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4 Die PatientInnen und ihre Angehörigen

4.2 Die Angehörigenarbeit

4.2.2 Die musiktherapeutische Angehörigengruppe

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und weniger als bereits umgesetzt an. Seine emotionale Annäherung bewegte sich, wie er es beschrieb, (noch) im Inneren als noch nicht abgeschlossener Prozess und ohne dass er eine Veränderung im Alltag greifbar sah. Im Alltag zeigte sich das in weniger dominanter Umgangsweise mit ihren erwachsenen Kindern: "Ich erlebe meine Mutter weicher, weicher noch als vor einem Jahr."

(Z 19).

Der pflegende Sohn von Herrn Stetter: Herr Stetter jun.

Der pflegende Sohn, Herr Stetter jun., lebte allein in seiner Wohnung in derselben Straße wie seine Eltern. Er besuchte sie jeden Abend und an den meisten Wochenenden. Seine Schwester hatte keine enge Beziehung zu den Eltern, doch Herr Stetter jun. pflegte mit ihr einen regelmäßigen Austausch über die Eltern.

Herr Stetter jun. profitierte von den Tipps aus der Angehörigengruppe. Er zeigte sich erstaunt und begeistert über die angenehme Gruppenatmosphäre, in der es im Gegensatz zum privaten Kreis möglich war, mit fremden Menschen über dieses intime Thema offen zu sprechen: "Man konnte über dieses Thema ganz offen sprechen, als ob man sich schon ewig kennt." (Z 20).

Seine Freude an den gemeinsamen Improvisationen entstand erst im Laufe des Spielens, da ein hektischer Bürotag ein Sich-Einlassen erst einmal erschwerte und er die Musik manchmal als "nervtötend" empfand. Er machte aber die Erfahrung, dass es meist etwas dauerte, bis sich dann doch Harmonie in der Musik entwickelte, die ihm Spaß bereitet hat.

Sich im Anschluss an die Gruppenimprovisation verbal mit den eigenen Gefühlen und denen der anderen Teilnehmer auseinanderzusetzen, war für ihn eine Erfahrung, die er als "extrem neu" bezeichnete. Als interessant erlebte er dabei die Selbst- und Fremdeinschätzung der Teilnehmer bezüglich einer gelungenen Umsetzung der musikalischen Aufgaben, und er beteiligte sich eifrig an den Diskussionen. Die Angehörigenabende hatten für ihn immer eine positive, entlastende Wirkung: "Der Tag war so abgewaschen worden." (Z 21).

In der Familie konnte Herr Stetter jun. keine Veränderung durch die Musik-therapie feststellen, nicht in der Kommunikationsfähigkeit seines Vaters und nicht in Bezug auf etwaige Reaktionen nach dem Musikhören.

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Abende etwa hälftig in einen Gesprächsteil und in einen Musikteil, deren Reihenfolge beliebig war.

In den aufgeführten Beispielen wird auch von Patienten und deren pflegenden Angehörigen zu lesen sein, die trotz Teilnahme am Forschungsprojekt nicht zur Auswahl für diese vorliegende Arbeit ausgewählt worden sind. Sie waren aber Bestandteil der Angehörigengruppe und wurden wegen einer möglichst genauen Wiedergabe des Gruppengeschehens hier mit aufgeführt. Ihre Namen wurden wie die der ausgewählten Patienten und ihrer pflegenden Angehörigen geändert.

Der Gesprächsteil in der Angehörigengruppe

Hier fand das gemeinsame Ankommen im Raum statt. Im Stuhlkreis sitzend tauschten sich schon vor offiziellem Beginn des Treffens einige Teilnehmer aus.

Nach der Begrüßung berichtete jeder von seiner Alltagssituation, oft von Neuigkeiten und Veränderungen seit dem letzten Treffen ein Monat zuvor. Dabei traten die großen physischen und psychischen Belastungen durch die Pflege zutage.

Im Gesprächsteil konnten Tipps zur Bewältigung schwieriger Alltagssituationen mit dem Patienten erarbeitet werden, wobei die Angehörigen untereinander als Experten fungierten und andere an ihrem Erfahrungschatz oder ihren inzwischen angeeigneten Kenntnissen teilnehmen ließen. Wenn es manchmal keine kon-krete Problemlösung oder ein Hilfsangebot geben konnte, sollte wenigstens das Erzählen der Probleme in einer vertrauensvollen Gruppenatmosphäre psychische Entlastung bringen.

