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DER TEXTERARBEITUNG

2 Methodischer Referenzrahmen

2.3 Gestisches Prinzip

Während das Erfassen der Gedanken eines Textes und das Einteilen jedes Gedankens in Sinnschritte über das laute Lesen bzw. das „Erspre-chen“ eines Textes stattfindet, hat sich für die Versinnlichung der bild-haften Vorstellungen oder Vorgänge des Textes in eine sprechkünstleri-sche oder sprechgestisprechkünstleri-sche Äußerung die Arbeit mit dem gestisprechkünstleri-schen Prinzip in Anlehnung an Bertolt Brecht etabliert. Ein schauspielerisch-gestischer Umgang mit einem Text erfordert die Fähigkeit von Schau-spieler/-innen, den Sinn, die Sprechabsicht und die Situation sowie deren individuelle und soziale Bindung in einer Figur schauspielerisch zu vermitteln (vgl. Klawitter/Minnich 1998, 259). Sich gestisch zu äußern, bedeutet eine sozial determinierte, unter Berücksichtigung der Situation motivierte, gesamtkörperlich vollzogene Sprechleistung zu erbringen (vgl. ebd. 258). Der Gestus ergibt sich aus einem motivierten und gerichteten Verhalten mit Körper, Atem, Stimme und Sprache (vgl.

Schmidt 2010, 161). Der methodische Weg zur sprechgestischen Erar-beitung eines Textes führt dabei über das Lesen des Textes, um den Inhalt und das Anliegen der Figur zu erkennen, das Klären der Situa-tion, in der sich die beteiligten Figuren befinden mit Hilfe der W-Fra-gen, woraus sich die Haltungen der beteiligten Personen ergeben und das Sprechen von Gedankenbögen mit einer klar erkennbaren Haltung und mit nur den wichtigsten Hervorhebungen, die den Text nicht erklä-ren, sondern das Nachvollziehen der Gedanken einer Figur

ermögli-chen. Dabei wird ein/e Zuhörer/-in bzw. Partner/-in mit der Sprechab-sicht angesprochen, zu eigenen Gedanken und Handlungen provoziert zu werden (vgl. Klawitter/Minnich 1998, 270 f.). Dieser methodische Weg ist unabhängig vom Genre des Textes (vgl. ebd. 272).

Auch Ritter hat eine Methode des gestischen Sprechens beschrieben (vgl. u. a. Ritter 1999), wobei er sich nicht nur auf Bertolt Brecht, son-dern auch auf Theaterpraktiker wie Konstantin Stanislawski, Antonin Artaud, Michail Cechov und Eugenio Barba oder auf Roland Barthesˇ bezieht, die in ihren schauspieltheoretischen Konzepten ebenfalls das gestische Moment der Sprache und des Sprechens reflektieren (vgl. Rit-ter 1999, 14 ff. sowie 2004, 194). Allen methodischen Ansätzen dieser Autoren ist gemein, dass sich das gesprochene Wort immer mit der Motivation und Absicht, mit dem Handlungsimpuls und der Zielvor-stellung des Schauspielers oder der Schauspielerin verbinden muss.

Sprechen wird als Handeln begriffen, wodurch das gestische Sprechen letztlich in die Nähe dessen rückt, was die Theaterwissenschaft unter Rückbezug auf die Sprechakttheorie von Austin als performativen Akt bezeichnet. Die Methodik des Gestischen Prinzips, die „alle Bereiche der ästhetischen Praxis – von der elementaren Arbeit, der Atem-, der Stimm-und Lautbildung über die Ästhetische Kommunikation im engeren Sinn, etwa die Rezitation, bis hin zum schauspielerischen Sprechen als Figur in einer Situation“ betrifft, ist demnach „handlungsorientiert, setzt an Kör-peraktionen im Raum, am Partner- oder Publikumsbezug an und nicht zuletzt an Vorstellungen und Phantasiewelten“ (Ritter 2004, 196).

Methodische Eckpfeiler in der gestischen Aneignung eines literari-schen Textes sind die W-Fragen, der Untertext sowie Prozesse des Aus-agierens und Reduzierens:

Prozesse des Ausagierens können auf eine eigene ästhetische Form zielen. Gerade bei Texten, die nicht für das Theater gedacht sind, ist der Prozess des Ausagierens zudem ein methodisches Verfahren, um der gestischen Substanz eines Textes auf die Spur zu kommen und den Körper für gestische Impulse zu wecken. Methodisch gesehen, ist dies ein Verfahren, innere Prozesse nach außen zu wenden und offen zu legen, um sie bearbeiten zu können, und dann wieder nach innen zu wenden oder in einer Auswahl ausagierter und gestischer Momente zu stilisieren – ggf. bis hin zum reinen Sprechvorgang.

