine positivere Sichtweise der Angehörigen auf den Erkrankten, mehr Entlastung und die Durch-führung einer musikalischen Alltagsgestaltung.

Das Forschungsprojekt wurde von allen Angehörigen positiv beurteilt. Es wurde deutlich, dass Musiktherapie zwar keine Heilung, aber ein wertvolles emotionales Unterstützungsangebot für die Patienten darstellt. Einigkeit bestand darüber, dass Musiktherapie in fachliche Hand gehört und der Erfolg auch von der Sym- pathie zur Musiktherapeutin abhängt.

Eine Angehörigengruppe kann für die Teilnehmer als Psychohygiene wirken, und die Improvisationen können auch zu einem weiteren Interesse an Musik und Musiktherapie führen. War die Einhaltung der Termine nicht immer einfach zu realisieren, so empfanden alle Teilnehmenden den Abend doch immer als Belohnung.

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6 Konzeptskizze der ambulanten Musiktherapie

Aus den Erfahrungen und Erkenntnissen (Kap. 5) im Forschungsprojekt Klang-brücken habe ich als Transfer in die Praxis ein Konzept für die ambulante, musiktherapeutische Arbeit mit Menschen mit Demenz und ihren pflegenden Angehörigen umrissen. Die Skizze mit den nachstehend aufgeführten neun Folge-rungen mag anderen Kollegen und Kolleginnen aus der Musiktherapie, der Pfle-ge, Angehörigen benachbarter Berufe oder Angehörigen Betroffener Orien-tierung und Informationen geben.

1. Es ist wichtig, achtsam zu arbeiten

In einem besonderen Wahrnehmungszustand der Achtsamkeit soll sich in der Therapiearbeit Zeit genommen werden, um sich auf den Raum, seine At-mosphäre und auf den Menschen einzustimmen, das aktuelle Bedürfnis des Gegenübers aufmerksam und differenziert wahrnehmen und adäquat be-antworten zu können.

Achtsam zu arbeiten heißt auch Selbstfürsorge zu praktizieren. Der Umgang mit Menschen mit Demenz kann zu Situationen führen, in denen der Musiktherapeut in besonderem Maß gefordert wird. Dies gilt besonders für konfliktbeladene Situationen, die die therapeutische Beziehung belasten und die Probleme manchmal unlösbar erscheinen lassen können. Der professionellen Selbstpflege widmen sich Muthesius et al. (2010) ausführlich und empfehlen als wichtige Maßnahmen, an Supervision und Fortbildungen teilzunehmen, die eigene Musik zu hören und auf den Erhalt der eigenen inneren Arbeitshaltung zu achten.

2. Mit Situativität und Flexibilität agieren

Sich arrangieren mit persönlichen Befindlichkeiten der Patienten und Pa-tientinnen, auch mit räumlichen oder zeitlichen Gegebenheiten, sind typische Herausforderungen rund um das Therapiegeschehen. So müssen wir damit rechnen, dass in der häuslichen Musiktherapie uns einmal nicht die vertraute Person die Tür öffnet und einen kleinen Wochenbericht übermittelt, dass vielleicht gerade dann der Pflegedienst anwesend ist und mit seinen Pflege-handlungen beschäftigt ist, wenn wir Musiktherapie anbieten wollen, dass der Patient heute unruhig ist und durch die ganze Wohnung läuft, dass uns die Patientin bei schönem Wetter im Garten empfängt oder noch gar nicht ge-frühstückt hat. Mit all diesen Gegebenheiten müssen wir kreativ umgehen und diese neuen Umstände flexibel und kreativ für eine Musiktherapiestunde anderen Charakters nutzen: Flexible Lösungen könnten hier sein, vielleicht die ersten zwei Lieder gemeinsam mit der Pflegekraft zu singen (und damit auch ihre Arbeit zu unterstützen), im Garten Platz zu nehmen und den gedeckten Kaffeetisch um zwei, drei Musikinstrumente zu bereichern, einen gemeinsamen Gartenrundgang zu unternehmen und musikalisch zu gestalten oder die Patientin

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beim Frühstück zu unterstützen und dazu eine Lieblingsmusik zusammen zu hören.

