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ALS MATERIAL

4 Kompositionsprozesse .1 Der Text als Partitur

4.2 Komposition des Textmaterials

Das zusätzlich entstandene Textmaterial aller drei Chöre der Inszenie-rung Biedermann und die Brandstifterin der Regie von Volker Lösch, d. h. die kodierten und montierten Interviewtexte der Migrantinnen und Migranten, die Texte des Chors 2 sowie das Gedicht „Die Alpen“ des Eingangschors, wird innerhalb verschiedener Kompositionsprozesse musikalisiert und rhythmisiert. Das Verteilen von Textstellen auf ver-schiedene Stimmen sowie das Festlegen von Pausen und Zäsuren finden, wie bereits erwähnt, in einem Prozess über das Sprechen und Hören der Texte auf der Probe statt (vgl. S. 154 ff.). Kompositionsprozess und Probe stehen in einem engen Wechselverhältnis miteinander. Einerseits werden von Bernd Freytag im Vorfeld vorgenommene und notierte Musikalisie-rungen und RhythmisieMusikalisie-rungen auf der Probe ausprobiert. Hierbei kann es die Erfahrung geben, dass sich ein ganz anderer Klang ausbreitet als in der Vorstellung des Chorleiters oder Regisseurs. Andererseits wird auf der Probe erst herausgefunden, welcher Rhythmus oder welcher Aufbau

an Stimmenverteilungen für die einzelnen Texte und deren Kombination notwendig ist. Hieraus ergeben sich dann die Komposition und deren Notation. Folgende Ausführungen von Bernd Freytag, die ich in einem Probenprotokoll notiert habe, verweisen auf die Funktion der Probe zum einen als Ort der Wissensgenerierung, zum anderen als Umsetzung einer gedanklichen Konzeption.

Die Musikalisierung und Rhythmisierung der Texte zu einer Kompo-sition ist v. a. die Arbeit von Bernd Freytag. Er hört mit seinem inne-ren Ohr bestimmte stimmliche Konstellationen, findet Rhythmen, immer orientiert an inhaltlichen Zusammenhängen. Das muss natür-lich dann in der Praxis erprobt werden. Er meint, es ist immer ein Balanceakt zwischen einem Konzept und dem, was man von den Leuten bekommt. Er entwickelt eine Vorstellung, wie ein Chor klin-gen könnte, aber das hängt stark von den Stimmen und Persönlich-keiten der Leute ab, mit denen er zusammenarbeitet. Was ist mit ihnen möglich und wie klingt es, wenn sie seine Vorstellungen reali-sieren? […] Im weiteren Verlauf des Gesprächs geht es um den musi-kalischen Aspekt des Chores. BF betrachtet hier ausschließlich die Gesamtkomposition des Chores, die er „wie einen Wurm“ vor Augen bzw. im Ohr hat. Die Verbindung zum Stück „Biedermann und die Brandstifter“ denkt er nicht mit, hier hält er sich bewusst heraus.

Dann kann es allerdings zum Problem werden, wenn Teile der Gesamtkomposition in das Stück integriert werden (was er sinnvoll und die richtige Entscheidung findet) und dann aber Stellen gekürzt, verschoben oder anders kombiniert sind und der Rhythmus sowie auch inhaltliche Zusammenhänge gestört werden. Dafür werden dann die „Takes“, die in die jeweils neue Textfassung geschrieben werden, zunächst vom Chor gesprochen, es werden unter Umstän-den nochmals Striche gesetzt oder alte „Take“-Fassungen wiederher-gestellt. Die Text- bzw. Stückgenerierung ist ein langer und intensiver Prozess. (Kiesler, Probenprotokoll 2014-01-31 II, 3 f.)

Inwieweit eine Probe Wissen in Bezug auf die Komposition eines Textes hervorbringt, wird anhand des nachfolgenden Probenbeispiels beschrie-ben. Auf der Chorprobe am 10. Januar 2014 teilt Volker Lösch neues, bereits gekürztes und montiertes Textmaterial für die Laien des Chors 1 aus. Ein Textausschnitt lautet wie folgt:

Ich hab im Kopf den Geruch vom Keller in meiner Kindheit. Wenn man an der Kellertüre vorbei ging, da kam eine angenehme Kühle,

ein schimmeliger Geruch. Ich habe das so geliebt. Hier, wenn man vorbei geht, schmeckt es nach Waschmittel. Die ganze Straße, weil dort meistens die Waschkeller sind, das ist sowas von ekelhaft. Es ist Wahnsinn, Erinnerungen werden von Gerüchen wahnsinnig geför-dert. Ein altes Ehepaar wohnt unter uns, richtige Schweizer. Ich ver-suche immer herauszufinden, was sie gekocht haben. Aber ich kann es nicht rausfinden. In Ungarn roch das ganze Haus nach Gulasch, da kam man nach Hause, aah, ja, der Schneider hat das gekocht, und hier rätsle ich immer. Das ist so komisch. (Freytag/Lepschy/Lösch, Textmaterial vom 10. Januar 2014, 2)

Der folgende Probenprotokollausschnitt beschreibt, wie mit diesem Textabschnitt gearbeitet wird.

