chirurgie
Skoliose
Die klassische Einstabspondylodese nach Har
rington und weitgehend auch die Modifikation nach Harrington-Luque sind für die dorsale Spondylodese durch Doppelstabmethoden ab
gelöst worden, z. B. nach Cotrel-Dubousset (CD) oder - wie bei uns eingesetzt - als Moduloc- Instrumentarium. Beide Methoden gestatten im Gegensatz zu den Vorläufern bis zu einem ge
wissen Grade eine dreidimensionale Korrektur der Wirbelsäulenverkrümmung bei Skoliose oder eine kraftvolle Aufrichtung bei der juve
nilen Hyperkyphose (M. Scheuermann). Diese Montagen sind zumeist so stabil, daß keine postoperative Korsettversorgung nötig ist.
Krankenhausaufenthalt und Gesamtkosten der Behandlung können so deutlich reduziert wer
den.
Die Indikation für CD oder Moduloc ist vor allem die idiopathische C-förmige Skoliose thorakal oder thorakolumbal. Die Lumbalsko
liose ist in unserer Klinik unverändert die Do
mäne der ventralen Derotationsspondylodese nach K. Zielke (VDS), die transthorakal-retro- peritoneal am Wirbelkörper ansetzend in den meisten Fällen Totalkorrekturen der Krüm
mung ermöglicht. Weitere Vorteile; Die Spon
dylodesestrecken sind kürzer und sparen so Bewegungssegmente. Die Anwendung oder Kombination der genannten dorsalen und ven
tralen Methoden orientiert sich jetzt an der modernen Einteilung der Skoliosen nach King (Typ King I-V). S-Förmige Skoliosen (z. B. King I) operieren wir ab 45-50 Grad kombiniert lumbal mit der VDS und 10 Tage danach dorsal mit Moduloc (unten nur als Überbrückung der VDS-Strecke, oben als Spondylodese und Kor
rektur der thorakalen Krümmungskompo
nente; siehe Abb. 1). Sinnvoll kombiniert kön
nen so dorsale und ventrale Verfahren ein
drucksvolle und auch kosmetisch sehr befrie
digende Korrekturen ermöglichen.
Die Kenntnis der aus der modernen Skoliologie hervorgegangenen dorsalen und vor allem ven
tralen Operationstechniken hat sich auch als Vorteil für viele andere Erkrankungen der Wir
belsäule herausgestellt. Beispielhaft sollen im folgenden Text Entzündung (Spondylodiszitis), Tumor und die große Gruppe der degenerati- ven und Verschleißkrankheiten des Achsen
skeletts besprochen werden.
Spondylodiszitis
Die unspezifische und seltener die tuberkulöse Spondylodiszitis werden in den letzten 10 Jah
ren wieder häufiger beobachtet. Wir sind dazu übergegangen - wenn von internistischer und anästhesiologischer Seite möglich -, alle
Spon-Die große Wirbelsäulenchirurgie (ohne klassi
sche oder neuere Bandscheibenbehandlungs
methoden) hat in den letzten 20 Jahren eine stürmische Entwicklung genommen. Sie um
faßt Verfahren zur Behandlung der großen Wirbelsäulenverkrümmungen (Skoliose/Ky
phose), der primären und sekundären Tumore der Wirbelsäule und der Spondylitis. Hinzu kommt die in den letzten Jahren an Zahl und Bedeutung zunehmende Chirurgie der Hais
und Lendenwirbelsäule bei primären und se
kundären (nach Voroperation) degenerativen und Verschleißkrankheiten. Die operative Be
handlung der Spondylolisthesis und anderer Instabilitäten (z. B. posttraumatische) ist ein weiterer Schwerpunkt unserer täglichen Ar
beit geworden. Aus Platzgründen müssen lei
der Hinweise zur historischen Entwicklung dieses jüngsten Zweiges der orthopädischen Chirurgie entfallen. Aus gleichen Gründen kann bei der Breite des im Thema liegenden Spektrums nur beispielhaft wesentliches Neues und heute Bewährtes dargestellt werden.
Orthopädische Klinik der Philipps
universität Marburg
Zum Inhalt
Z. Allg. Med. 1994; 70: 765-768. © Hippokrates Verlag GmbH, Stuttgart 1994
Fortbildung Wirbelsäulenchirurgie
Abbildung 1; Prä- und postoperative Aufnabmen der Wirbelsäule einer ISjäbrigen Patientin. S-fbrmige Skoliose (King I) von 98° Cobb lumbal und dorsolumbaler Ky
phose. Therapie der lumbalen Krümmung in 1. Sitzung von ventral nach Zielke; 10 Tage später dorsale Moduloc-Spondylodese auch zur Aufrichtung der thorakalen Gegenkrümmung mit schöner Harmonisierung auch des seitlichen Wirbelsäulenver
laufs
Spondylitiden werden auch bei Patienten über 60 ohne lange Vorbe
handlung operiert
dylitiden ohne lange Vorbehandlung durch ventralen Eingriff auch bei Patienten über 60 Jahre zu operieren. Die direkte Ausräumung des Herdes und die nachfolgende Spanabstüt
zung mit Rippen- oder besser Beckenkamm
spänen erlaubt postoperativ innerhalb weniger Tage die Mobilisation im Korsett. Unter geziel
ter antibiotischer Therapie (bei 80% unserer Fälle intraoperativ positive Bakteriologie) hei
len die meisten Fälle in 3 bis 5 Monaten mit Versteifung ohne Deformation aus. Die statio
nären Behandlungszeiten betragen nur wenige Wochen (siehe Abb. 2). Gerade den älteren Pa
tienten wird so ein langer Krankenhausaufent
halt und eine lange Liegezeit erspart.
