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3 Theorie des Performativen .1 Begriffsverständnis

3.4 Wirkung als ästhetische Erfahrung

3.4.1 Sprechwirkungen

Krech schreibt den sprecherischen Mitteln keine eigene künstlerische Qualität zu, „wohl aber dient die Art ihrer Verwendung in Verbindung mit dem literarischen Text der Konstituierung einer Äußerung, welche in der Einheit ihrer vielfachen Bezüge als eine sprechkünstlerische qua-lifiziert werden kann und beim Rezipienten ein künstlerisches Erlebnis auszulösen vermag“ (Krech 1987, 71). In einem zeitgenössischen Ver-ständnis der Sprechkunst, welches das Sprechen der Schauspieler/-innen bzw. Akteur/-innen auf der Bühne einbezieht, kann es allerdings nicht allein darum gehen, mittels des Vortrags die Wirkung der Dichtung, des Sprachkunstwerks zu vergrößern. Im performativen Sinn steht im Thea-ter nicht mehr unbedingt das Stück als Werk im Zentrum des InThea-teresses, sondern ist ein Teil neben anderen Elementen. So geht es auch nicht um die Vermittlung des „eigentlichen Sinns“ der Dichtung, denn dieser ist vielschichtig und obliegt der Interpretation der Regie, des Ensembles und der Zuschauerinnen und Zuschauer. Vielmehr sind Sprechweise und Stimme im zeitgenössischen Theater sowie damit auch innerhalb der Sprechkunst wirklichkeitskonstituierend, d. h., sie „bringen keine vor-gängig gegebene Identität zum Ausdruck, sondern sie bringen Identität als ihre Bedeutung allererst hervor“ (Fischer-Lichte 2005a, 237).

Dies geschieht vor allem in Situationen, „in denen Stimmen von Schauspielern und Schauspielerinnen oder Akteuren und Akteurinnen explizit hervortreten oder auffällig werden und auf besonders eindring-liche Weise Zuhörendes affizieren, sie aufmerken lassen, sie leiblich, sinnlich und affektiv betreffen und mithin ein Erfahrungspotential dies-seits semantischer oder reflexiver Dimensionen eröffnen“ (Schrödl 2012,

13 f.). Schrödl bezeichnet derartige Situationen als „Situationen vokaler Intensität“ (vgl. ebd.), in denen die Zuschauer/-innen Erfahrungen als

„ästhetische Erfahrungen“ machen (vgl. ebd. 127). Sie spricht von

„ästhetischen Stimmerfahrungen“, die auf der Wahrnehmung, auf dem Hören von Stimmen beruhen und sich von epistemologischen „Stimm-erfahrungen“, die sich auf den Erkenntnis- und Verstehensprozess des stimmlichen Phänomens beziehen, unterscheiden. Ästhetische Stimmer-fahrung meint ein „körperliches, sinnliches und affektives Erleben oder Spüren des Stimmphänomens“ (ebd. 128). Auch Schrödl benutzt den Begriff „Stimme“ in einem erweiterten, aus sprechwissenschaftlicher Sicht undifferenzierten Begriffsverständnis, ohne ihn spezifischer zu definieren. Sie schließt in diesen Begriff sämtliche Formen des Sprechens und der Artikulation ein.

Sie weist darauf hin, dass die Wirkungsästhetik des dramatischen Theaters von einer hermeneutischen Logik durchzogen ist. Hier geht es um Entschlüsselung, Auslegung, Interpretation und das Verständnis des Dargebotenen und Dargestellten (vgl. ebd. 108). Stimme und Sprech-weise werden im traditionellen Verständnis als Zeichen für die emotio-nalen Zustände und Situationen der Figuren sowie die Beziehungen zwischen ihnen gelesen und verstanden (vgl. ebd.). Auch die Sprech-kunst beschreibt die Wirkung gesprochener Dichtung in einem herme-neutischen Zusammenhang. Krech verweist darauf, dass die mögliche Wirkungssteigerung der Dichtung durch den Vortrag vor allem auf der Tatsache beruht, „daß mit Hilfe von Stimme und Sprechweise unmittel-bar Haltungen, Wertungen, Gefühle, Stimmungen und Motivationen des lyrischen Subjektes oder der literarischen Figuren sowie der eigentliche Sinn der Dichtung verdeutlicht und wahrnehmbar gemacht werden kön-nen“ (Krech 1987, 17).

