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3 Auswertungsmethodik

3.2 Audiovisuelle Daten Videoanalyse

3.2.1 Das EBQ-Instrument Einschätzungsskala Beziehungsqualität

Analysiert wurden die Videos nach dem EBQ, der Einschätzungsskala Be-ziehungsqualität. Das EBQ-Instrument wurde von Schumacher und Calvet (Schumacher, 2000) entwickelt, und zwar als Evaluierungsinstrument für Kinder mit Autismus-Diagnose und anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen.

Später wurde eine Beschreibung des EBQ mit Praxisbeispielen auf beiliegender DVD publiziert (Schumacher, Calvet & Reimer, 2011). Das EBQ basiert auf folgenden theoretischen Grundlagen der Entwicklungspsychologie: dem Selbst-konzept von Stern (2007), der Verhaltensorganisation von Brazelton (1973) und Als (1986), der Bindungstheorie von Bowlby (2001a) und in der Weiterent-wicklung von Grossmann (1997) sowie Grossmann und Grossmann (2004), der sozial-emotionalen Entwicklung von Sroufe (1997) und der neueren Hirn-forschung von Hüther (2003).

Beziehungsfähigkeit gehört zur angeborenen Ausstattung eines Menschen. Die Qualität einer zwischenmenschlichen Beziehung ist gekennzeichnet durch den Grad an gegenseitigem Einfühlungsvermögen. Das Selbstkonzept Sterns hilft, die

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Entwicklungsstufen, die zu einer guten Beziehungsqualität führen, in ihrem schrittweisen Aufbau zu berücksichtigen. Stern unterscheidet vier Phasen, in denen sich das Selbst entwickelt. Diese Phasen entstehen nacheinander und bleiben bis zum Lebensende bestehen; sie werden nachstehend aufgeführt und kurz beschrieben (Stern, 2007):

• Das Empfinden eines auftauchenden Selbst

• Das Empfinden eines Kernselbst

• Das Empfinden eines intersubjektiven Selbst

• Das Empfinden eines verbalen Selbst

Das Empfinden eines auftauchenden Selbst

Der Ursprung dieser Phase liegt in der pränatalen Zeit. Säuglinge sind bereits in der Lage, mit ihren Fähigkeiten zu Wahrnehmung und Erleben, Blickkontakt zur Kontaktperson herzustellen und Verhalten nachzuahmen.

Das Empfinden eines Kernselbst

Das Kernselbst beginnt ebenfalls in der vorgeburtlichen Zeit und beinhaltet die Urheberschaft, Kohärenz und Kontinuität des Selbst. Hier entwickelt sich auch das Selbst in Resonanz eines Anderen. Affekte müssen durch den Anderen reguliert werden, den der Säugling noch nicht als Person, sondern als Sicherheit gebende Umrahmung wahrnimmt.

Das Empfinden eines intersubjektiven Selbst

Zwischen dem siebten und neunten Lebensmonat können Säuglinge ihre Gefühle mit denen des Anderen in Verbindung bringen, was zu einem gemeinsamen Erleben führt. Für das Erreichen dieser Intersubjektivität werden drei Merkmale sichtbar: eine gemeinsame Aufmerksamkeit (Interattentionalität), eine inten-tionale Gemeinsamkeit (Interintentionalität) und ein gemeinsames Erleben von affektiven Zuständen (Interaffektivität).

Das Empfinden eines verbalen Selbst

Im zweiten Lebensjahr beginnt beim Kleinkind die Sprache. Der Erwerb des neuen Mediums des Austausches bedeutet eine Erweiterung des interpersonalen Erlebens und der Möglichkeit, mit Worten neue Bedeutungen zu erlangen.

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Gleichzeitig können nach Stern auch Nachteile entstehen: Durch die Sprache kann das eigene Erleben auf eine unpersönliche und abstrakte Ebene reduziert werden.

Die Theorie des EBQ-Instruments bezieht auch das Konzept der Feinfühligkeit nach Ainsworth (2003) mit ein. Mary Ainsworth versteht unter dem Begriff der Feinfühligkeit (maternal sensivity) die Qualität der Reaktionen der Mutter (oder anderer Bezugspersonen) auf die Bedürfnisse des Kleinkindes. Die vom Kind aus-gesendeten Signale sollten im Idealfall umfassend wahrgenommen und prompt und angemessen beantwortet werden. Dazu gehört, zur Verarbeitung notwen-dige Pausen, die sich in einem kurzfristigen Abwenden des Kindes äussern, nicht als Ablehnung der eigenen Person zu interpretieren und Blickkontakt wiederein-zufordern. Vielmehr ist es richtig, gelassen und aufmerksam zu warten, bis das Kind wieder von sich aus den Blickkontakt wiederaufnimmt.

