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INSZENATORISCHE ASPEKTE DREIER PROBENPROZESSE

2.2 Konzeptionelle Entscheidungen

Zunächst ist geplant, den „Chor der Migrantinnen und Migranten“ am Ende des Stücks innerhalb eines dreißigminütigen Blocks auftreten zu las-sen, sozusagen als Gegenstimme des Geschehenen. Diese Idee wird nach drei Wochen Probenzeit auf der Probe am 28. Januar 2014 geändert. Es sei

an dieser Stelle bemerkt, dass das Regieteam von Beginn an Schwierigkei-ten mit der Bezeichnung dieses Chors hat, da die verschiedenen Mitglie-der einen unterschiedlichen Aufenthaltsstatus haben. Einige von ihnen sind eingebürgert und besitzen den Schweizer Pass, andere leben als Migrant/-innen in der Schweiz, wiederum andere haben als Flüchtlinge eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. So gibt es immer wieder unterschiedliche Bezeichnungen von allen Beteiligten, z. B. ist die Rede vom „Chor der Ausländer“, vom „Migrantenchor“, schließlich von

„Chor 1“, dessen Bezeichnung ich im Folgenden vorrangig übernehme.

Im Programmheft (vgl. Theater Basel 2013/14, Programmhaft, 5) wird dieser „Chor 1“ als „Chor der Ausländer/innen, Papierlischwyzer/innen, Migranten/innen, Flüchtlinge, Einwanderer, Second@s, Nichtschweizer/

innen etc.“ betitelt. Die Bezeichnung „Chor 1“ erfolgt in Gegenüberstel-lung zum „Chor 2“, dem „Chor der Inländer“, der von den Studierenden der Hochschule der Künste gebildet wird und dem „Chor der Feuerwehr-leute“ aus Frischs Stück entspricht. Für diesen Chor wird im Folgenden ebenfalls die Bezeichnung „Chor 2“ übernommen.

Nach drei Wochen Probenzeit kommt das Regieteam zu dem Schluss, „Chor 1“ in das Stück bzw. zwischen die einzelnen bis dahin existierenden 26 Bilder der Textfassung zu integrieren. Ein Auszug aus dem Probenprotokoll vom 28. Januar 2014 beschreibt die Begründung der Entscheidung wie folgt:

Zum einen wird durch eine Gegenüberstellung der Texte der beiden gegenpoligen Chöre der Diskurs um das Thema Migration in der Schweiz verstärkt. Die Texte des „Inländerchores“ sind teilweise starke Hetzkampagnen gegen Ausländer und werden als Warnrufe an die Bürger inszeniert. Hierauf folgen dann Texte der Ausländer, die zum Teil von ihrem Anpassungsdruck berichten, wodurch man als Zuschauer den Eindruck bekommt, die „Hetzkampagnen der SVP“ (Schweizerische Volkspartei) wirken sich selbst bis in die Gedanken der Ausländer aus. Auf der anderen Seite gibt es auch klare Gegenpositionen durch den „Chor der Migranten“. Hier wer-den dann zwei Seiten gegenübergestellt. Zum anderen gibt es drei unterschiedliche Ebenen innerhalb der gesamten Inszenierung. Es gibt die Profis, die Schauspieler/-innen, es gibt die angehenden Pro-fis, die Schauspielstudierenden, die ihre Chöre sehr perfektionistisch arbeiten werden und es gibt die Laien, mit eingeschränkten Deutsch-kenntnissen und einer geringeren chorischen Spannung. Diese Ebe-nen zu vermischen wäre aus Löschs Sicht für die Zuschauer sicher-lich interessanter und auch unterhaltsamer als ein Chor am Ende, der

nach zehn Minuten mit seiner Spannung abbaut. (Kiesler, Proben-protokoll 2014-01-28 II, 1)

Volker Lösch und Christoph Lepschy arbeiten daraufhin verstärkt an einer neuen Textfassung, die auf der Probe am 31. Januar 2014 mitsamt den integrierten Textpassagen des Chors 1 ausgegeben wird.

Zu weiteren gravierenden Entscheidungen, die Einfluss auf die gesamte Inszenierung haben, kommt es nach dem Volksentscheid in der Schweiz am 9. Februar 2014. Eine knappe Mehrheit des Schweizer Vol-kes stimmt an diesem Tag mit 50,3 Prozent der von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) initiierten Volksinitiative „Gegen Masseneinwande-rung“ zu. Die Initiative verlangt einen Systemwechsel in der Zuwande-rungspolitik. Sie will die Zuwanderung begrenzen, indem der Staat Höchstzahlen für Bewilligungen im Ausländer- und Asylbereich festle-gen soll. Das Abstimmungsergebnis sorgt europaweit für heftige Debat-ten und wird auch innerhalb des Produktionsteams sowie darüber hinaus am Theater Basel kritisch diskutiert. Der aktuelle gesellschafts-politische Bezug des Stücks wird mit diesem Abstimmungsergebnis in noch größerem Maß verstärkt. Volker Lösch greift es thematisch inner-halb der Inszenierung auf. Neue Texte für den Chor 2 werden vom Regisseur geschrieben, aber auch einzelne Aussagen der Teilnehmer/-innen des Chors 1 zur Abstimmung fließen als Textmaterial ein. Es gibt szenische Änderungen, die eine Verschärfung und Zuspitzung der Handlung herbeiführen, beispielsweise das symbolische Anzünden des Chors 1 am Ende des Stücks. Vom Produktionsteam wird eine Stellung-nahme der Mitarbeitenden des Theaters Basel initiiert, die im Anschluss an die Premiere als deutliche Position gegen das Abstimmungsergebnis chorisch verlesen wird. Weiterhin veröffentlicht Volker Lösch einen Artikel in der Schweizerischen Tageszeitung Tages-Anzeigervom 13. Fe -bruar 2014, in dem er sich an die 49,7 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer wendet, welche die Initiative abgelehnt haben (vgl.

Lösch 2014, 9 sowie Theater Basel 2013/14, Programmheft, 18 ff.). In diesem Artikel stellt der Regisseur Fragen, warum sich keiner wehrt, warum es keine Proteste gibt, wo die Stellungnahmen der Intellektuellen und der Künstler/-innen sind. Hier wird deutlich, dass für den Regis-seur die gesellschaftspolitische Relevanz von Theater stets an erster Stelle steht.

Auch die Zeichnungen der Videoprojektionen, die zwischen den ein-zelnen Bildern – meist in Verbindung mit Chor 2 – auf einem sogenann-ten Decker, also einer großen Opera-Leinwand zu sehen sind, werden nach dem Volksentscheid erweitert und zugespitzt. Zwei Beispiel

-illustrationen von Giovanna Bolliger befinden sich im Anhang (vgl.

Anhang 3, Abbildung 4 und 5). Im Probenprotokoll heißt es dazu:

Die Zeichnungen tragen einen stark satirischen Charakter, sollen extrem und geschmacklos sein. Volker Lösch ist sich darüber bewusst, dass diese Zeichnungen Provokationen auslösen werden, aber das sei auch das Ziel. Nicht zu provozieren, aber ins Gespräch zu kommen bzw. das Publikum zum Reden anzuregen. (Kiesler, Probenprotokoll 2014-02-14 II, 5).

Die Illustrationen konstituieren einen Gedankenraum und treiben ein gesellschaftliches Bewusstsein auf die Spitze. In ihrer Überhöhung und Satire begründet sich zugleich die Kritik daran.