Für Neuber bedeutet Wirkung, „dass das Zeichen in seiner materiel-len Gestalt (hier in Form von Schall) für den bzw. die Rezipienten nicht nur ‚für sich‘, sondern zugleich für etwas anderes steht“ (Neuber 2010, 148). Er weist folgende Merkmale auf, die sich auf die Behaltensleistung einer gesprochenen Äußerung, d. h. auf den Verbleib des Inhalts im Gedächtnis, positiv auswirken: sinngerechte Wort- und Tongruppenak-zente, wohlproportionierte und -dosierte Sprechpausen in Kombination mit melodisch, dynamisch und temporal lebhafter sprecherischer Gestaltung des Textes mit deutlichen, jedoch nicht übertriebenen Emo-tionalisierungstendenzen (vgl. ebd. 155).

Es bedarf zudem einer Kongruenz bzw. angemessenen Relation von Inhalt und Gestaltung und gut dosierter prosodischer

„Überra-schungswerte“, z. B. durch Hasitationen, Agogik oder auch rheto-risch-phonetische Bindung und Auflösung der Sinneinheiten, wobei hier immer die „richtige Dosis“ über den Erfolg entscheidet. (ebd.)

Negativ auf eine gute Behaltensleistung wirken sich nach Neubers Untersuchungen hingegen monotones Sprechen oder stilisierte Sprech-weisen mit extensiven und sich regelmäßig wiederholenden Mustern aus (vgl. ebd.). Neuber bezieht sich in seiner Untersuchung nicht auf die Wirkung künstlerischer gesprochener Äußerungen, sondern untersucht die Folgen verschiedener Sprechweisen für die Rezeption der Bedeu-tungs- und Sinnzusammenhänge in Gebrauchstexten (vgl. ebd. 154).

Seine Aussagen sind für die vorliegende Untersuchung aber insofern interessant, als dass er Parameter aufstellt, welche die Verstehensleistung einer sprechsprachlichen Äußerung fördern oder vermindern (vgl.

hierzu auch: Neuber 2002). Davon ausgehend kann für die im empiri-schen Teil dieser Studie beschriebenen vielstimmigen Sprechweisen fest-gestellt werden, welche Parameter das semantische Verstehen eines Tex-tes in den Hintergrund drängen und die Auffälligkeit der prosodischen Mittel in den Vordergrund treten lassen.

Auch Krech schreibt der Verselbständigung der sprecherisch-stimm-lichen Mittel zu, dass sie den künstlerischen Wert einer sprechkünstleri-schen Äußerung zerstöre:

Funktionslos sind z. B. willkürliche Hervorhebungen und Pausenge-staltungen, nicht durch Text und/oder Interpretation begründbare Realisierungen von Sprechgeschwindigkeit, Melodieführung, Laut-heit, Lautungsebenen oder insgesamt von Ausdruckshaltungen.

Funktionslos ist ebenso die Realisation eines nicht begründbaren Gestus. Insbesondere, wenn sich solche, in bezug auf Dichtung und gedanklichen Inhalt der Interpretation funktionslose Realisierungs-weisen innerhalb einer Rezitation ständig wiederholen (z. B. ein bestimmter Melodieverlauf) oder auch wenn der Interpret sein per-sönliches stimmliches Ausdrucksvermögen um seiner selbst willen zur Geltung bringt, verselbständigen sich Komponenten der Form, und der ästhetische Wert der Rezeption erleidet Einbuße. (Krech 1987, 66)