Kreative Lösungen sind für uns Musiktherapeuten Alltagsrealität, wir können ohne festen Therapieraum, ohne festes Repertoire und mit Störungen impro-visierend umgehen und den Patienten und Patientinnen dadurch neue, ebenfalls beglückende Begegnungen ermöglichen.

Für die Angehörigenarbeit hat es sich bewährt, für die momentane Befindlichkeit der Angehörigen aufmerksam zu sein und auf der Grundlage ihrer aktuellen Bedürfnisse gemeinsam das Gruppenthema für das Gespräch oder für die musikalische Improvisation zu finden.

3. Es ist wichtig, Halt zu geben

Unsicherheiten und Ängste minimieren, Schutz und Sicherheit vermitteln und Zuwendung und Trost geben sind wichtige und wiederkehrende Aufgaben in der Musiktherapie mit Menschen mit Demenz und im Umgang mit ihren pflegenden Angehörigen.

Halt geben kann sich bei Menschen mit Demenz und beim pflegenden Angehörigen auf verschiedene Weise ausdrücken: Ängste und Unsicherheiten besprechen, behutsamen körperlichen Kontakt anbieten, die betreffende Person musikalisch „ummanteln“ (z.B. durch Summen), für Angehörige eine Impro-visation zusammen mit einem Partner anregen oder beieinander sitzen, gemeinsam atmen und schweigen.

Halt geben kann auch Im-Fluss-Halten bedeuten: einen flüchtigen Kontakt er-halten, eine Improvisation im Spielfluss er-halten, einer (musikalischen oder stimmlichen) Äußerung Resonanz geben. Hierbei unterstützt das Halt-Geben vor allem die Beziehungsentwicklung.

4. Es ist erlaubt, „mutig“ zu sein

Es zeigt sich, dass mutige Interventionen des Musiktherapeuten die Be-ziehungsentwicklung, die Lebensqualität und den Therapieprozess positiv be-einflussen. Dazu gehört: neuere Musik aus dem 20. Jh. und zeitgenössische Musik vorzuspielen, unbekannte Musikinstrumente zur Exploration und Im-provisation anzubieten oder die Musiktherapie, wenn es sich ergibt, an einem ungewohnten Ort wie in der Küche oder auf einem Spaziergang durchzuführen.

Bei den Angehörigen waren es besonders die Impulse zum Explorieren der ihnen unbekannten Musiktherapieinstrumente und zur Bewältigung der musikalischen Improvisationsaufgaben (auch in Verbindung mit eigenen Texten), die sie erst herausforderten und dann begeisterten.

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Mutig Impulse zu setzen, ermöglicht den PatientenInn und Angehörigen, Neues zu entdecken, neue Fähigkeiten zu entwickeln und Gefühle von Neugier, Freude und Stolz zu erleben.

5. Entwicklung braucht Zeit

Zwischenmenschliche Beziehung erwächst durch Reifung eines Kontakts zur Begegnung und weiter zur Beziehung. Mit Geduld, Gelassenheit und Aufmerk-samkeit auch für kleine Veränderungen kann dieser Prozess voranschreiten. Diese Entwicklung benötigt Zeit und wird manchmal erst nach Wochen oder Monaten sichtbar. Wesentliche Themen in der Musiktherapie mit Menschen mit Demenz wie beispielsweise die Entwicklung des Selbstbewusstseins oder die Fähigkeit, Verantwortung abzugeben und Hilfe anzunehmen, benötigen viele Wieder-holungen des Spielens und/oder Besprechens, bis aus dem Bearbeiten ein Reifen erwachsen kann.

Patienten und Patientinnen, die zu Therapiebeginn keine oder fast keine Anlagen zu vokaler oder instrumentaler Improvisation zeigen, können auch noch nach Monaten Improvisieren lernen, es mit Freude praktizieren und auf diese Weise Defizite in ihrer Sprachfähigkeit und beim Abrufen von Liedtexten kompensieren.