Der Musikteil in der Angehörigengruppe

Bei dem Musikteil handelt es sich um ein angeleitetes Kommunikationstraining mit musiktherapeutischen Mitteln. Der Musiktherapieraum war mit einem reichhaltigen Instrumentarium bestückt, einige Musikinstrumente hatte ich immer vor Beginn der Abende ansprechend und einladend um den Stuhlkreis herum platziert. Für den ersten Angehörigenabend hatte ich mir gleich einen Einstieg in ein erstes Improvisieren mit den Musikinstrumenten vorgenommen.

Beispiel Nr. 21 „Das Abenteuer beginnt“ (1. Angehörigentreffen)

Zehn Angehörige betreten zum ersten Mal den Musiktherapieraum und nehmen im Stuhlkreis Platz. Es sind Ehemänner, Ehefrauen, Töchter und Söhne der Demenzerkrankten im Projekt. Ihr erkrankter Ehepartner bzw. Elternteil hat bereits einige häusliche Musiktherapiestunden erhalten, doch heute sind sie selbst an der Reihe, eigene musikalische Erfahrungen zu machen. Einige von ihnen bestaunen schweigend die Instrumente, andere haben schon eine Unterhaltung

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mit gedämpfter Stimme mit dem Sitznachbarn begonnen. Eine Frau ist aufgestanden und probiert leise einige Musikinstrumente aus. Im Raum schwebt eine spürbare Anspannung, aber auch Neugierde.

Nach meiner Begrüßung werden die Teilnehmer gebeten, sich zu Paaren zusammenzufinden, um sich gegenseitig je ca. fünf Minuten lang zur Person zu befragen. Anschließend stellt jeder den anderen Partner der Gruppe vor. Diese Technik ist allen unbekannt und sorgt sogleich für Erheiterung. Es sind knappe Vorstellungen zu hören, aber einige haben sich auch schon Details gemerkt und kommen ins Erzählen. Die Stimmung ist nun heiter und nur noch wenig angespannt.

Als nächstes gibt es eine Fragerunde: Mit welchen Wünschen oder Erwartungen sind alle gekommen? Als Antwort kristallisieren sich drei Themen heraus: Alle möchten „etwas von der Situation der anderen erfahren“. Zwei Teilnehmerinnen erhoffen sich, ihre „Fehler“ (wie sie es selbst formulieren) besprechen zu können.

Sieben Angehörige möchten mehr über die Musik und die Musikinstrumente erfahren, wenngleich sie dazu versichern, „nichts zu können“ und „unmusikalisch“

zu sein.

Die meisten der anwesenden Angehörigen fühlen sich in der Pflegesituation allein. Sie müssen sich nicht nur in ein oft bis dahin völlig unbekanntes Arbeitsgebiet einarbeiten, sondern erleben auch, wie sich andere Menschen, Freunde und Bekannte, mehr und mehr von der Familie zurückziehen.

Andere Teilnehmer der Gruppe drücken den Wunsch aus, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die aufgrund der ähnlichen Lebenslage Verständnis für die eigene Situation aufbringen können. Frau Galbert reagiert immer wieder mit Schimpfen, wenn ihr Mann etwa nur halb angezogen das Haus verlassen will oder bei gemeinsamer Essensvorbereitung den Salat ungewaschen und noch sandig in die Schüssel füllt.

Frau Ayaz bedient ihre Mutter den ganzen Tag, sodass diese sich kaum mehr bewegt. Beiden ist bewusst, dass sie sich anders verhalten sollten, wissen aber nicht genau, wie sie etwas im Alltag ändern könnten und erhoffen sich Tipps und Erfahrungswerte anderer Betroffener.

Zum Zeitpunkt des ersten Angehörigentreffens haben in den Familien bereits einige häusliche Musiktherapiestunden stattgefunden, die zu den ersten positiven Reaktionen führten. So erwähnt Herr Weiss, dass seine Mutter, die abends normalerweise besonders unruhig wird, am Tag der Musiktherapie noch für Stunden gut gelaunt bleibt und abends keine beruhigenden Medikamente benötigt. Herr Schwan berichtet, dass seine Frau, seit sie Musiktherapie erhält, wieder besser sprechen kann. Diese Beobachtungen haben neugierig gemacht:

auf Musiktherapie allgemein und speziell auf das Musikmachen. Die vielen (auch fremden) Musikinstrumente im Raum wirken verlockend, lösen bei manchen aber auch Scheu aus. Es wird aus der Runde mehrfach betont, dass man selbst keine Fähigkeiten zum Musikmachen habe.