Krech bezieht sich in ihren Ausführungen zwar immer auf den Sprech-stil der Rezitation und nicht auf das Sprechen eines Schauspielers bzw.

einer Schauspielerin auf der Theaterbühne, dennoch galten und gelten auch im dramatischen Theater ähnliche Regeln für die Sprechkunst des

Schauspielers bzw. der Schauspielerin in Bezug auf die Darstellung einer Figur. All das jedoch, was Krech als „funktionslos“ bezeichnet, findet sich im zeitgenössischen Theater wieder. Dieser „Selbstbezug“ stellt den performativen Charakter vieler sprecherischer Äußerungen her, deren künstlerische Qualität sich genau in dieser Selbstreferentialität erweist.

Die Autonomie der sprecherisch-stimmlichen Mittel stellt die Materiali-tät des Sprechens aus, womit Hörgewohnheiten im Theater verändert werden. Der semantische Gehalt der gesprochenen Worte rückt in den Hintergrund. Die ästhetischen Funktionen von Stimme und Sprech-weise verschieben sich damit „von einem Mittel der Sprache und der Figur hin zu einem sinnlich erscheinenden und erfahrbaren Material“

(Schrödl 2012, 107).

Dennoch gilt für die vorliegende Untersuchung und verallgemei-nernd für das zeitgenössische Theater: Auch wenn sprecherisch-stimm-liche Mittel auf der Bühne als auffällig in Erscheinung treten und damit die Materialität des Sprechens ausgestellt wird, geschieht dies nicht unabhängig eines Inhalts oder einer Bedeutung. Diese muss jedoch nicht vordergründig vom zugrunde liegenden Text ausgehen, sondern kann sich auf der Bühne als Bedeutung, als Thema überhaupt erst konstituie-ren. In diesem Fall steht die Verwendung der sprecherisch-stimmlichen Mittel nicht im Dienst der Vermittlung eines Textinhalts, vielmehr kon-stituieren sie selbst einen Inhalt. Die Sinnhaftigkeit beispielsweise einer stimmlichen Verlautbarung, die auf ihre Materialität aufmerksam macht, liegt in eben diesem Verweis auf die auditive Erfahrungsmöglichkeit ihres Materials. Bedeutung ist in diesem Zusammenhang als Bewusst-seinszustand zu verstehen (vgl. Schouten 2005, 196).

Im zeitgenössischen Theater können Parameter wie der Sprech -rhythmus, das Sprechtempo, die Lautheit, die Pausengestaltung, der Stimmklang, die Akzentuierung etc. eine eigenständige performative Qualität sinnlicher Erfahrung erlangen, sie erscheinen vordergründig in ihrer materiellen Präsenz und nicht ausschließlich in ihrer repräsentati-ven Funktion als Zeichenträger. Sie avancieren von einem sprecherisch-stimmlichen Gestaltungsmittel zu einem sprechkünstlerischen Phäno-men. Damit werden sie nicht nur im Zusammenhang mit ihrer kommunikativen oder expressiven Wirkung als Formmerkmale mit Zei-cheneigenschaften beschreibbar, sondern als materielle Signalträger, die den Raum für eine „ästhetische Erfahrung“ eröffnen.

3.4.2 Zum Begriff der ästhetischen Erfahrung

Der Wirkungsbegriff ist im sprechwissenschaftlichen Theorieverständ-nis eng an den Funktionsbegriff gekoppelt. „Sprechwirkung“ wird, wie

oben ausgeführt, im Zusammenhang mit den paralinguistischen Funk-tionen der prosodischen Parameter betrachtet. In der Theaterwissen-schaft wird „Wirkung“ mehr als „bewusste Wahrnehmung“ aufgefasst, die „sinnliche Eindrücke“ als eine Art von Bedeutung beschreibt, die jedoch nicht mit sprachlichen Bedeutungen gleichzusetzen, sondern mit Bewusstseinszuständen in Zusammenhang zu bringen sind (vgl. Fischer-Lichte 2004, 246 f.). „Wirkung“ wird im Rahmen kommunikativer Pro-zesse zwischen Akteur/-innen und Zuschauer/-innen im Theater mit dem Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ erfasst. Folgendes ist darunter zu verstehen:

