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Nicht nur, dass beim Sprechen etwas gesagt und beim Gegenüber ein Eindruck hinterlassen wird, ist von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass im Sprechen und durch das Sprechen die soziale Wirk-lichkeit und somit die Welt verändert wird. (Kranich 2016, 11)

Dieser von Kranich umschriebene Sachverhalt gilt nicht nur für die All-tagskommunikation, sondern kann ebenso auf die Kommunikation innerhalb bestimmter theatraler Prozesse übertragen werden. Das Spre-chen auf der Bühne ist auch hier nicht nur als Ausdruck einer inneren Befindlichkeit von Figuren zu verstehen oder als Abbild einer dargestell-ten Welt, sondern es konstituiert Wirklichkeidargestell-ten zwischen Bühne und Zuschauerraum, die es zuvor nicht gegeben hat. Die Theaterwissenschaft greift die wirklichkeitskonstituierende Funktion theatraler Handlungen im Rahmen einer Performativitätstheorie auf, die als theoretische Aus-gangsbasis der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Sie soll im folgenden Kapitel umrissen sowie mit theoretischen Ausgangspositionen sprech-wissenschaftlicher Betrachtungen in Zusammenhang gebracht werden.

Dabei soll ein Verständnis des Begriffs „performativ“ aus histori-scher, theoretisch-terminologischer und theaterpraktischer Sicht etab-liert werden. So beleuchten die nachfolgenden Ausführungen zunächst

die Entwicklung zweier Fachgeschichten und ihrer Forschungsinteres-sen, die mit Aspekten des Performativen im Zusammenhang stehen. Im Anschluss daran wird der Begriff theoretisch-terminologisch sowie theaterpraktisch im Zusammenhang mit der Spielweisenklassifikation, wie sie Bernd Stegemann (vgl. Stegemann 2011, 102 ff. sowie 2014, 163 ff.) vorgeschlagen hat, erläutert. Das Ziel ist, den Begriff für die vorlie-gende Arbeit zu definieren und ihn nicht nur für Aufführungen, son-dern auch für verschiedene Zugänge der Texterarbeitung innerhalb von Probenprozessen anwendbar zu machen.

2.1 Theaterwissenschaftliche und sprechwissenschaftliche Positionen

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen viele geisteswis-senschaftliche Fächer nacheinander zwei Wenden: zum ersten den „lin-guistic“ bzw. „semiotic turn“ in den 1970er Jahren, zum zweiten den sogenannten „performative turn“ in den 1990er Jahren (vgl. Fischer-Lichte 2001, 9). Während der „linguistic/semiotic turn“ einzelne kultu-relle Phänomene ebenso wie ganze Kulturen1als einen strukturierten Zusammenhang von Zeichen begriff, bahnte sich in den 1990er Jahren ein Perspektivwechsel an, der „Kultur als Performance“ fokussierte (vgl.

ebd.). Fischer-Lichte konstatiert:

Das Interesse verlagerte sich nun stärker auf die Tätigkeiten des Her-stellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Aus-tauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende Strukturen auflösen und neue herausbilden. Zugleich rückten Materialität, Medialität und interaktive Prozeßhaftigkeit kultureller Prozesse in das Blickfeld. (ebd.)

Eine erste performative Wende wurde bereits zu Beginn des 20. Jahr-hunderts vollzogen, die dann jedoch in den 1930er Jahren mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wieder rück-läufig wurde. Diese erste performative Wende ist insofern erwähnens-wert, als dass sie mit der Gründung der Theaterwissenschaft als eigen-ständige Universitätsdisziplin um 1900 zusammenfällt. Ihr Begründer Max Herrmann verstand sie als „Wissenschaft von der Aufführung“

(vgl. Fischer-Lichte 2004, 43). Die Theaterwissenschaft spaltete sich zu dieser Zeit von der Literaturwissenschaft ab und rückte, ähnlich wie die Religions- und Altertumswissenschaften, die eine Theorie des Rituals entwickelten, den Begriff der Aufführung ins Zentrum (vgl. Fischer-Lichte 2001, 14). Nicht mehr der aufgeführte Text stand im Mittelpunkt

des Interesses, sondern die Aufführung als Ereignis (vgl. ebd. 17). Aber nicht nur die sich neu formierende Theaterwissenschaft attackierte die all-gemein gültige Vorstellung vom Primat des Textes über die Aufführung, sondern vor allem die europäische Theateravantgarde. Theaterkünstler wie Edward Gordon Craig, Adolphe Appia, Max Reinhardt, Wsewolod Meyerhold u. a. forderten eine „Retheatralisierung“ des Theaters.