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Mir ist es wichtig, dass nun der Kontakt zu den Musikinstrumenten im Raum in den Vordergrund rückt. Die Spielanweisung lautet: „Ich bitte Sie nun alle aufzustehen und sich im Raum etwas umzusehen. Probieren Sie gern alle die Musikinstrumente aus, die Sie interessant finden.“ In den nächsten 25 Minuten schlendern die meisten Teilnehmer von Instrument zu Instrument im Raum umher, spielend, entdeckend. Die meisten bleiben dabei für sich, andere tauschen Blicke.

Frau Ayaz ist auf ihrem Stuhl sitzen geblieben und hält ihre Arme verschränkt.

Frau Galbert hat sich eine Ocean Drum an ihren Platz geholt und probiert erst vorsichtig, dann mutiger und schwungvoller, die Metallkügelchen von einer zur anderen Seite rollen zu lassen. Der rauschende Klang begeistert sie offensichtlich.

Als sie schräg gegenüber Frau Ayaz ohne Instrument und ängstlich-misstrauisch blickend entdeckt, wechselt sie den Platz, setzt sich neben sie in den Stuhlkreis und drückt ihr die Ocean Drum in die Hand: „Hier, probieren Sie, das klingt toll!“

Frau Ayaz spielt vorsichtig auf dem Instrument, und so sind alle mit Musikmachen beschäftigt.Das Klanggeschehen im Raum ist struktur- und beziehungslos und recht laut. Aber im Schutz dieses Klanges gehen alle weiter interessiert auf musikalische Entdeckungsreise.

Allmählich haben sich die meisten für ein bestimmtes Instrument entschieden:

Fünf Teilnehmer haben ein Musikinstrument mit an ihren Platz genommen und spielen zufrieden auf der Kalimba, einem Paar Zymbeln oder einem Sopranglockenspiel. Frau Böcklin steht an den Gongs, schlägt mit Fingern und verschiedenen Schlägeln immer wieder die Instrumente an und lauscht dabei lächelnd und versonnen. Herr Schwan beendet seine Runde durch den Raum an der Marimba und beginnt von dort aus einen vorsichtigen, musikalischen Kontakt zu Herrn Weiss an den Congas. Dieser lacht und versucht, sein Spiel Herrn Schwans Metrum anzunähern; nun lachen beide. Nach und nach nehmen alle wieder Platz, es wird leiser, dann spielt schließlich niemand mehr. Stille.

Ich bitte alle um eine kurze Schlussrunde: „Was war Ihnen heute Abend am Wichtigsten ?“ „Das war schön. Und toll die Instrumente!“– „Ich habe mich dann doch getraut.“–„Ich habe heute schon mein Lieblingsinstrument gefunden.“– „Wir müssen das nächste Mal aber besser aufeinander hören!“

Nachbetrachtung zum Beispiel Nr. 21:

Die Angehörigen erlebten am ersten Abend unterschiedliche Gefühle: In einem fremden Raum, zusammen mit fremden Menschen zeigten sie sich erwartungsvoll und zurückhaltend. Die unbekannten Musikinstrumente lösten Respekt und Neugierde zugleich aus. Durch das Vorgespräch wußten sie, dass sie hier nicht nur reden, sondern auch selbst Musik machen würden. Das war nicht für alle vorstellbar, besonders diejenigen ohne musikalische Vorbildung oder mit negativen Erinnerungen an das Schulfach Musik oder ohne den privaten Instrumentalunterricht spürten auch Leistungsdruck und Versagensängste.

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Die Gemeinsamkeit ihrer Situation (die häusliche Pflege im Alltag und auch das heute hier noch Fremdsein) wirkte beruhigend. Die erste Aufgabe des sich Einander-Vorstellens, mit der niemand vertraut war, gelang in einer freundlichen, zunehmend gelösten Atmosphäre und führte zu ersten Momenten des Miteinander-Lachens.