Deshalb sollte Musiktherapie langfristig, am besten über Jahre oder lebens-begleitend durchgeführt werden. Der Musiktherapeut bzw. die Musiktherapeutin begleitet mit Wertschätzung und sorgt für eine ständige Gestaltung und Ausbalancierung von Nähe und Distanz, damit die Beziehung lebendig bleibt.

Darüber hinaus dokumentiert, interpretiert und reflektiert er/sie das Beziehungsgeschehen.

6. Begegnung darf man genießen

Das gilt für PatientInnen, pflegende Angehörige und TherapeutIn. Begegnung und Beziehung darf man genießen. Über das Singen und Musizieren entsteht schnell ein Kontakt mit positiven Emotionen. Im weiteren Therapieverlauf entstehen zwischen PatientIn und TherapeutIn oder zwischen TherapeutIn und Angehörigen meist auch Momente voller Nähe.

Das Genießen des Beisammen seins, des Gemeinschaftserlebens von Harmonie, Spaß und Humor darf ebenso sein wie traurige Momente, die geteilt werden, und unterstützen die Beziehungsentwicklung.

7. Konflikte haben Vorrang

Potential für Konflikte existiert in der musiktherapeutischen Arbeit mit Menschen mit Demenz zur Genüge. Es handelt sich erfahrungsgemäß meistens um

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matische Auswirkungen der psychopathologischen Symptome, die im Umgang mit den PatientInnen auftreten oder um Konflikte, die in der Angehörigengruppe auftreten können.

Konflikte haben immer Vorrang und sollten angesprochen und bearbeitet werden, um die Therapie oder die Teilnehmer der Angehörigengruppe nicht zu belasten. Zur Lösung ist das Mitbringen von Gelassenheit, Flexibilität und Humor hilfreich. Manchmal ist eine realistische Einschätzung der Situation, dass eine Konfliktlösung nicht immer gelingt kann, notwendig. Dann ist es wichtig, eine Enttäuschung nicht in die Therapie einfließen zu lassen, sondern zur Bearbeitung in die Supervision mitzunehmen.

8. Musik als Kunstwerk schätzen

Das gilt auch für jede kurze und noch so einfache Improvisation. Mit einer wertschätzenden Haltung gegenüber einem „Werk“ des Patienten oder der Patientin kann z.B. gemeinsam die Form betrachtet, auf Anfang und Ende auf-merksam gemacht und gemeinsam nach- oder weitergesungen werden. Das ermöglicht ein vertieftes (Nach)erleben der Improvisation. Eine Behandlung der Improvisation als ein kleines Kunstwerk wirkt beziehungsstärkend und lässt den Menschen mit Demenz Stolz und Freude erleben.

Auf den rezeptiven Bereich bezogen heißt das, Musik nicht als Hintergrundmusik während der Therapie laufen zu lassen. Patienten könnten die Musik nicht bewusst erleben oder sich sogar der Schallquelle ausgeliefert fühlen. Musik sollte bewusst ausgewählt und gemeinsam angehört werden, dann können Blicke, Gesten und Kommentare wahrgenommen und beantwortet werden. Begegnung kann entstehen.

9. Abschied gestalten

Ein (im besten Fall mehrwöchiger) gestalteter Abschied in der Musiktherapie und in der Angehörigenarbeit kann bei den PatientInnen und Angehörigen zum Bei-spiel mit Lieblingsmusiken aus der gemeinsamen Zeit und Gesprächen in Form von Rückblicken sein. Auch bei den Menschen, die sich aufgrund des Schweregrads ihrer Demenz an solchen verbalen Rückblicken kaum oder nicht mehr beteiligen können, kann der Musiktherapeut bzw. die Musiktherapeutin stellvertretend für sie gemeinsame Erlebnisse der Therapie zusammenfassend erzählen. Das hilft, dem Menschen mit Demenz das Therapieende zu verdeut- lichen und rundet den Therapieprozess ab.

Der Abschied kann auch Abschied vom Leben bedeuten. Das Thema kann seinen Ausdruck in der Musik, im Gespräch und im körperlichen Ausdruck finden. Es kann sich im Sich-Zurückziehen der PatientInnen, im Festhalten und Loslassen von Gegenständen (Fotos, besonderen Möbeln), im Zutage-Treten von Gefühlen