Sie verlangten eine totale Umstrukturierung der theatralen Materia-lien, Mittel, Zeichensysteme. Nicht länger mehr sollte die Sprache dominieren, sondern an ihrer Stelle der Körper des Schauspielers im Raum sowie flüchtige asemantische Mittel wie Musik, Licht, Farbe, Geräusche. Die performativen Qualitäten der Aufführung sollten in den Vordergrund treten. (Fischer-Lichte 2001, 16)

Auch das Verhältnis zwischen Darsteller/-innen und Zuschauer/-innen wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert. Der Theatermacher Max Reinhardt u. a. definierte das Theater neu, nämlich „als ein Fest, als ein festliches Spiel“, in dem die „Teilnahme des Zuschauers an der Auf-führung bzw. ihre Wirkung auf ihn“ im Vordergrund des Interesses stand (ebd.).

Etwa zur selben Zeit wie die Theaterwissenschaft gründete sich auch die Sprechwissenschaft als eigenständige Fachdisziplin. Was Max Herr-mann in Berlin für die Etablierung der Theaterwissenschaft war, war Ewald Geißler in Halle für die Gründung der Sprechwissenschaft.2 Geißler übernahm im Sommersemester 1906 das Lektorat für Vortrags-kunst an der Universität Halle und bereitete den Boden für die künfti-gen Entwicklunkünfti-gen des Fachs (vgl. Krech 2007, 33). Sein Nachfolger Richard Wittsack, der von 1919 bis 1952 in Halle tätig war, baute das Fach inhaltlich aus und fügte den bisherigen Fachinhalten der Rhetorik, Stimmbildung und Vortragskunst die Teildisziplinen Stimm- und Sprachheilkunde sowie Phonetik hinzu (vgl. ebd.). Dieser Fächerkanon prägt die inzwischen wissenschaftliche Disziplin bis heute (zur Ent-wicklung der Fachgeschichte vgl. u. a. Krech 1999, 2007; Geißner 1997 sowie Haase/Meyer 1997).

Die Forschungen der halleschen Sprechwissenschaft zeichnen sich bis in die Gegenwart durch eine enge Verbindung von Theorie und Empirie sowie durch interdisziplinäre Kooperationen aus (vgl. Krech 2007, 40). Zudem ist die sprechwissenschaftliche Forschung, wie auch die vorliegende Studie, anwendungsorientiert. Bereits zur Zeit der Gründung der Fachdisziplin erhoffte man sich, dass sie „unverzichtbare Aufgaben für die Stimmgesundheit, für die Sprach- und Sprechkultur,

für die Ausbildung der Lehrer und andere Berufssprecher erfüllen konnte“ (ebd. 32). Schwerpunkte waren seit den 1950er Jahren u. a. For-schungen auf dem Gebiet der Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen, Forschungen auf dem Gebiet der Phonetik, wobei insbesondere die Orthoepieforschung zu nennen ist, die 1953 von Hans Krech begründet wurde und bis in die Gegenwart reicht. So wurde mit der Publikation Deutsches Aussprachewörterbuchzuletzt 2010 eine völlig neue Kodifi-zierung der deutschen Standardaussprache vorgelegt (vgl. Krech et al.

2010).

Außerdem bildete die Sprechwirkungsforschung von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre ein groß angelegtes intra- und interdis-ziplinäres Forschungsprojekt (vgl. Krech 2007, 42). Die von Eberhard Stock initiierten psycholinguistisch und sozialwissenschaftlich fundier-ten empirischen Untersuchungen „bezogen sämtliche sprechwissen-schaftliche Teildisziplinen ein und ermöglichten Einblicke in bis dahin unbekannte hörerseitige Verarbeitungsprozesse von unterschiedlichen Merkmalen gesprochener Sprache“ (ebd.). Allgemein widmete sich die Sprechwirkungsforschung der Frage, wie verschiedene Formen der Aus-sprache innerhalb unterschiedlicher Kontexte hörerseitig bewertet wer-den. Grundfragen, Forschungsmethoden und Ergebnisse der Untersu-chungen finden sich in der Publikation Sprechwirkung. Grundfragen, Methoden und Ergebnisse ihrer Erforschungwieder (vgl. Krech et al.