Ich führte niederschwellig an die Musikinstrumente heran. Dabei nutzte ich deren hohen Appellcharakter und hielt die Spielanweisung, nach eigenem Gut-dünken herumzuprobieren, frei von jeglicher Leistungserwartung. Diese Heran-gehensweise funktionierte, und alle Teilnehmer probierten die Instrumente aus.

In der fremden Situation, in der zunächst jeder auf sich bezogen war, wurden allmählich erste Kontaktfäden gesponnen: So ermunterte eine Teilnehmerin eine andere, ein Instrument zu erproben, und ein Teilnehmer versuchte, von der Marimba aus eine erste musikalische Begegnung herzustellen. Der Versuch einer Kontaktaufnahme wurde vom anderen bemerkt und erwidert und mündete in ein gemeinsames Lachen. Schließlich war die Schlussbemerkung einer Teilnehmerin, es sollte beim nächsten Musizieren besser aufeinander gehört werden, ein erstes Anzeichen für den Prozess einer Gruppenfindung.

An den weiteren Abenden bildete sich eine zweiteilige Form des Abends heraus und erwies sich als sinnvoll: Zuerst ein Gesprächsteil von etwa 30 bis 45 Minuten Dauer, anschließend ein Musikteil von ca. 45 Minuten und zum Schluss ein Nachgespräch mit Ausblick auf die nächste Stunde oder auch nur ein kurzes Blitzlicht. Doch die Gestaltung blieb flexibel, es gab an manchen Abenden so viel Gesprächsbedarf, dass nur Zeit für eine kurze Improvisation oder ein gemeinsam gesungenes Lied blieb. Dann wiederum gab es Abende, an denen die Gruppe gleich so tief in die musikalische Improvisationsarbeit einstieg, sodass anschließend keine weiteren Themen besprochen wurden wie im nachstehenden Beispiel. Nr. 22.

Beispiel Nr. 22

10. Stunde. Die Stühle stehen wie immer zu Beginn des Angehörigenabends im Kreis, denn meist wurde zur Entlastung mit einer Erzählrunde aus den vergangenen Wochen begonnen.

Heute haben sich nur zwei Teilnehmer hingesetzt, die anderen sechs stehen verteilt im Raum und probieren die Instrumente. "Können wir heute mal mit Musik anfangen?" fragt eine pflegende Tochter, "ich bin so zu, da muss was raus!" Alle sind damit einverstanden. Der Sohn einer Patientin schlägt vor: "Dann suchen wir uns aber ein Thema." - "Nö..." tönt jemand aus der Gruppe, dieser Vorschlag kommt nicht so richtig an. Der Ehemann einer Patientin versucht zu vermitteln: "Na, wir könnten ja ohne Thema beginnen, achten aber alle auf den Schluss --- so wie wir das schon gemacht haben." - "Und auf den Anfang", wirft die Ehefrau eines Patienten ein. Inzwischen sind alle aufgestanden und haben sich

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ein Instrument genommen. "Ja, und nicht jeder fängt irgendwie an..." murmelt noch jemand aus der Ecke.

Selten folgte der Musikteil zusammenhangslos im Anschluss an den Gesprächsteil, sondern entwickelte sich aus den Bedürfnissen, die aus den vorangegangenen Themen entstanden waren. Das konnte der Wunsch sein, ein starkes Gemeinschaftsgefühl musikalisch ausdrücken zu wollen oder im Fürspiel einem Gruppenmitglied empathisch zu begegnen. Im nachstehenden Beispiel Nr. 23 erhielt eine Teilnehmerin in einer Zweierimprovisation mit einem selbst- gewählten Spieler Trost und Zuwendung.

Beispiel Nr. 23

Frau Berger sitzt verzweifelt und hilflos auf dem Stuhl in der Runde. Die Belastungen mit dem 100jährigen Vater trägt sie allein und nun werden sie zu groß. Im Gespräch hat sie von den Teilnehmern Verständnis für ihre Situation erfahren und Anregungen erhalten, welche Hilfsangebote sie sich für die Pflege und Betreuung organisieren kann und auch sollte. Sie selbst spürt auch, dass es Zeit für eine Entlastung in ihrem Alltag geworden ist und hat sich zu den Tipps aus der Runde einige Notizen gemacht.