(Ritter 2004, 197)

Insbesondere Prozesse der Reduktion spielen im zeitgenössischen Thea-ter, wie sich auch anhand der nachfolgenden Beispiele zeigen wird, eine

wichtige Rolle im Rahmen der Textarbeit. Diese bringen nicht mehr einen szenischen Vorgang hervor, in dem eine Mitteilung als Verhalten erscheint, sondern vielmehr einen „Gestus der Mitteilung“, der norma-lerweise in der Rezitation eines Textes dominiert (vgl. Ritter 2004, 197) bzw. darüber hinaus einen Gestus des Erlebens, der sich nicht primär an eine realistische szenische Handlung auf der Bühne bindet, sondern an einen ästhetischen Raum, der als „poetischer“, „gedanklicher“ oder

„utopischer“ Raum etabliert wird.

Um einen Text gestisch erarbeiten und realisieren zu können, müs-sen Schauspieler/-innen die Fähigkeit besitzen, eine Sprechspannung auf Basis der Sprechmotivation, Sprechabsicht und Sprechsituation aufzu-bauen und sich auf diese Weise in eine „gesamtkörperliche Handlungs-bereitschaft“ (Klawitter/Minnich 1998, 257 f.) zu begeben, die jeder sprachlichen Äußerung vorausgeht. Zur Klärung der Sprechmotivation, Sprechabsicht und Sprechsituation dienen methodisch die W-Fragen.

Aus deren Beantwortung ergibt sich das Wieeiner sprecherisch-stimmli-chen Realisierung mittels Stimme, Artikulation und Körper (vgl. Haase 2004, 204). Die W-Fragen betreffen zum einen die Situation des Textes, zum anderen den oder die Sprecher/-in und die aktuelle Sprechsituation.

Es gilt, die Haltungen der Figuren bzw. Personen des Textes sowie deren Beziehungen zueinander herauszuarbeiten und gleichzeitig eine eigene Haltung als Sprecher/-in oder Schauspieler/-in zu diesen Figuren bzw.

Personen und zum Geschehen des Textes einzunehmen (vgl. Haase 2004, 206 ff.).

Außerdem dienen die W-Fragen den Schauspieler/-innen zum Erfin-den eines schauspielerischen Vorgangs. Je präziser dabei die Situation mittels der W-Fragen aufgebaut wird, umso genauer lässt sich ein Vor-gang erfinden (vgl. Ebert 1998a, 77). Die Beziehung zur Situation ist im Schauspiel, das sich in Anlehnung an Brecht als leibhaft nachahmendes Darstellen eines handelnden Menschen versteht, durch sinnlich-prakti-sches Handeln bestimmt und nicht so sehr durch Einfühlung in eine Situation, durch die ein Bühnenvorgang schnell zuständlich gerät (vgl.

ebd. 75 ff.). Das „verarmende“ Einfühlen in die Figur, wie Ebert es nennt, wird dadurch verhindert, dass die Haltungen als Grundelemente eines Vorgangs klar und bewusst erspielt werden (vgl. ebd. 82). Metho-disch gelingt dies mithilfe der Beantwortung der W-Fragen sowie mit-hilfe des Untertextes. Es geht um „sinnlich-praktisches Handeln“ inner-halb eines Bühnenvorgangs und nicht um psychisches Einfühlen in die Situation (vgl. ebd.).

Der Untertextführt den Schauspieler zum Impuls für eine Aktion, er ist ein Handlungsgedanke. Der Untertext entsteht laut der

Schau-spiel-Methodik, wie sie Ebert/Penka beschrieben haben (vgl. Ebert/

Penka 1998), immer erst innerhalb der konkreten Situation, beispiels-weise während der Improvisation. Die Studierenden sollten nicht bereits vor ihrem Spiel Entscheidungen getroffen haben und gedanklich damit beschäftigt sein, was sie als nächstes tun wollten (vgl. Ebert 1998a, 84).

