• Keine Ergebnisse gefunden

5 Ergebnisse

5.4 Förderung der Beziehungsentwicklung durch gründliche Beziehungsarbeit 117

5.4.3 Die Bedeutung des Improvisierens für die Beziehungserfahrung

Improvisieren fördert intensive Beziehungserfahrung bei Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz

Die neuen Erfahrungen des vokalen oder instrumentalen Improvisierens führten zu einer Erweiterung ihrer seit des Auftretens der Demenz gezeigten Be-ziehungsqualitäten. In der Improvisation gelang es, musikalisch dialogisch zu kommunizieren, indem es zu wechselseitigem Austausch von Motiven, zu vokalen Ergänzungen von Liedteilen und zu musikalischen Frage- und Antwortspielen kam. Es handelte sich immer um ein Geben und Nehmen als eine aufeinander bezogene Interaktion zweier Personen, die sich ihrer Getrenntheit vom anderen bewusst waren und als Dialogpartner agierten.

Der Einstieg in eine musikalische Improvisation vollzog sich meist als ein Übergang aus einem gemeinsam gesungenen Lied oder Instrumentalspiel. Es war der Wunsch der Patientin und des Patienten, die Musik noch zu verlängern, wenn z.B. schon mehrere Strophen eines Lieds gesungen wurden oder sich ein Schluss in einer instrumentalen Improvisation ankündigte. Dieser Wunsch führte zum Antrieb, mit mir noch weiter zu summen, die Melodie weiter zu umspielen oder wenigstens noch Teile eines Refrains immer weiter zu wiederholen.

Die Fähigkeit, sich musikalisch dialogisch zu begegnen, führte zu positiven Gefühlen bei den PatientInnen. Sie brachten nach und nach in kleinen Motiven eigene Ideen ein und hörten diese von mir musikalisch wiederaufgegriffen,

125

entweder ähnlich wiederholt oder auch verändert in das gemeinsame Spielen hineingegeben. Auch Motive meines Singens oder Spielens wurden von den PatientInnen im Musizieren aufgegriffen. So konnte ein Spielraum entstehen, der an ein Gespräch erinnerte, an eines ohne Worte, an ein musikalisches Gespräch.

Die in der musikalischen Improvisation gewonnene dialogische Interaktions-fähigkeit ermöglichte diesen Menschen eine Erweiterung und Verbesserung ihrer Beziehungsfähigkeit und damit ihres Erlebens und ihrer Lebensqualität. Die Zufriedenheit über das gemeinsam Erlebte wurde am Ende oft in einer verbalen oder zumindest stimmlichen Äusserung ausgedrückt. Ein dialogischer Austausch auf einer kognitiven, sprachlichen Ebene war hingegen krankheitsbedingt schon länger nicht mehr möglich (siehe auch Beispiel Nr. 2 Frau Schwan, S. 52).

Beide Improvisierenden konnten von der dialogischen Beziehungsqualität (EBQ Modus 5) zu einer weiteren Differenzierung ihres Erlebens und zur Qualität des interaffektivem Erlebens (EBQ Modus 6) übergehen. Diese Beziehungsqualität war geprägt von persönlichem und emotionalem Ausdruck. Der Spielraum wurde gemeinsam und musikalisch gleichberechtigt ausgestaltet, und Patient bzw.

Patientin und Therapeutin zeigten im Spiel eine interaffektive Verbundenheit (siehe auch Beispiel Nr. 5, Herr Galbert, S. 60).

Alle PatientInnen konnten ihre Lebensqualität durch die musiktherapeutische Behandlung verbessern; die stärkste Verbesserung der Lebensqualität zeigte sich bei den beiden Improvisierenden während des affektiven Austausches beim gemeinsamen Improvisieren. Das vokale oder instrumentale Improvisieren bescherte ihnen beglückende Beziehungsmomente von besonderer emotionaler Tiefe. Auch ein interaffektiver Austausch auf einer kognitiven, sprachlichen Ebene war krankheitsbedingt schon länger nicht mehr möglich.