Der Begriff „Ästhetik“ gilt einerseits seit 1750 als Teildisziplin der Philosophie als Lehre von der Kunst und vom Natur- wie Kunstschö-nen, andererseits wird der Begriff seit den 1970er Jahren „im etymologi-schen Sinne als Aisthesis, als sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnis rekonzeptualisiert“ (Kolesch 2005a, 6). Wie Kolesch (vgl. ebd.) schreibt, erfolgten die Erneuerung und Erweiterung des Begriffs, unter Rückbe-zug auf die griechische Bedeutung des Wortes „Aisthesis“, aufgrund der im 20. Jahrhundert zu verzeichnenden umfassenden Ästhetisierung der Alltagswelt.

Die traditionell etablierte Ästhetik reichte weder in ihren Konzepten und Begrifflichkeiten noch in ihrem angestammten Gegenstandsbe-zug hin, um die radikalen Veränderungen in der Kunst selbst, um Formen und Funktionen der progressiven Ästhetisierung aller Bereiche der Realität, also des Alltags, der Politik, der Ökonomie, der Arbeitswelt, der Freizeit etc. zu erfassen sowie die durch die fortschreitende Umweltzerstörung erzwungene Frage nach einem anderen Verhältnis des Menschen zur Natur zu reflektieren. (ebd.)

Vor diesem Hintergrund wird Ästhetik heutzutage, neben dem Begriffs-verständnis von Ästhetik als philosophischer Disziplin, die sich mit den Künsten und dem Schönen beschäftigt, als Theorie von der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis begriffen (vgl. ebd. 9). Mit der Gewich-tung des Sinnlichen wurden rationalistische philosophische und künst-lerische Denkmodelle kritisiert und die „Zuständigkeit der Ästhetik auf bis dato ausgeschlossene Bereiche alltäglicher Erfahrungen“ erweitert (ebd.). Wahrnehmung wird in aktuellen ästhetischen Überlegungen als

„Weise leiblicher Anwesenheit verstanden, die die affektive Betroffen-heit durch den Gegenstand der Wahrnehmung berücksichtigt“ (ebd. 10).

Dabei wird das Wahrnehmungsereignis als „Spüren von Anwesenheit“

bestimmt, „das zugleich und ungeschieden ein Spüren des oder der

Wahrnehmenden als Wahrnehmenden ist wie auch ein Spüren der Anwesenheit von etwas“ (ebd.). Zeitgenössische philosophische Strö-mungen formulieren „Aisthesis“ als Erkenntnis (Wolfgang Welsch), arbeiten die ästhetische Erkenntnis als eine besondere, von anderen Erkenntnisformen zu differenzierende Leistung heraus (Gernot Böhme und Martin Seel) oder reflektieren das Fremde, das aus dem Rahmen Fallende, die Abweichungen oder Störungen als integralen Bestandteil sinnlicher Erfahrung und ästhetischer Wahrnehmung (Bernhard Wal-denfels) (vgl. Kolesch 2005a, 10). Kolesch versteht „Ästhetisieren“ als Wahrnehmbar- und Fühlbarmachen (ebd. 12):

In den vielfältigen Formen ästhetischer Wahrnehmung geht es um eine Besinnung und ein Aufmerken auf Gegenwart, um einen Modus der Begegnung mit Gegenwart. In der sinnlichen Präsenz eines Wahrnehmungsgegenstandes verspürt die oder der Wahrnehmende die eigene Gegenwart im Vernehmen der Gegenwart von etwas oder jemand anderem. Ästhetische Wahrnehmung stellt sich damit als eine radikale, von sonstigen Fixierungen und Verpflichtungen absehende Form des Aufenthalts im Hier und Jetzt dar. (ebd. 11)