1991). Die sprechwissenschaftliche Kommunikationstheorie wurde durch die Untersuchungsergebnisse erweitert und präzisiert, außerdem wurde ein Methodeninventar entwickelt und erprobt, mit dessen Hilfe nachvollziehbar Reaktionen von Hörerinnen und Hörern gemessen und verglichen werden können. Dies ermöglichte das Entwickeln von Ver-fahren, mit denen Lehr- und Behandlungsmethoden evaluiert und Ergebnisse pädagogischer Prozesse objektiviert werden können. Die Methoden der Sprechwirkungsforschung werden seit den 1990er Jahren in Projekten zu verschiedenen Forschungsthemen eingesetzt (vgl. Bose et al. 2013b, 4). Größere sprechwissenschaftliche Forschungsprojekte der Gegenwart beschäftigen sich u. a. mit der kontrastiven Phonetik und interkulturellen Kommunikation, mit der Entwicklung der kindlichen Kommunikationsfähigkeit, mit Untersuchungen zur Telekommunika-tion und professionellen Telefonie sowie im Bereich der Medienrhetorik mit der Hörverständlichkeit von Radionachrichten (vgl. u. a. Bose 2001, 2003, 2006 sowie Bose/Schwiesau 2011). Die Sprechwirkungsforschung im Bereich der Sprechkunst bewegt sich im Grenzbereich zwischen eher theoretisch-empirischen und eher künstlerischen Beschreibungsmodali-täten (vgl. Hirschfeld et al. 2008, 783 f.).

Gemessen am Gegenstand erscheinen beide Betrachtungsweisen sinnvoll, da das Sprechen literarischer Texte einerseits hohe Anteile an individueller künstlerischer Leistung und ausgeprägte ästhetische Rezeptionsfähigkeit verlangt, andererseits aber auch als Subform sprechsprachlicher Kommunikationsprozesse systematisch unter-sucht werden kann. (ebd. 784)

Hirschfeld et al. weisen darauf hin, dass Hörerinnen und Hörer in sprech-künstlerischen Kommunikationsprozessen mit Äußerungen konfrontiert sind, die sich nicht primär einem kommunikativen Gebrauch unterordnen, sondern vor allem ästhetischen Äußerungs- und Rezeptionsbedürfnissen gerecht werden sollen (vgl. ebd.). Auf dem Gebiet der Vortragskunst, die lange Zeit als „Kunst der sprechgestaltenden Dichtungsinterpretation“

verstanden wurde (vgl. Krech 1991, 193), fragt die Sprechwirkungsfor-schung nach der Wirkung und den Wirkungsbedingungen sprechkünstle-rischer Äußerungen. Wirkungen sprechkünstlesprechkünstle-rischer Äußerungen sind jedoch seit den 1970er Jahren ausschließlich hinsichtlich sprechkünstleri-scher Gedichtinterpretationen (vgl. z. B. Schön felder 1988, Krech 1991, Anders 2001) oder in jüngerer Zeit hinsichtlich der Wirkung vorgelesener Prosa im Bereich von Hörbüchern untersucht worden (vgl. z. B. Travkina 2010). Bisher bildeten kaum Theateraufführungen den Untersuchungsge-genstand, sondern das Sprechen von Lyrik und Epik. Die sogenannte

„Vortragskunst“, wie sie Eva-Maria Krech 1987 in ihrer gleichnamigen Publikation (vgl. Krech 1987) definiert und beschrieben hat, wollte sich immer wieder von der dramatischen Kunst und dem Theater abgrenzen.