Nun geht es darum, sie weiter emotional zu stabilisieren. Ich lade sie ein, ihr momentanes Empfinden auf einem Instrument auszudrücken. Eigentlich improvisiert Frau Berger gern, aber jetzt bleibt sie sitzen und blickt ratlos zu den Instrumenten im Raum. Nach einer Weile frage ich sie, ob sie sich vorstellen kann, einen Spielpartner aus der Gruppe zu wählen und auch sein Instrument zu bestimmen. Sie bittet Herrn Schwan die Pauken zu spielen, und er erklärt sich sogleich dazu bereit. Sie selbst wählt ein Glockenspiel und legt es auf ihre Knie.

Herr Schwan beginnt einen monotonen Rhythmus im Vierertakt aus Viertel, zwei Achteln, zwei Vierteln zu spielen. Der Klang ist gut hörbar, aber wegen der weichen Schlägel nicht aufdringlich. Es dauert eine Weile, bis auch das Glockenspiel leise zu hören ist. Zunächst spielt Frau Berger zaghaft und bricht die kurzen Motive schnell wieder ab. Sie blickt zu ihm. Herr Schwan hält seinen Rhythmus durch und motiviert Frau Berger, ihr Spiel fortzusetzen.

Sein rhythmisches Ostinato wirkt wie gleichmäßige Schritte voller Ruhe und Verlässlichkeit. Frau Berger findet in seinem Spiel eine Stütze und gestaltet nun längere melodische Motive. Schließlich haben sich die beiden Spielpartner eingespielt, variieren die Dynamik leicht und finden nach einem Ritardando einen gemeinsamen Schluss. Beide lächeln einander an, und Frau Berger bedankt sich.

Die Gruppenentwicklung schritt kontinuierlich fort. Das Vertrauen wuchs, sodass die Teilnehmer sich nicht scheuten, Persönliches und manchmal Intimes zu

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berichten, und sich trauten, sich auch einmal hilflos und verzweifelt zu zeigen.

Das Improvisieren auf den Musikinstrumenten wurde zu einem festen und gerngesehenen Bestandteil der Abende. Die Teilnehmer sollten durch die Gestaltungsaufgaben inklusive der Nachgespräche Gelegenheit erhalten, in den Improvisationen Ideen zu entwickeln und diese durch differenziertes Hören und durch Klarheit im eigenen Spiel verdeutlicht ausdrücken zu können.

Das nachstehende Beispiel Nr. 24 zeigt den Ablauf eines Angehörigentreffens vom Gesprächsteil am Anfang bis zur Gemeinschaftsimprovisation mit Nach- gespräch und steht hier bei aller Individualität der Abende als ein typisches Beispiel für ein Angehörigentreffen.

Beispiel Nr. 24 „Goldwäscher im lebendigen Fluss“ (7. Angehörigentreffen)

Sieben Angehörige sind heute gekommen. Für die meisten ist es der siebte von zwölf Abenden; man kennt sich, und einige haben bereits Fahrgemeinschaften gebildet. Der Appellcharakter der verschiedenen Gongs oder des Marimbafons verlocken den einen oder anderen bereits zu einem leisen Spielen.

Doch zunächst ist der Gesprächsbedarf so groß, dass wir mit einer Berichtsrunde beginnen. Frau Bayer berichtet von ihrem 101-jährigen Vater, der mittlerweile sehr ängstlich und schreckhaft geworden ist. Schon die Ankündigung des bevorstehenden Abendessens oder eines Telefonats versetzt ihn in Aufregung.

Immer wieder überrascht und fassungslos ist er angesichts des mehrere Jahre zurückliegenden Todes seiner Frau. Die Tochter verspürt Wut, „dass er sich so gehen lässt“, denn auch sie habe den Verlust der Mutter noch nicht verarbeitet und gleich in der Pflege des Vaters „funktionieren“ müssen.

Andere Teilnehmer berichten von Verschlechterungen des Zustands bei ihrem Angehörigen und der wachsenden Belastung in der Bewältigung des Alltags. Herr Schwan kommt immer abwechselnd in Begleitung eines seiner Kinder und hat heute wieder die Tochter mitgebracht. Auch er, der sonst so in sich ruhend erscheint, ist heute sichtlich gestresst: „Ich kann nicht mehr richtig schlafen, ich muss meine Frau mehrmals nachts zur Toilette begleiten. Und dann ist es oft doch zu spät, und ich muss auch noch das Bett in der Nacht neu beziehen. Ich weiß nicht, wie lange ich das alles noch machen kann.“ Die Tochter ist besorgt um die Gesundheit ihres Vaters und erwähnt, dass beide Kinder schon seit Monaten auf ihn einreden, er solle sich eine Vollzeitpflegekraft ins Haus nehmen; ein freies Zimmer sei vorhanden.

