• Keine Ergebnisse gefunden

Gesellschaftspolitischer und biografischer Kontext von Volker Lösch und Bernd Freytag

DER TEXTERARBEITUNG

3 Interperformative Bezüge

3.3 Gesellschaftspolitischer und biografischer Kontext von Volker Lösch und Bernd Freytag

Eine musikalische Herangehensweise und Erarbeitung von Texten spiel-ten im Zusammenhang mit der chorischen Textarbeit ebenfalls innerhalb des Probenprozesses zur Inszenierung Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch in der Regie von Volker Lösch am Theater Basel eine wichtige Rolle. Seit seiner berühmt gewordenen Orestie-Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden im Jahr 2003 arbeitet Volker Lösch mit dem Chorleiter Bernd Freytag zusammen, der als Chordarsteller und Regieassistent für Einar Schleef tätig war. Lösch und Freytag entwickel-ten in den vergangenen Jahren eine eigene Theaterform, die zum einen durch einen starken Bezug zum jeweiligen Aufführungsort gekenn-zeichnet ist, zum anderen durch die Gründung von Bürgerchören die außertheatrale Wirklichkeit unmittelbar in das Bühnengeschehen inte-griert. Beide Theatermacher äußern in den Interviews, die ich mit ihnen führe, ihren Bezug zu Einar Schleef bzw. die große Wirkung, die seine Inszenierungen bei ihnen auslösten. Einar Schleef holte den Chor in den 1990er Jahren zurück auf die Theaterbühne. Lösch und Freytag führen nach eigenen Angaben seine Arbeit weiter bzw. kombinieren sie neu.

Schleefs Art und Weise, mit Texten umzugehen, genauso wie die man-gelnde Bindung von Stücken an Inhalte und politische Situationen, die Lösch in seiner Laufbahn als Schauspieler erfuhr, motivierten ihn dazu, als Regisseur zu arbeiten. Ihm ging es darum, „Folien zu schaffen, die

eine gesellschaftliche Aussage treffen können jenseits der individuellen Befindlichkeiten, die dann so über Rollen im bürgerlichen Kanon geklärt werden“ (Lösch in: Interview 3, 6). Weniger eine auf Individuali-tät zielende Figurenpsychologie interessieren ihn als mehr die gesell-schaftspolitische Relevanz von Theater. Diese findet Lösch gemeinsam mit Bernd Freytag in der Arbeit mit Sprechchören.

Für mich waren immer die sozialen Gruppen der zentrale Punkt, denen man ermöglicht, an diesen öffentlichen Orten Dinge zu ver-handeln, die oft untergehen und die merkwürdigerweise gar nicht so thematisiert werden, obwohl diese sogenannten Bürger, die verschie-denen Gruppen angehören, doch zentral in dieser Stadt stehen. […]

Dass das zu einer eigenständigen Theaterform geworden ist, die für mich immer noch funktioniert aufgrund der Verbindung der Profis mit den Laien und dann noch den Semiprofis dazwischen, den Schauspielschülern, das interessiert mich sehr, weil die einen tieren eben jeweils von den anderen. Die Schauspielergruppe profi-tiert von den Leuten, die von außen reinkommen, weil Schauspieler sich gerne abschotten […] und die anderen profitieren natürlich total von den Profis, weil sie sehen, wie setzen die einen Satz, wie machen die das. Sie sehen vor allem auch, dass sie auch kämpfen wie Sau, dass sie arbeiten müssen. Dass es nicht so geht. Diese Vorstellung, die Laien haben von Theater – Traumberuf, sitzt da rum und trinkt Kaf-fee. (Lösch in: Interview 3, 7 f.)