Im heutigen Verständnis der Sprechwissenschaft wird diese klassische Grenzziehung zwischen Schauspielkunst und Vortrags- bzw. Sprech-kunst nicht mehr getroffen, da im zeitgenössischen Theater Auffüh-rungspraktiken existieren, in denen weniger der schauspielerische Dar-stellungsprozess und mehr das gesprochene Wort bzw. die sprachliche Gestaltung eines Textes im Vordergrund steht. Umgekehrt bedienen sich sprechkünstlerische Produktionen, in denen die Konzentration auf dem Sprechausdruck als Hauptgestaltungsmittel liegt, theatraler Mittel wie Bewegung, Kostüm, Maske, Licht und Musik im Sinne eines „Sprech-spielens“ (vgl. Haase 2013b, 193). Sprechkunst bezieht sich heutzutage nicht mehr nur auf die sprechkünstlerische Dichtungsinterpretation von Lyrik und Prosa, sondern schließt das Sprechen von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne ein. Haase definiert „Sprechkunst“ als

das bewusst gestaltete, gesprochene künstlerische Wort in unter-schiedlichen Kommunikationssituationen für ein Publikum (bzw.

für einen oder mehrere Hörer), „live“, d. h. direkt im Sinne einer auditiv-visuellen Kunstkommunikation oder medienvermittelt, d. h.

indirekt (Haase 2013a, 177).

Dabei sind die Ereignishaftigkeit und damit der performative Charakter der Sprechkunst zu betonen, die sich letztlich im Vollzug des Sprechens u. a. auf der Bühne ereignet.

Mit Ausnahme der Publikationen von Martina Haase, die Bertolt Brechts Theorie des Gestus bereits seit den 1980er Jahren untersucht und ihre Bedeutung für die Sprechwissenschaft beschrieben hat (vgl.

Haase 1985, 1987, 1997), sowie mit Ausnahme der Veröffentlichungen von Hans Martin Ritter, der sich seit den 1980er Jahren mit dem Spre-chen von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne des Thea-ters beschäftigt (vgl. Ritter u. a. 1986, 1989, 1998, 1999, 2014, 2013d, 2015a, 2015b, 2016, 2018), nehmen sprechwissenschaftliche Arbeiten das Theater erst seit jüngster Zeit in den Fokus der Betrachtung (vgl. Kiesler 2013b, 2016, 2017; Kiesler/Rastetter 2017, Rastetter 2017a, 2017b;

Wessel 2016, 17). Beispielsweise widmet sich ein großes Teilkapitel des Lehrbuchs Einführung in die Sprechwissenschaft dem Gebiet der sprechkünstlerischen Kommunikation, auch im Hinblick auf sprech-künstlerische Prozesse im Theater (vgl. Haase 2013a, 2013b, 2013c, 2013d, 2013e, 2013f; Hollmach 2013a, 2013b, 2013c; Kiesler 2013a; Neu-ber 2013b; Kranich 2013; Ziegler 2013).

Darüber hinaus sind natürlich sämtliche Publikationen aus der prak-tischen Theaterarbeit sowie sämtliche Lehrbücher zur Sprecherziehung von Schauspielerinnen und Schauspielern zu erwähnen, die sich deren stimmlichen und sprecherischen Ausbildung unter methodischen Gesichtspunkten widmen (vgl. u. a. Aderhold 1995, 2007; Aderhold/

Wolf 2002; Bernhard 2014; Coblenzer/Muhar 1997; Ebert 1999; Ebert/

Penka (Hg.) 1998; Hofer 2013; Klawitter/Minnich 1998; Ritter 1986, 1989, 1999; Schmidt 2010; Stegemann (Hg.) 2010; Vasiljev 2000, 2002).

In ihnen findet man neben den Ausführungen zur Atem-, Stimm- und Artikulationsschulung auch Methoden zur sprechkünstlerischen Erarbeitung dramatischer und nicht-dramatischer Texte beschrieben (vgl. S. 178 ff.). Die dort aufgeführten Übungen und Methoden ba -sieren meist auf den individuellen Erfahrungen der Autorinnen und Autoren mit Schauspielstudierenden innerhalb der Ausbildung zum Schauspieler bzw. zur Schauspielerin. Was fehlt, sind aktuelle syste-matische Untersuchungen zum Sprechen auf der Bühne im sischen Theater und methodische Ansätze, mit denen man zeitgenös-sischen postdramatischen Texten und ihrer Erarbeitung gerecht wird.