Nach einer Improvisaton einen kurzen verbalen Austausch anzuregen, in dem der Patient oder die Patientin das eigene Erleben sprachlich ausdrücken konnte, war nur sehr begrenzt möglich, und das dialogische oder interaffektive Be- ziehungslevel aus der Musik konnte anschließend in der Sprache nicht gehalten werden. Durch den Wechsel des Fokus zwischen Musik und Sprache sollte ein variantenreicheres Erleben ermöglicht werden (Weymann, 2004). Darüberhinaus sollte die Sprachfähigkeit angeregt werden. Manchmal zeigten sich die Patienten durch den Wechsel auf die Sprachebene aus ihrem Erleben herausgerissen und irritiert. Ein von mir dann initiiertes Wiedereinsteigen in die Musik ließ sie ihre Irritation aber sofort vergessen, und sie konnten kompetent und freudig in das interaffektive Spiel wieder eintauchen. Ein Wechsel von Sprache zur Musik gelang immer und wurde als entlastend empfunden.

Deshalb drückte ich meist stellvertretend für sie sprachlich aus, wie ich das gemeinsame Musizieren und das Erleben des Patienten und der Patientin wahrgenommen hatte. Sie schienen mich zu verstehen und zuzustimmen. So ließen sich Irritationen und Brüche in den Beziehungsmomenten vermeiden.

Höher entwickelte Beziehungsqualitäten wie die Modi 5 und 6, die durch ein

Ich-126

Du-Bewusstsein in der Interaktivität und ein Wir-Gefühl in der Interaffektivität gekennzeichnet sind, konnten nur mithilfe des Improvisierens erreicht werden.

Gelangten die PatientInnen nicht zum Improvisieren, weil sie meine ent- sprechenden Anreize nicht annehmen konnten oder wollten, blieb das Erreichen dieser Beziehungslevel aus. Offenbar konnte eine dialogische (Modus 5) und affektiv geprägte Beziehung (Modus 6) aufgrund der Krankheitssymptome auf der sprachlichen Ebene bei allen nicht mehr vollzogen werden. Hier schien es vor allem nicht mehr möglich, den anderen als vollwertige Person bewusst wahr- zunehmen und eine theory of mind zu entwickeln.

Diese nicht improvisierenden PatientInnen blieben in dem Beziehungsmodus der Intersubjektivität (Modus 4) stehen, wo sie zwar ein Ich-Du-Empfinden, aber kein Ich-Du-Bewusstsein entwickelten und in einem gemeinsamen Thema mit mir agierten. Ihr emotionales Erleben verlangte nach sozialer Rückversicherung und wurde mit Blickkontakten bestätigt.

Improvisieren fördert intensive Beziehungserfahrung bei Angehörigen

Die Angehörigen äusserten sich ausnahmslos positiv über das Improvisieren an den Angehörigenabenden. Sie selbst drückten aus, dass das Musikmachen die Vertrauensbildung unterstützte, die das eigene Öffnen, das für sie in der Selbst- verantwortung lag, beförderte. Das Musizieren stellte eine Kraftquelle dar und bedeutete für den einen oder anderen von ihnen Psychohygiene. Den per- sönlichen Ausdruck in der Musik zu finden hat alle stolz gemacht: "Ich habe endlich ´mal im Leben den Tiger ´rausgelassen! (Z 24).

Die neue Erfahrung des Improvisierens und das Sich-Ausdrücken-Können im absichtslosen Spiel wirkten auf die Teilnehmer wie eine Selbstbehandlung. In der Atmosphäre des Vertrauens konnten sie sich emotional und körperlich wieder spüren, Resonanz erfahren und ihr Selbstbewusstsein stärken. Das Spiel auf den verschiedenen Trommeln diente häufig als Frustabbau. Eine pflegende Tochter entdeckte die Klänge auf den Gongs und Tam-Tams für sich. Die Zuneigung zu diesen Instrumenten ging so weit, dass sie zuhause für ihre Angehörigen notieren wollte, im Falle einer eigenen dementiellen Erkrankung solch ein Instrument spielen zu wollen.

Die Angehörigen nannten darüberhinaus weitere Funktionen der Musik und des Improvisierens: Musik als Auflockerung, als Teamfinder, als Diskussionsinitiator und als Anstoß zu Entwicklung von Respekt und Toleranz.

Das Improvisieren ermöglichte sehr persönliche Erfahrungen: Eine Teilnehmerin bereitete die Beobachtung Freude, wie sich die Gruppenmitglieder erst in Worten und dann in der Musik ausdrückten und interagierten.

Sie erlebte erheitert in einer anderen Situation eines musikalischen Chaos, wie sie sich beherzt im Sinne von Führen und Folgen zu einem durchdringenden

127

Rhythmus auf einer Trommel entschied und alle Teilnehmer ihr musikalisch folgten.