Sie müssen sensibel offen für die Situation sein, nur so kann ein situati-ver, in der Situation geborener Untertext entstehen (vgl. ebd.). Wie Ebert betont, ist die Voraussetzung für einen produktiven Untertext die in der Aktion lebendige, wertende Beziehung zur konkreten Situation (vgl. ebd. 85). Die Studierenden müssen lernen, in einer Situation han-delnd stabilen Untertext zu produzieren und bei Wiederholungen frisch zu reproduzieren (vgl. ebd.).

Der Untertext ist die ureigene Angelegenheit des Schauspielers bzw.

der Schauspielerin, dieser ist nicht im Text des Autors oder der Autorin mitgeliefert. Der Untertext besteht aus einer Kette von Motiven, die es her-zustellen gilt, um die Tiefe und den geistigen Reichtum einer Figur auszu-loten (vgl. ebd. 86). Benutzt ein/e Schauspieler/-in einen Untertext, wertet er/sie (als Figur) mit dessen Hilfe den Autortext, wobei der Untertext kein Kommentar der Situation ist, sondern eine bewusst widersprüchlich ersonnene Kette von Motiven (vgl. ebd. 87): „Indem der Untertext bewußt widersprüchlich strukturiert wird, als ein Wechsel der Einstellungen zur Situation, löst er den Wechsel der Haltungen aus.“ (ebd.)

Methodisch geht es zunächst darum, das Herstellen von Untertext zu erlernen, d. h. von Handlungsgedanken, welche die Aktionen inner-halb einer Situation steuern und zu Entscheidungen führen. Erst später geht es dann um die „stabilisierende Funktion des Untertextes für die Fixation des Handelns“ (ebd. 86). Wie Ebert schreibt, ist der Hand-lungsgedanke, also der Untertext, nicht unbedingt ein ausformulierter Satz, sondern ein Gedanken-Fragment, wie z. B. „Frühstück – Ei – Kühlschrank – leer – auch gut“ (vgl. ebd. 88). Auch für die sprechkünst-lerische Darbietung im Sinne einer Rezitation oder einer Lesung wird die Arbeit mit Untertexten vorgeschlagen, um den Kontakt zu den Zuhörer/-innen bzw. Zuschauer/-innen herzustellen. Hier bezieht sich der Aufbau von Untertexten auf die aktuelle Kommunikationssituation und erfolgt über gedankliche Formulierungen wie „Stellen Sie sich vor!“

oder „Hören Sie sich das an!“ (vgl. Aderhold 1995, 7).

Die W-Fragen sind im Gegensatz zum Untertext keine Handlungs-gedanken, die innerhalb eines Vorgangs zu einer sinnlich-praktischen Handlung führen, sondern ein technisches Hilfsmittel, um eine Situa-tion zu klären bzw. sich mit ihr auseinanderzusetzen (vgl. Ebert 1998a, 87). Im schauspielmethodischen Ansatz, wie ihn Ebert beschreibt, wird

der Untertext als technisches Mittel zunächst in der freien Improvisa-tion, später in der Auseinandersetzung mit den vom Autor oder von der Autorin vorgegebenen Situationen und dessen Text entwickelt. Das gestische Sprechen wird hier als Denk-Sprech-Prozess beschrieben, der aus der logischen Entwicklung von Vorgängen aus dem konkret mimeti-schen Spiel heraus erfolgt (vgl. Ebert 1998b, 119).

Die Frage nach dem Wobetrifft im methodischen Ansatz nach dem Gestischen Prinzip sowohl Ort und Situation des Textes (poetische oder dramatische Situation) als auch die vorgestellte Situation (szenische Situation), durch die sich der Gestus ergibt, mit dem ein Text erzählt oder innerhalb eines szenischen Vorgangs gesprochen wird. Diese vor-gestellte Situation kann dabei – wie meist im Theater – innerhalb eines szenischen Vorgangs ausagiert und realisiert werden oder sich auch nur in der Vorstellung des Schauspielers oder der Schauspielerin ereignen.

Die Frage nach dem Wobetrifft noch nicht die aktuelle Kommunikati-onssituation während des Vortrags oder während der Aufführung. Diese wird jedoch in performativen Situationszusammenhängen fokussiert (vgl. S. 133 ff.), weshalb sie auch während des Erarbeitungsprozesses dominieren muss. Inwieweit und ob die Arbeit mit Untertexten und W-Fragen innerhalb der von mir untersuchten Probenprozesse eine Rolle spielt, wird sich an späterer Stelle zeigen.