In dieser Hinsicht versucht die vorliegende Arbeit eine Lücke zu schließen.

Im Gegensatz zur Theaterwissenschaft blieb die Sprechwissenschaft institutionell lange Zeit an die Germanistik bzw. Literaturwissenschaft gekoppelt. Sprechkunsttheoretische Ansätze stellten vor allem das

„Sprachkunstwerk“, die „Dichtung“ in den Mittelpunkt ihres Interes-ses, dessen rationaler und emotionaler Gehalt innerhalb der sprech-künstlerischen Äußerung vermittelt werden sollte. So schrieb Krech der Vortragskunst hauptsächlich eine literaturvermittelnde Funktion zu, welche die gedankliche Auseinandersetzung mit einer Dichtung vertie-fen, das „genußvolle Erleben oder Nacherleben der künstlerischen Bil-der des literarischen Werkes“ förBil-dern und damit die Wirkungspotenzen der Dichtung erweitern kann (Krech 1991, 193 f.). Sie betont, dass insbe-sondere die Sprechfassung einer Dichtung zur Sinnkonstitution eines literarischen Werks beiträgt bzw. diese mitunter erst ermöglicht. Durch eine ausdrucksvolle Sprechgestaltung, so Krech, kann das Anknüpfen der Rezipienten an ein Sprachkunstwerk begünstigt werden. Eine Sprechgestaltung „bietet Zugangsmöglichkeiten zur Dichtung an und stimuliert die Sinnsuche der Hörer“ (ebd. 195).

Dennoch schrieb Krech der Vortragskunst neben dieser literaturver-mittelnden Funktion auch eine Funktion als eigenständige Kunst zu.

Mit der sprechkünstlerischen Interpretation lassen sich Kunsterleb-nisse vermitteln, die sich der Art nach von denen unterscheiden, wel-che sich beim eigenen stillen Lesen literariswel-cher Texte vollziehen. […]

Bedeutsam ist darüber hinaus, daß der Sprecher den gedanklichen Inhalt eines literarischen Werkes in neue Zusammenhänge stellt und vor allem schöpferisch weiterführt. Er bereichert ihn um jene Bezüge, die er als Sprecherpersönlichkeit auf Grund seiner eigenen, individuell bedingten (und damit auch sozial geprägten) Sichtweise einbringt. Diese schöpferischen Handlungen führen zu einem verän-derten Sinnpotential der Interpretation (gegenüber der Dichtung), welches der Sprecher auf neue Art und mit neuen Mitteln künstle-risch gestaltet, so daß die Hörer im Erleben und Nacherleben ästhe-tischen Genuß empfinden können. (Krech 1991, 195 f.)

In diesen Aussagen verbergen sich Hinweise, in denen Krech auf das

„Erleben“ des Hörers hinweist sowie auf die Vortragskunst als „künstleri-sches Erlebnis“. Das theoretische Grundgerüst, welches zu Beginn der Sprechwirkungsforschung für den Bereich der Vortragskunst entwickelt wurde, nahm nicht mehr nur das Verhältnis zwischen Sprecher/-in und

Dichtung bzw. zwischen Sprecher/-in und gesprochener Dichtung in den Blick, sondern fokussierte die Beziehungen zwischen einer sprechkünst-lerischen Äußerung und ihren Hörer/-innen sowie zwischen Hörer/

-innen und Sprecher/-innen. Ähnlich wie die Theaterwissenschaft den Fokus zunehmend auf die Rezeptionsseite der Aufführung als Ereignis legte, lenkte die Sprechwissenschaft im Rahmen der Sprechwirkungsfor-schung bereits seit den 1970er- Jahren den Blick auf die Beziehungen zwi-schen Sprecher/-innen und Hörer/-innen innerhalb eines sprechkünstleri-schen Kommunikationsereignisses. Merkwürdigerweise hat weder die eine noch die andere Forschungsrichtung Notiz voneinander genommen.