Abbildung 2: Seitliche HWS-Aufnahmen einer 63jährigen Patientin mit Wirbelde
struktion C4/5 infolge Spondylitis durch Staph, aureus links, Mitte Zustand nach ventraler Ausräumung und Aufrichtung der Kyphose mit Beckenkammspan, rechts 10 Jahre danach Verblockung ohne wesentliche Deformität
Primäre und sekundäre Tumore der Wirbelsäule
Mit den Fortschritten der chirurgischen und internistischen onkologischen Therapie wird der orthopädische Chirurg zunehmend häufi
ger zu einem wichtigen Partner in der Behand
lung neoplastischer Absiedelungen am Ach
senskelett. Drohende Instabilitäten und Para
paresen sind zumeist die Notfallindikation zum Eingriff. Je nach Lage und Ausdehnung der Läsion muß der Zugang gezielt geplant wer
den. Bei drohender Paraparese ist die alleinige Laminektomie ohne Stabilisierung heute nicht mehr indiziert. Wenn immer möglich sollte der Herd direkt angegangen, ausgeräumt, das Myelon dekomprimiert und zwingend gleich
zeitig durch eine Osteosynthese stabilisiert werden. Da Metastasen fast immer im Wirbel
körper lokalisiert sind, sollten ventrale Opera
tionsverfahren mit Wirbelkörperresektion und Stabilisierung durch Knochenzement oder ho
mologe Hüftkopftransplantate bevorzugt wer
den. Letztere gewinnen wir bei Hüftendopro- thesenoperationen, sie stellen ein ausgezeich
netes Material für Transplantationszwecke dar (siehe Abb. 3 a. b). Die zusätzliche Osteosyn
these durch Platten oder eine VDS-Brücke er
laubt die Mobilisation der Patienten wenige Tage nach dem Eingriff. Indikationen sehen wir vor allem bei Metastasen des Mammakar
zinoms, Schilddrüsenkarzinoms, bei Lympho
men und solitärem Myelom sowie Hyperne- phromabsiedelungen. Da letztere beim Resek
tionsversuch profus bluten können, sind wir dazu übergegangen, die Operation erst nach einer Röntgenbestrahlung des Herdes mit 15 bis 20 Gray auszuführen. Die Radionekrose des Tumors führt auch zur Thrombose der zahllo
sen intraläsionalen Gefäße, so daß dann ohne besonderen Blutverlust eine möglichst radikale Entfernung möglich wird. Fortgeschrittene Lä
sionen, die über mehrere Wirbelkörper gehen und meist dann auch in den Periduralraum eingebrochen sind, operieren wir von dorsal unter Laminektomie, palliativer Tumorverklei
nerung, Rückenmarksdekompression und Dop
pelstabspondylodese unter Umgießung der sublaminär mit Cerclagen fixierten Stäbe (Lu- que-Technik) mit Knochenzement. Auch so entstehen sofort belastbare Stabilisierungen, die es gestatten, daß der Patient mit meist nur noch begrenzter Lebensdauer schnell mobili
siert werden kann. Bei rechtzeitiger Operation sind überraschende Rückbildungen der Pare
sen und der Schmerzen möglich. Dem
Patien-Wirbelsäulenchirurgie Fortbildung
ten wird so eine letzte Lebensphase mit selb
ständiger Lebensweise gewährt. Insgesamt ist unser Eindruck, daß bei solitären Metastasen der Wirbelsäule noch zu oft viel zu spät an die Möglichkeit der palliativen Resektion und Sta
bilisierung gedacht wird.
Spondylolisthesis
Wirbelgleiten im wesentlichen an den beiden letzten Segmenten der Lendenwirbelsäule ist eine weitere Facette unserer wirbelsäulenchir
urgischen Aktivität. Im Kindesalter ist die pro
grediente Spondylolisthesis mit mehr als einem Grad nach Meyerding heute eine sichere Indi
kation zur Operation. Sie läßt sich am besten durch Reposition von dorsal und anschließende ventral-intercorporelle transabdominelle Fu
sion behandeln (siehe Abb. 4 a, b). Diese Tech
nik gelingt auch noch bei schmerzhafter Spon
dylolisthesis des Erwachsenen, dort aber je nach Ausmaß der ventralen knöchernen Ab
stützungsreaktion und damit spontanen Ein
steifung nicht mehr regelmäßig in vollem Aus
maß. Im Einzelfall kommt deshalb auch eine In-situ-Versteifung, z. B. mit dorsolateraler Technik nach Wiltse, oder deren Kombination mit Pedikelschrauben unter gleichzeitiger De
kompression der Nervenwurzeln (zumeist L5) in Frage. Es läßt sich so ausreichende Schmerz
befreiung und dauerhafte Stabilität erreichen.