Hervorgehoben werden muss, dass jedoch nicht jede Art von Wahrneh-mung als ästhetische WahrnehWahrneh-mung vollzogen wird. Eine ästhetische Wahrnehmung tritt laut Fischer-Lichte immer dann auf, „wenn die Auf-merksamkeit die je besondere Phänomenalität des Wahrgenommenen fokussiert“ (Fischer-Lichte 2005b, 101). Diese Form der Wahrnehmung ist nicht nur auf den Umgang mit Kunstwerken und Kunstereignissen beschränkt, dennoch unterscheidet sie sich von der alltäglich-lebens-weltlichen Wahrnehmung (vgl. ebd.). Das Verständnis einer ästhetischen Wahrnehmung als einer besonderen Art der Wahrnehmung führte zur Bestimmung des Begriffs der „ästhetischen Erfahrung“, der in den 1970er Jahren zu einem Schlüsselbegriff ästhetischer Debatten avan-cierte.

Beispielsweise wies Rüdiger Bubner in seinem Aufsatz „Über einige Bedingungen der gegenwärtigen Ästhetik“ aus dem Jahr 1973 darauf hin, dass man mit dem Werkbegriff den radikalen Veränderungen, die in den Künsten seit den 1960er Jahren zu beobachten waren, nicht mehr gerecht werden kann. Stattdessen müsse man sich der „ästhetischen Erfahrung“ zuwenden „als einer besonderen auf das Bewußtsein erge-henden Wirkung“, die von ästhetischen Phänomenen ausgeht (Bubner 1989, 34). Sie dürfe nicht als „rein passives Hinnehmen von äußerlich auf sie Wirkendem“ verstanden werden, vielmehr müsse die ästhetische

Erfahrung, „wenn in ihr der ästhetische Gehalt erst konstituiert wird, auch als Leistungbeschrieben werden“ (ebd. 36). Auf diese Leistung zie-len viele Inszenierungen des zeitgenössischen Theaters, die nicht auf die Vermittlung von Sinn und die Konstitution von Bedeutung abheben, sondern auf Handlungs- und Erfahrungsvollzüge sowohl aufseiten der Darsteller/-innen als auch der Zuschauer/-innen (vgl. Kolesch 2005a, 12).

Fischer-Lichte bringt den Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ in Zusammenhang mit einer bestimmten Wirkung, die eine Aufführung durch ihre je spezifische Performativität auf die Zuschauenden ausüben kann. Diese kann sich in „physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Veränderungen“ artikulieren und eine Transformation der Zuschauerinnen und Zuschauer herbeiführen (vgl. Fischer-Lichte 2012, 118). Das Erleben, das zu dieser Transformation führt, wird als

„ästhetische Erfahrung“ bezeichnet.

Fischer-Lichte bestimmt den Begriff „ästhetische Erfahrung“ als Schwellenerfahrung, als ein Erfahren von Liminalität, das zu einer Transformation führen kann bzw. selbst als Transformation erlebt wird (vgl. Fischer-Lichte 2004, 332). Der Begriff der „Liminalität“ stammt aus der Ritualforschung und wurde von Victor Turner geprägt (vgl. ebd.

305). Dort bezieht er sich auf Grenz- und Übergangserfahrungen von Ritualen. Turner benennt drei Phasen, wobei die zweite Phase eine

„Schwellen- oder Transformationsphase“ darstellt, in der Menschen in einen Zustand „zwischen“ allen möglichen Bereichen versetzt werden, der ihnen neue Erfahrungen ermöglicht (vgl. ebd.). Den Zustand, der in dieser Schwellenphase hergestellt wird, bezeichnete Turner als „Limina-lität“ (vgl. ebd.). Fischer-Lichte überträgt den Begriff der Liminalität auf das Wahrnehmen und Erfahren von Aufführungen und bestimmt damit den Begriff der „ästhetischen Erfahrung“. Wie Fischer-Lichte schreibt, führen im Rahmen von Theateraufführungen vor allem Selbstreferentia-lität, Emergenz und der Zusammenbruch von Gegensätzen, so z. B. von Kunst und Wirklichkeit, zu liminalen Erfahrungen (vgl. ebd. 307).