Das EBQ-Instrument besteht aus vier Skalen:

• Therapeutenskala (TBQ)

• Skala des körperlich-emotionalen Ausdrucks (KEBQ):

• Skala des instrumentalen Ausdrucks (IBQ)

• Skala des vokalen Ausdrucks (VBQ)

Eine fünfte Skala für den sprachlichen Ausdruck (SBQ) befindet sich in Vorbereitung.

Jede Skala enthält Hauptmerkmale, die die Beobachtungsschwerpunkte festlegen, das sind u.a:

• TBQ): Ausgangspunkt, Affektlage des Therapeuten, Arbeitshypothese, Intervention und deren Gerichtetheit, musikalische Mittel, Spielraum

• KEBQ: Beziehung, Körperkontakt, Affekt, Blick

• IBQ: Instrument, Objektbezug, musikalische Mittel, Spiel-/Tonraum

• VBQ: Stimme, intra-/interpersonelle Beziehung, stimmlich-vorsprachliche Ausdrucksmittel

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Die Beziehungsqualität wird in sieben Modi (von 0 bis 6) eingeteilt:

• Modus 0: Kontaktlosigkeit/-abwehr/Pause

• Modus 1: sensorischer Kontakt/Kontakt-Reaktion

• Modus 2: funktionalisierender Kontakt

• Modus 3: Kontakt zu sich selbst/Selbsterleben

• Modus 4: Kontakt zum Anderen/Intersubjektivität

• Modus 5: Beziehung zum Anderen/Interaktivität

• Modus 6: Begegnung/Interaffektivität

Wenn man das EBQ-Instrument von der Zielgruppe Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen auf Menschen mit Demenz übertragen will, ist die veränderte Ausgangslage zu berücksichtigen: Entwicklungsgestörte Kinder sollen in der Musiktherapie linear aufbauend weitere Beziehungsqualitäten erreichen, bei Menschen mit Demenz gehen wir hingegen davon aus, dass sie bereits alle Beziehungsqualitäten in ihrem Leben erreicht haben und nun aufgrund ihrer Krankheit den Zugang zu allen oder einigen verlieren. Ein musiktherapeutisches Beziehungsangebot soll demnach mit abgestimmten (und nicht überfordernden) Interventionen die PatientInnen unterstützen, ihr Repertoire an Beziehungs- qualitäten zu erhalten und wieder zu erweitern. Eine solche Angemessenheit zu erreichen ist ein Zweck des Einsatzes des EBQ-Instruments. Es soll ein (Klang)-Raum bereitgestellt werden, in dem Begegnung auf individuellem Anspruchs- niveau angeboten wird. Außerdem sollen mithilfe der Skalen Entwicklungen und Verläufe dokumentiert werden können.

Ich nenne als nächstes adäquate musiktherapeutische Interventionsformen für die Arbeit mit Menschen mit Demenz unter Berücksichtigung der einzelnen Modi:

Modus 0: Kontaktlosigkeit/-abwehr/Pause

Musik hat die Funktion des Einhüllens, es werden kein direktes Kontaktangebot an die PatientInnen gemacht und auch keine Reaktion erwartet. Mit viel Zeit wird ihnen die Möglichkeit gegeben, sich in der Musik mit lang klingenden Instru-menten und Stimme in ihrem So-Zustand angenommen und geborgen zu fühlen.

Modus 1: sensorischer Kontakt/Kontakt-Reaktion

In diesem Modus tauchen erste, kleine und zufällige Reaktionen oder Äußerungen der PatientenInnen auf und werden von der TherapeutInnenseite

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her spontan beantwortet. Als Vorstufe zum Kontakterleben im Modus 3 (Selbsterleben) verstanden sind Impulse vom Musiktherapeuten oder von der Musiktherapeutin notwendig, um eine Hilfestellung für die Wahrnehmung der Bedürfnisse der PatientInnen zu geben. Die musikalischen Parameter wie etwa Tonhöhe und Tempo sollen sich den Äußerungen der PatientInnen anpassen, um die Verknüpfung verschiedener Sinnesreize zu unterstützen.