Herr Strauch, der seine Mutter pflegt, hat erprobte Tipps zu speziellen Bettunterlagen. Herr Mühlbeck hat inzwischen eine polnische Pflegekraft für seine Frau engagiert, und er fühlt sich dadurch deutlich entlastet. Viele Fragen hierzu tauchen aus der Gruppe auf, und Herr Mühlbeck berichtet gern von seinen Erfahrungen.

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Als der Wunsch der Teilnehmer nach Musik deutlich wird und in den zweiten Teil des Abends überleitet, beginnt geschäftige Bewegung im Raum: Jeder holt sich ein Instrument oder begibt sich zu ihm hin, das Vibrafon wird in Reichweite der Steckdose geschoben, passende Schlägel werden nach Ausprobieren gefunden, Plätze an den Röhrenglocken ausgehandelt. Eine Teilnehmerin sucht das „große, runde Fellding“ – nun, die Tischtrommel ist zur Reparatur, aber mit der Auswahl einer Trommel aus dem Fundus nebenan kann sie zufriedengestellt werden.

Das Thema für die Improvisation scheint alle zu einen: „Etwas zur Beruhigung, etwas, das Kraft gibt und entspannt“ sind die heutigen Wünsche. Leise, vorsichtig und etwas unentschlossen beginnt die Musik. Nach einigen Minuten tritt die erste Veränderung ein: Die einzeln hingetupften Töne, Rhythmen und Klänge finden eine hörbare Struktur, als ob sie sich einordnen wollen in etwas Gemeinsames und Ganzes. Die Dynamik bewegt sich wellenartig zwischen Pianissimo und Mezzoforte, ein ruhiger Strom, auf dem alle gleiten. Eine Teilnehmerin an der Big Bom wechselt von den garnumwickelten auf weiche Filz-Schlägel: „Ich wollte es besser schwimmen lassen“, wird sie später bemerken. Als die Musik zweimal zu verebben scheint, ist es beide Male Herr Schwan, der an seinem zweireihigen Xylofon stehen bleibt und weiter sein kleines, chromatisches Ostinato durchhält.

Nach und nach steigen alle anderen wieder mit ein, und diesmal legt Frau Bayer ihre Sansula beiseite, holt sich eine Altblockflöte aus dem Schrank und beginnt eine Melodie. Dabei wechselt sie im Modus zwischen Dorisch und Moll, erst in langgezogenen Kantilenen, doch auf einmal fröhlich, schneller, und die Gruppe zieht mit: Die Congaspielerin wird prägnanter; die zwei Teilnehmer an den Röhrenglocken drehen ihre Schlägel um und spielen mit der Stickseite jetzt klarer.

Es ist ein Tanz geworden, fast schon wild; Blicke werden untereinander getauscht, und Lächeln macht sich auf den Gesichtern breit. Und nach einer Weile senkt die Flötistin ihr Instrument; ohne führende Melodie nimmt sich auch die Trommel zurück; überall quirlt und brodelt es noch ein bisschen, dann endet die Musik, und es ist still.

Leise haben alle wieder im Kreis Platz genommen – schön, dem Klang noch etwas nachzuspüren. „Dass wir das können!“ ist dann die erste Reaktion aus der Gruppe. Kann das Erlebte benannt werden? Jeder soll ein oder zwei Wörter dazu finden und in die Runde geben. Nicht der Reihenfolge nach, sondern jeder dann, wenn er meint, jetzt „dran“ zu sein. In die Stille fallen unter anderem die Worte:

„Tropfen funkeln“, „einfach herrlich“, „Goldwäscher“, „so lebendig“, „ein Fluss“. Die Worte werden in die Stille hinein gesprochen, es kann für manche Überwindung bedeuten, sich so solistisch zu äußern, andere genießen den kleinen Auftritt. „Das ist ja wie im Theater“, bemerkt eine Teilnehmerin beeindruckt.

Kann zum Abschluss des Abends noch ein Titel für die Musik gefunden werden?

Und schnell herrscht Einigkeit in der Gruppe: „Goldwäscher im lebendigen Fluss.“