Der Zustand des „betwixt and between“, das Erleben der Krise wird zuallererst als eine körperliche Transformation erfahren, als Verän-derung des physiologischen, energetischen, affektiven und motori-schen Zustands. (ebd. 309 f.)

Wichtig erscheint mir zu betonen, dass eine „ästhetische Erfahrung“

nicht nur durch außergewöhnliche Ereignisse, sondern auch durch die Wahrnehmung von Gewöhnlichem bewirkt werden kann (vgl. ebd. 313).

Jedoch betont der Begriff, dass Prozesse der Transformation vor allem

durch die Performativität einer Aufführung ermöglicht und bewirkt werden, d. h. durch die „Ereignishaftigkeit von Aufführungen, die sich in der leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, in der per-formativen Hervorbringung von Materialität, in der Emergenz von Bedeu-tung artikuliert und in Erscheinung tritt“ (ebd. 315). Hierzu zählt auch die Performativität einer bestimmten Sprechweise, die eine ästhetische Erfah-rung auszulösen vermag. Der Begriff der „ästhetischen ErfahErfah-rung“ rückt damit ebenfalls ins Zentrum des Interesses, wenn es um die Beschreibung von Wirkungsprozessen aus performativer Perspektive geht.

Im Rahmen einer Performativitätstheorie werden die Begriffe

„Werk“, „Produktion“ und „Rezeption“ nicht mehr als angemessen erachtet, um Kunstprozesse zu beschreiben. Der Werkbegriff wurde durch den des Ereignisses ersetzt, der Rezeptionsbegriff durch den der

„ästhetischen Erfahrung“. Wird also in den folgenden Kapiteln der Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ aufgegriffen, so aus dem Grund, dass sich hinter diesem Begriff das Konzept einer performativen Per-spektive verbirgt, das Wirkungen nicht primär unter funktionalem, son-dern unter ästhetischem Wahrnehmungsaspekt begreift.

Es geht nun speziell in der vorliegenden Arbeit nicht um eine Unter-suchung von Sprechwirkungen im Kommunikationsprozess zwischen Schauspieler/-innen und Zuschauer/-innen im Rahmen von Theaterauf-führungen. Vielmehr geht es um die Untersuchung von Texterarbei-tungsweisen bzw. um den Umgang mit gesprochener Sprache auf der Bühne des zeitgenössischen Theaters aus produktionsspezifischer Sicht.

Dennoch wird auch immer wieder der Bezug zu den Wirkungen und Wirkungsbedingungen bestimmter Sprechweisen bzw. einzelner proso-discher Merkmale und Merkmalskomplexe hergestellt, denn auch im Rahmen von Erarbeitungsprozessen wird ein Hörerbezug immer mitge-dacht. Die Wechselseitigkeit von Produktion und Rezeption wird hier deutlich spürbar.

Ist also innerhalb des Herstellungsprozesses immer wieder auch die Rede von der Wahrnehmung durch die Zuschauenden, so ist die Vermi-schung dieser beiden Ebenen keine unkritisch unreflektierte, sondern ergibt sich aus der Probenpraxis bzw. aus der Charakteristik von Pro-ben, denen das Anordnungsprinzip von Aufführungen entspricht. Auch während einer Probe sieht den Schauspielerinnen und Schauspielern während des Probierens, beispielsweise während der Erarbeitung eines Textes, mindestens eine Person, z. B. der Regisseur, zu und nimmt die-sen Prozess wahr. Das Kreieren, Erproben, Herstellen ist in der Theater-praxis eng an die Wahrnehmung von außen gebunden. Nur im Wechsel-verhältnis von Probieren und der Wahrnehmung des Probierten kommt

ein Kreationsprozess in Gang. Dabei wird auch der Aspekt der „ästheti-schen Erfahrung“ von den Theatermachern innerhalb des Produktions-prozesses im Rahmen einer Texterarbeitung immer wieder ins Feld geführt, indem nach Bedingungen und Praktiken gesucht wird, die eine ästhetische Erfahrung ermöglichen.