Während sich die Theaterwissenschaft vermehrt erst seit den 1990er Jahren mit stimmlichen und sprecherischen Phänomenen auf der Bühne auseinandersetzt, hat sich die Sprechwissenschaft immer schon mit dem Gegenstand des Sprechens und mit der Analyse akustischer Phänomene beschäftigt. Gemeinsam ist beiden Wissenschaftsgebieten, dass sie sich auf bestimmte sprach- bzw. kommunikationstheoretische Konzepte stützen, die den Anstoß für die Weiterentwicklung theoretischer Posi-tionen innerhalb der eigenen Fachdisziplin geben.

2.2 Sprachwissenschaftliche Einflüsse in beiden Wissenschaftsgebieten

Ausschlaggebend für die Sprechwirkungsforschung auf dem Wissen-schaftsgebiet der Sprechwissenschaft war weniger die kommunikativ-pragmatische Wende in der Linguistik als vielmehr die Erfordernisse der Praxis, die Notwendigkeit, die Rhetorik- und Sprecherziehungsunter-richte inhaltlich und methodisch neu zu gestalten (vgl. Stock 1991, 13).

Dennoch fand auch die Sprechwissenschaft für die Entwicklung einer Sprechwirkungsforschung Anregungen in der Sprachwissenschaft, die seit den 1970er Jahren ihre Aufmerksamkeit auf die Funktion von Spra-che in Kommunikation und Gesellschaft richtete (vgl. ebd.). Neue For-schungsrichtungen etablierten sich, darunter die Pragmalinguistik, die Sprechakttheorie, die Textlinguistik, die Soziolinguistik und die Psy-cholinguistik. Die Untersuchung von Funktionen sprachlicher Mittel erforderte, dass die Hörerinnen und Hörer verstärkt in den Vorder-grund der Aufmerksamkeit rückten, und zwar als sozial und biologisch determinierte Individuen. Problematisiert wurde das Verstehen des kommunikativen Sinns einer Äußerung und die Wirkung als Resultat dieses Verarbeitungsprozesses (vgl. ebd. 13 f.).

U. a. die Sprechakttheorie von J. L. Austin und J. R. Searle und deren Weiterentwicklung war für die Überlegungen zur Sprechwirkungsfor-schung von Interesse. Zum einen in Bezug auf das Bestimmen von

Sprechhandlungen aus einem Situationskontext heraus, zum anderen in Bezug auf die Erörterung von Wirkungen, die eine Sprechhandlung aus-löst (vgl. ebd. 15). Mit dem Entwurf ihrer Sprechakttheorie leiteten Aus-tin und Searle zu Beginn der 1970er Jahre eine kommunikativ-pragmati-sche Wende ein. In den Vordergrund dieser Theorie rückte nicht mehr die Sprache als System, sondern die Sprachverwendung, in der Sprache als Handeln begriffen wurde. Fokussiert wurden die kommunikative Funktion der Sprache sowie ihre Abhängigkeit von situativen und nicht-sprachlichen Faktoren (vgl. Neuber/Stock 2013, 23). Aus den Überle-gungen zur Sprechakttheorie entwickelte sich u. a. das linguistische Spe-zialgebiet der Pragmatik, auf das auch andere Forschungsrichtungen – darunter sowohl die Sprechwissenschaft als auch die Theaterwissen-schaft – Bezug nehmen.

Die Theaterwissenschaft nutzt Ansätze der Sprechakttheorie als Grundlage für die Entwicklung einer Performativitätstheorie, die jedoch erst seit den 1990er Jahren für das Fach wissenschaftlich verankert wird.

Obwohl innerhalb der Theaterpraxis in den beginnenden 1960er Jahren ein neuer „Performativierungsschub“ einsetzte, der sich zunächst vor allem in der bildenden Kunst mit Formen wie „action painting“, „body art“, „land art“, in Lichtskulpturen, Videoinstallationen sowie in der Aktions- und Performancekunst ausdrückte (vgl. Fischer-Lichte 2001, 18), führte dieser innerhalb der Theaterwissenschaft nicht zu einem erneuten

„performative turn“ wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Stattdessen setzte ein „semiotic turn“ ein, der einzelne kulturelle Phänomene ebenso wie ganze Kulturen als strukturierten Zusammenhang von Zeichen betrach-tete, die gedeutet und verstanden werden konnten (vgl. ebd. 19).