Die chorische Theaterform definiert sich dabei, ähnlich wie bei Schleef, sowohl in der Wahl der Themen als auch über die Wahl der Mittel (vgl.

dazu auch: Roesner 2003, 14). Die Musikalisierung, deren methodischen Ansatz Bernd Freytag aus der Zusammenarbeit mit Einar Schleef gewinnt und weiterentwickelt, kann über den methodischen Aspekt hinaus als eine Strategie der Politisierung verstanden werden. Analog wie die „Rhythmisierung und Sprachaufteilung des Textes an mehrere Darsteller“ ein einfaches Konsumieren des Textes in Inszenierungen Einar Schleefs blockiert (vgl. Roesner 2003, 273), werden den Zuschauer/

-innen auch in Inszenierungen von Volker Lösch und Bernd Freytag

„keine Wahrnehmungsträgheit zugestanden“ (ebd. 284). So verzahnen sich denn auch die zwei verschiedenen Arbeitsweisen von Volker Lösch und Bernd Freytag miteinander. Der primär gestisch motivierte Ansatz Löschs, auch in der chorischen Textarbeit, der geprägt ist durch Fragen wie „Was will ich sagen? Warum mach ich den Mund auf? Weshalb steh ich auf der Bühne? Welchen Text vermittle ich? Zu welchem Anlass, in

welcher Stadt …?“ (Lösch in: Interview 3, 3), steht in Kombination zur musikalischen Herangehensweise an die Texte durch Bernd Freytag.

Damit geht es auch in ihrem Theater chorisch-musikalischer Prägung nicht ausschließlich um eine Belehrung der Zuschauerinnen und Zuschauer im Brecht’schen Sinne oder um eine ästhetisch-moralische Erziehung im Schiller’schen Sinne, sondern die Zuschauer/-innen bekommen „die Gelegenheit einer Wahrnehmungserfahrung, die häufig vom Gewohnten abweicht und deshalb selbst reflektiert werden kann“

(Roesner 2003, 285).

Arbeitsweisen entstehen in Abhängigkeit von Biografien, Ausbil-dungshintergründen und Traditionen. So tragen auch die eigene Schau-spielausbildung von Volker Lösch sowie seine Erfahrung innerhalb ver-schiedener Engagements als Schauspieler zur Entwicklung seiner Arbeitsweise als Regisseur bei. Die als schauspielpädagogisch dekla-rierte Methode „von Außen nach Innen“ hat ihn beispielsweise beein-flusst.

Ich kam dann nach Weimar ans Deutsche Nationaltheater als erster Westschauspieler. Hab mit Leander Haußmann gearbeitet, kam da in eine Situation, in der mich beeindruckt hat, wie gut die sprechen in Ostdeutschland […], dass die alle auf Abruf Texte setzen, auch erst mal oberflächlich und von Außen nach Innen arbeiten, das kam mir sehr entgegen. Also mich hat das immer sehr fasziniert – von Außen nach Innen zu arbeiten. (Lösch in: Interview 3, 3)

Lösch erwähnt hier den Begriff vom „West-Schauspieler“, der sich in den Spiel- und Arbeitsweisen, in den vermittelten Menschenbildern und Theaterbegriffen vom sogenannten „Ost-Schauspieler“ unterschei-det (vgl. Klöck 2008, 7). Klöck hinterfragt und analysiert in ihrer Publi-kation Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? (vgl. ebd.) dieses dichotome Stereotyp, das sich nach 1989 in den Reden über das Theater entwickelte. Auch Lösch deutet diese Vorstellung „von einem ‚heißen‘, sich einfühlenden, aus seiner Persönlichkeit heraus spielenden West-Schauspieler und einem ‚kalten‘, technisch versierten, eher über den Verstand und analytisch arbeitenden Ost-Schauspieler“ (ebd.) an. Ohne dieser Klassifizierung in Ost und West zu folgen, eröffnet sich dennoch mit dieser Unterscheidung eine Spannweite zwischen Virtuosität und Persönlichkeit, die kennzeichnend ist für die vorliegende Untersu-chung und – so die These – allgemein für das zeitgenössische Theater.

Wie sich zeigen wird, erfordert die Arbeitsweise von Volker Lösch und Bernd Freytag einen sehr präzisen, gestischen und virtuosen Gebrauch

von Sprache, während Claudia Bauer eine Balance zwischen Virtuosität und Persönlichkeit sucht. Hingegen steht in der Arbeit des Regisseurs