Modus 2: funktionalisierender Kontakt

Hier äußern die PatientInnen ihre affektiven Bedürfnisse stimmlich oder mit einem Musikinstrument. Da die Affektlage meist gespannt ist, ist es notwendig, dass sich MusiktherapeutInnen funktionalisieren lassen, d.h. als Hils-Ich die Energie des Affektes musikalisch (vokal oder instrumental) aufnehmen und all-mählich so gestalten, dass eine entlastende Situation für die PatientInnen ent-steht. Die Affektgestaltung kann beispielsweise in ein improvisiertes Lied mit persönlichem Text münden.

Modus 3: Kontakt zu sich selst/Selbsterleben

Im Modus 3 können Patient und Patientin Urheberschaft und Selbstkohärenz erproben. Eigene gesungene Töne werden oft mit Staunen und Stolz wahr-genommen oder ein Musikinstrument oft mit langer Phase der Konzentration und Freude ausprobiert. Musiktherapeut oder -therapeutin unterstützen diese Exploration durch Beobachten und das zurückgenommene, unaufdringliche eigene Spiel. Durch musikalische Anregungen wie z.B. das Verändern der Lautstärke können Impulse gesetzt werden, die den musikalischen Ausdruck im Fluss halten und die Phase der Exploration erhalten.

Modus 4: Kontakt zum Anderen/Intersubjektivität

Der Patient zeigt nun Interesse am Musiktherapeuten als Person und möchte ein gemeinsames Erleben teilen. Es werden Freude und emotionale Nähe beim gemeinsamen Spielen und Singen erlebt und mit rückversichernden Blicken ge- teilt. Beide beziehen sich auf das gemeinsame Thema des Zusammenmusi-zierens und stimmen Tempo, Lautstärke usw. aufeinander ab. Der Wunsch nach Pausen wird berücksichtigt, sie dienen der Verarbeitung des Erlebten und können zu bewusstem Wiedereinsteigen mit gesteigertem musikalischen Ausdruck führen.

Modus 5: Beziehung zum Anderen/Interaktivität

Mit der Fähigkeit des Nach- und Mitmachens rückt jetzt der musikalische Dialog

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in den Vordergrund. Im Spiel können eigene melodische oder rhythmische Motive eingebracht und vom Anderen übernommen werden. Musikthera-peutisch wird mit Imitation und Variation der wechselseitige Austausch unter-stützt. Es bildet sich eine zwischenmenschliche Nähe, in der der Wunsch zu länger anhaltendem Austausch entstehen und in die Improvisation führen kann.

Im fortgeschrittenen Stadium einer Demenzerkrankung wird das Erreichen des Modus 5 erschwert.

Modus 6: Begegnung/Interaffektivität

Beide SpielpartnerInnen befinden sich in einer positiven Affektlage und gestalten ihr Spiel in emotionaler und vertrauter Verbundenheit. Das gemeinsame Musizieren wird oft von Erinnerungen und Vorstellungsinhalten geprägt und zeigt Erfindungsreichtum in der Übernahme verschiedener Rollen (z.B. Tanzpartner oder Märchenfigur). Der Spielraum wird gleichberechtigt mit Fröhlichkeit und Leichtigkeit ausgefüllt. Musiktherapeutisch werden die Stimmung, Freiheit und Flexibilität des Musizierens durch die spielerischen Wechsel von Mitgehen und Initiieren der Impulse im Fluss gehalten. Krankheitsbedingt kann der Modus 6 im schweren Stadium nicht mehr erreicht werden.

Weitere Erfahrungen mit der Anwendung des EBQ auf Demenzpatienten finden sich bei Warme (2005 und 2007) und Muthesius et al. (2011). Und Körber (2007) hat über das EBQ-Instrument bei Psychotherapiepatienten veröffentlicht.

Das EBQ-Instrument ist ein geeignetes Evaluierungsinstrument, um Beziehungs-qualitäten klar und schnell einschätzen zu können. Bei der Interpretation sollte immer berücksichtigt werden, dass das EBQ-Instrument uns das Was einer vor- herrschenden Situation bestimmen lässt, aber nicht das Warum.

Eine Qualifizierung der AnwenderInnen des EBQ-Instruments ist immer er- forderlich.

3.2.2 Methodische Schritte der Videoanalyse