Bernd Freytag arbeitet zunächst mit einer, dann mit zwei, mit drei, mit vier und schließlich mit allen sieben Frauen am ersten Satz.

Danach sprechen auch die Männer dazu und er arbeitet mit allen an diesem und den zwei darauffolgenden Sätzen. Bernd Freytag steht vor der Gruppe in der Mitte des Kreises und arbeitet nach dem Prin-zip Vorsprechen – Nachahmen. Er weist Einzelne der Gruppe darauf hin, ihre Füße nebeneinander auf den Boden zu stellen, damit sie eine aufrechtere Sitzposition haben. Zuerst geht es um die Festle-gung von Zäsuren. Er spricht den ersten Gedanken vor und entschei-det, jeweils eine Zäsur nach „Kopf“ und „Keller“ zu setzen. Es han-delt sich um weiterführende Zäsuren, der Gedanke ist noch nicht abgeschlossen, die Melodieführung geht nicht in die Lösungstiefe bzw. die Stimme senkt sich nicht ab, sondern wird in der Schwebe gehalten. Er erklärt dies allerdings nicht. Die Choristen ahmen das vorgesprochene Intonationsmuster von Bernd Freytag nach. Es braucht einige Wiederholungen, bis es die Choristen schaffen, diesen Satz synchron und mit den vorgegebenen Zäsuren zu sprechen. Es folgen Anweisungen zu Tempo und Lautstärke. Der Satz soll eher langsam und leise gesprochen werden, einfach erzählend. Danach wird der nächste Satz mit einer größeren Sprechgeschwindigkeit probiert. Bernd Freytag spricht den Satz schnell vor, die Gruppe imitiert es – und scheitert. Das sorgt für Erheiterung. Alle lachen, weil sie die Worte des Satzes nicht so schnell sprechen können, wie es ihnen durch den Chorleiter vorgemacht wird. Sie wiederholen es ein paar Mal, dann gehen sie weiter. Immer wieder weist der Chor-leiter einige Männer darauf hin, nicht so laut zu sprechen. Es ist auf-fällig, dass die Teilnehmenden noch nicht geübt sind, aufeinander zu

hören. Gemeinsame Einsätze scheitern immer wieder, weshalb sie Bernd Freytag und Volker Lösch meist mit „Achtung – und“ vorge-ben. Der Versuch, die Gruppe stimmlich auf einen Ton zu bringen, erfolgt mit dem Satz: „Ich habe das so geliebt.“ Freytag spricht den Satz in einer Sprechweise vor, die sich mit Verbundenheit und Nähe an diese Erinnerung beschreiben lässt. Dabei dehnt er das [o:] in [zo:] und setzt darauf neben dem Wort „geliebt“ einen Akzent. Die Gruppe ahmt es wieder nach.

Der Satz wird in unterschiedlichen Lautstärkeintensitäten mehrmals von der Gruppe wiederholt, sie versuchen einen gemeinsamen Klang herzustellen und sich einander stimmlich anzugleichen. Dann wer-den die drei Sätze mit wer-den verabredeten Zäsuren, Akzenten und Tempi wiederholt. Immer wieder arbeiten sie an der Synchronität und daran, dass alle die Verabredungen einhalten. Es erfordert von der Gruppe eine hohe Konzentration und Aufmerksamkeit. Bernd Freytag fordert sie dann bereits auf, mehr Konsonantenspannung in Wörtern wie „Kopf“ oder „Kindheit“ zu erzeugen, indem sie die Laute [k] und [t] sehr kräftig sprechen. Nach einer Weile übernimmt Volker Lösch die Führung und arbeitet ebenfalls am Satz: „Ich hab im Kopf den Geruch vom Keller in meiner Kindheit.“ Die verabre-deten suprasegmentalen Mittel bleiben erhalten, er versucht mit der Gruppe darüber hinaus eine Haltung für den Satz zu finden. Er for-dert die Gruppe auf, sich mit geschlossenen Augen an diesen Geruch zu erinnern, sie sollen diesen Geruch und das damit verbundene wohlige Gefühl imaginieren und aus diesem Bewusstsein heraus den Satz sprechen. Die Gruppe versucht es, einigen fällt es schwer, die Augen beim Sprechen zu schließen. Sie sind immer wieder zu laut, was Volker Lösch kritisch erwähnt und weshalb er mit ihnen pro-biert, leise, dann sogar flüsternd zu sprechen. (Kiesler, Probenproto-koll 2014-01-10, 2 f.)

Aus dieser Probensequenz lassen sich einige methodische Aspekte in Bezug auf den Kompositionsprozess, den eine musikalische Herange-hensweise der Texterarbeitung beinhaltet, ableiten. Das Lesen, Auspro-bieren und Hören unterschiedlicher stimmlicher Konstellationen führt zu einer Verteilung der Stimmen auf verschiedene Textstellen und dient der Instrumentierung des Chors. Das Festlegen von Zäsuren und Pausen sowie die Arbeit an unterschiedlichen Sprechgeschwindigkeiten bestimmt die Rhythmisierung des Textes. Diese Strategien zählen zum Musikalisierungsprozess des Textes, den Bernd Freytag nun aus seinen gewonnenen Erkenntnissen innerhalb einer Komposition verarbeitet.