Ein anderer Teilnehmer sah die Musikinstrumente als Menschen und ordnete sie den Spielern zu. Erleichtert zeigte er sich über die Wahrnehmung, beim Impro-visieren keine Grenzverletzung oder Bedrohung durch ein anderes Instrument erlebt zu haben, was er bei einer Kunsttherapie schon erfahren hatte: "Nie hatte ich das Gefühl, dass jemand in meine Gefühlswelt eingedrungen wäre und mein Gefühl so berührt hätte, dass es mir nicht gut ginge." (Z 25).

Die Improvisationen förderten das Gemeinschaftserleben auf besondere Weise.

Das musikalische Team bildete sich durch aufeinander Hören und Achten beim absichtslosen und freudigen Spiel. In den Improvisationen konnten gemeinsame Schwingungen erlebt und die vereinende Zugkraft des rhythmischen Musizierens erlebt werden. Besonders beeindruckt zeigten sich die Angehörigen vom Spielen an der Tischtrommel, und ein Angehöriger beschrieb eine Gruppenimprovisation als "von wenig Zutrauen und wenig Aktion zu tragendem, alle ansteckendem Rhythmus". (Z 26).

Das Gemeinschaftserleben wurde in der Musik als stärker als in den Gesprächsteilen der Angehörigenabenden angesehen:" Im gemeinsamen Spiel wird trotz der eigenen Geschichte eine gewisse Gemeinsamkeit erzeugt, die sich aber dann in der Sprache, in dem Gespräch auch ein Stück weit wieder auflöst."

(Z 27).

Im Gespräch existierte nach Ansicht eines Teilnehmers hingegen eine Reduzierung auf das Kognitive.

Das Improvisieren führte zu Freude an den musikalischen Kontakten untereinander. Mit zunehmender Erfahrung beim Improvisieren wuchs der eigene Anspruch und der an die musizierende Gruppe: Es ging nicht mehr nur um das Erleben eines gemeinsamen Schwingens, sondern die Durchsichtigkeit in der Musik sollte erhalten, Strukturen in den Verläufen erkennbar, einzelne musi-kalische Aktionen hörbar und eventuell beantwortet werden.

Die Improvisationen wurden als kleine Kunstwerke empfunden und so behandelt.

Oft wurden gemeinsam Titel gesucht und nicht nur das persönliche Erleben sondern auch das musikalisch Gehörte besprochen. Die Improvisationen veränderten sich nach den ersten Abenden. Das Bedürfnis des blossen Für-Sich-Spielens wurde bei den meisten weniger, aber dafür stieg das Interesse an improvisatorischen Gestaltungsaufgaben wie z.B. Gefühle, Musik und Wort miteinander zu verbinden.

Dies führte ab dem ca. siebten Treffen zu lebhaften Diskussionen, woraus sich manchmal eine weitere Improvisation entwickelte, dann oft mit einem herausgegriffenen Aspekt aus der vorangegangenen Improvisation. Das konnte z.B. der Fokus auf den Schluss oder auf den Grad des Miteinander- oder Nebeneinander-Spielens, auf einen bewusst anders gestalteten Ausdruck oder

128

eine andere Besetzung sein. Dabei kam es oft zu Überraschungen, die wiederum in der Gruppe thematisiert wurden.

Das Improvisieren förderte die Persönlichkeitsentwicklung. Es zeigte sich, dass sich ein wachsendes Zutrauen zur Lösung der Gestaltungsaufgaben parallel zur steigenden Begeisterung beim Improvisieren entwickelte. Das Selbstbewusstsein vergrößerte sich, die Herausforderungen des Improvisierens wurden an-genommen. Nach Bewältigung der manchmal auch gemeinsam beschlossenen Aufgaben in der Improvisation waren die Teilnehmenden begeistert und stolz:

"Diese Herausforderungen anzunehmen – das fand ich toll!" (Z 28). - "Ich bin richtig stolz, was wir da gemeinsam geleistet haben!" (Z 29).

Einige Teilnehmer konnten die neue Erfahrung des Improvisierens als Fähigkeit mitnehmen, in ihrem Alltag in stressigen Situationen mit dem Erkrankten gelassener und kreativ umzugehen. So stimmten sie z. B. ein Lied an oder er-fanden kleine, zur Situation passende Sprüche, die zum Mitmachen einluden, die Atmosphäre verbesserten und zu einer Vermeidung von Eskalation beitragen konnten.