Diese Bedingungen werden innerhalb der vorliegenden Studie unter-sucht und als Voraussetzungen aufgeführt, damit sich eine ästhetische Erfahrung – im Übrigen auch innerhalb einer Probe – im Theater ereig-nen kann. Schließlich, so kann formuliert werden, liegt in der Ereignis-haftigkeit und Performativität der künstlerische Wert einer sprechkünst-lerischen Gestaltung, wenn sie es schafft, das gesprochene Wort zu einer

„ästhetischen Erfahrung“ werden zu lassen. Ob und auf welche Weise eine ästhetische Erfahrung bei den Zuschauerinnen und Zuschauern im Rahmen der Aufführungen tatsächlich durchlebt wurde, bleibt im Rah-men dieser Studie weitestgehend unerforscht. Sie ist aber durchaus ein wichtiger Bestandteil der Proben, auf denen die Akteur/-innen selbst sowie die ihnen auf den Proben zuschauenden Kolleginnen und Kolle-gen Momenten ästhetischer ErfahrunKolle-gen ausgesetzt waren. Werden in den nachfolgenden Kapiteln Aspekte „ästhetischer Erfahrungen“ und Wir-kungsweisen behandelt und damit aufführungsanalytische Aspekte, die jedoch auch innerhalb von Proben eine Rolle spielen, dann vor allem aus dem Grund, künstlerische Dimensionen und Intentionen bestimmter Text erarbeitungsansätze und deren Erscheinungsformen in den Blick zu nehmen. Es wird dabei nicht untersucht, ob intendierte Wirkungen als

„ästhetische Erfahrung“ im Rahmen der Aufführungen wirklich eintraten.

Mit Krech lässt sich formulieren, dass Wirkungen gesprochener Dichtung nicht vorhersagbar sind.

Es läßt sich jedoch ermitteln, in welcher Weise der Sprecher dazu beitragen kann, daß seine Gestaltung Wirkungen im Sinne seiner Intention hervorruft bzw. von Hörern als mögliches Interpretations-angebot akzeptiert wird und somit geeignet ist, die angestrebten emotional-rationalen Bewußtseinsprozesse auf der Basis künstleri-schen Erlebens auszulösen. (Krech 1991, 213)

Diese Wirkungsbedingungen gilt es für das zeitgenössische Theater neu zu untersuchen. Die vorliegende Studie bildet einen ersten Ansatz, indem versucht wird, dies aus Produktionssicht zu reflektieren. Es wer-den Dimensionen beschrieben, die sich auf bestimmte intendierte Wir-kungsstrategien beziehen, die aber nicht eindeutig vorhersehbar sind.

Dennoch eröffnen sie einen Interpretationsrahmen, vor dessen

Hinter-grund sich darstellerische Möglichkeiten aufzeigen lassen, die wiederum dem Theaterpraktiker bzw. der Theaterpraktikerin zugutekommen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Begriff des Performa-tiven auf den wirklichkeitskonstituierenden und selbstreferentiellen Cha-rakter von Ereignissen abzielt. In Bezug auf Aufführungs- und Produkti-onsprozesse kennzeichnet sich das Performative durch die Ko-Präsenz von Akteur/-innen und Zuschauer/-innen, durch das Hervortreten einer je räumlichen, körperlichen und lautlichen Materialität, durch Unvorher-sehbarkeiten und Transformationsprozesse, in denen sich Wahrneh-mungs- und Wirkungsprozesse als ästhetische Erfahrung ereignen.

Wurde der Begriff des „Performativen“ bisher anhand der Eigenschaf-ten einer Aufführung etabliert, soll er zuletzt unter

Wurde der Begriff des „Performativen“ bisher anhand der Eigenschaf-ten einer Aufführung etabliert, soll er zuletzt unter