Dieser „semiotic“ bzw. „linguistic turn“ stand u. a. im Zusammen-hang mit der strukturalen Sprachwissenschaft, wie sie Ferdinand de Saussure (1857–1913) und seine Nachfolger wie die Prager Strukturalis-ten entworfen hatStrukturalis-ten (vgl. ebd. 10). Die Theaterwissenschaft machte sich die Ideen des Strukturalismus zunutze und begriff Kulturerzeugnisse, darunter auch Theateraufführungen, als Texte, „das heißt als struktu-rierte Zusammenhänge verschiedener Zeichenarten, die lesbar, versteh-bar und interpretierversteh-bar sind“ (Weiler/Roselt 2017, 41).

Im Jahr 1983 erschien von Erika Fischer-Lichte die dreibändige Schrift Semiotik des Theaters(vgl. Fischer-Lichte 1983a, 1983b, 1983c), mit der sie die kultur- und geisteswissenschaftliche Theorie des Struktu-ralismus für das Theater übernahm (vgl. Weiler/Roselt 2017, 41). Mit Fischer-Lichtes Schrift wurde eine „theoretisch-systematische, histo-risch-fundierte und analytisch-methodische Grundlage gelegt, welche für Aufführungsanalysen anwendbar war“ (ebd.). Hier stand nicht im

Vordergrund, „wie und wessen Informationen durch die Aufführung vermittelt werden“, sondern auf welche Weise und welche Bedeutungen durch die Aufführung hervorgebracht werden (ebd.). Die Frage nach den Produktionszusammenhängen, Wirkungsabsichten und Intentionen trat in den Hintergrund, während „die Achse zwischen den Zuschauern und der Bühne“ zum zentralen Untersuchungsgegenstand wurde (ebd.).

Die Semiotik des Theaterswurde innerhalb der Theaterwissenschaft bedeutsam für die Entwicklung der Aufführungsanalyse als einer Unter-suchungsmethode, mit der Theateraufführungen wissenschaftlich analy-siert und beschrieben werden konnten. Heutzutage unterscheidet man zwischen einer semiotischen und einer phänomenologischen Auffüh-rungsanalyse. Letztere steht mit einer performativen Perspektive in Ver-bindung. Während die semiotische Aufführungsanalyse eine Auffüh-rung als Text begreift, dessen Zeichen interpretiert und gedeutet werden können, fassen phänomenologische Ansätze eine Aufführung als ereig-nishaftes Geschehen auf, dessen Phänomene in ihrer selbstreferentiellen Funktion wahrgenommen werden. Im Zuge der performativen Wende orientierte sich die Theaterwissenschaft im Verlauf der 1990er Jahre um und richtete ihr Forschungsinteresse „auf die Auseinandersetzung mit körperlichen Handlungen und Erfahrungsweisen, die weniger herme-neutisch oder semiotisch als vielmehr phänomenologisch zu erschließen waren“ (Weiler/Roselt 2017, 43). Nicht die Zeichenhaftigkeit, sondern die sinnlichen Qualitäten des Wahrgenommenen standen nun im Vor-dergrund: die besondere Gestalt eines Körpers und seine Ausstrahlung, die Art und Weise, in der eine Bewegung ausgeführt wird, die Energie, mit der sie vollzogen wird, das Timbre und Volumen einer Stimme, der Rhythmus von Sprache oder Bewegungen, die Farbe und Intensität des Lichts, die Eigenart des Raums und seine Atmosphäre oder der spezifi-sche Modus, in dem Zeit erfahren wird (vgl. Fispezifi-scher-Lichte 2005a, 240).

Dies bedeutete jedoch nicht, dass das Semiotische nun völlig außer Acht gelassen wurde, aber man verstand, dass beides in einem Wechsel-verhältnis steht und dass es lediglich um zwei verschiedene Perspektiven auf denselben Gegenstand geht.

Dies bedeutete jedoch nicht, dass das Semiotische nun völlig außer Acht gelassen wurde, aber man verstand, dass beides in einem Wechsel-verhältnis steht und dass es lediglich um zwei verschiedene Perspektiven auf denselben Gegenstand geht.