Die immer wieder einmal empfohlene direkte Verschraubung der Spondylolyse mit Spongio
saplastik der Pseudoarthrose geht nur bei erst- oder zweitgradiger Listhese beim Jugend
lichen. Schon bei über 20jährigen werden die Ergebnisse unsicher.
Degenerative und Verschleiß- Krankheiten der Lendenwirbelsäule Die operative Behandlung der Verschleiß
krankheiten der Lendenwirbelsäule, hier vor allem auch nach fehlgeschlagenen Bandschei
benoperationen (»Postnukleotomie-Syndrom«) nimmt zunehmend breiteren Raum in der mo
dernen Wirbelsäulenchirurgie ein. Chronische lumbale Schmerzsyndrome mit oder ohne Wurzelkompression auf dem Boden ein- oder mehrsegmentaler Osteochondrosen und Insta
bilitätszeichen, u. U. kombiniert mit primärem oder sekundärem engem Spinalkanal (durch Kollaps des Bandscheibenraumes und sek.
Spondylarthrose), stellen die Hauptindikation
.Vbbildung 3 a; 33jähriger Mann, Metastase eines Hodenkarzinoms im VVirbeikörper L3 ohne neurologische Beteiligung (links CT von L3): Mitte ap. und rechts seitl.
LWS-Aufnahme 6 Monate nach ventraler VVirbelkörperteilresektion und Defektfül
lung mit homologem Hüftkopftransplantat sowie VDS-Zuggurtungsmontage.
Abbildung 3b: 36jähriger Patient, HVVS seitl. Kollaps C5 bei malignem Lymphom (links), rechts 3 Monate nach VVirbelkörperresektion. Defektfüllung mit Knochenze
ment und Doppelplattenosteosynthese
Abbildung 4a: 14jährige Patientin, links: lumbosakraler Übergang seitl. zeigt 3.- grad. Spondylolisthese L5/S1; rechts gleiche Region 10 Jahre nach alleiniger trans
abdomineller ventraler interkorporeller Spondylodese, nur Teilreposition
zur lumbalen oder lumbosakralen Spondylo
dese dar. Es gibt inzwischen eine Reihe von Implantatsystemen zur Behandlung dieser Pa
tientengruppe. Jede speziell befaßte Klinik hat im Laufe der Erfahrung ein eigenes »Reper
toire« entwickelt. In Marburg wird bei Befall
768
iFortbildung WirbelsäulenchirurgieAbbildung 4b: ISjäbriger Junge, links: lumbosakraler Übergang seitl. zeigt 3.-gra- dige Spondylolisthesis L5/S1: rechts gieiche Region 6 Monate nach dorsaler Aufrich
tung und ventraler Spondylodese in einer Sitzung, komplettes Repositionsergebnis
Abbildung 5: 43jährige Patientin, Postnukleotomiesyndrom L4/5 (2x voroperiert):
iinks: schwere kiinisch symptomatische Osteochondrose L4/5, stumme Osteochon
drose L5/S1 (ohne Vorop.). Rechts: 4 Jahre nach ventral-interkorporeller Spondylo
dese nach O’Brien klinisch und röntgenologisch zufriedensteilend
Abbildung 6: 53Jährige Patientin, rheumatoide Arthritis, iangzeitige Cortisonmedi
kation, schwerste Osteochondrosen L3/S1 mit Subluxation bei L3/4. ln der seitlichen Projektion zusätzlich Dekompensation in die lumbale Kyphose. Aufrichtung, Korrek
tur und Stabilisierung mit Pedikelschraubensystem (rechts) und Moduloc-Stab (links).
Gutes Korrekturergebnis
»Künstliche Bandscheiben«: die Lösung?
Es wird immer wieder über Entwicklungen zur künstlichen Bandscheibe berichtet, mit dem Wunschziel, Bewegung und so Funktion im er
krankten Bewegungssegment zu erhalten. Lei
der waren alle bisherigen mittelfristigen Ergeb
nisse mit Bandscheibenprothesen ernüchternd.
Materialprobleme mit den verwendeten Kunst
stoffen, Einsinken der Prothese in den zu wei
chen Knochen der Deckplatte und spontane Ein
steifung um die Prothese herum sind nur einige der beobachteten Phänomene. Bisher war der künstlichen Bandscheibe kein Erfolg beschie- den, so daß wir unverändert mit der »Notlösung Versteifung« leben müssen.
Befall von L5/S1 alleine nutzen wir die poste- rolaterale Spondylodese nach Wiltse, bei Befall von L5/S1 und höherer Segmente die dorsale Spondylodese mit Pedikelschrauben und Ge
windestäbchen (DKS-System von K. Zielke, siehe Abb. 6). Ein eigenes System als dorsale dynamische Spondylodese (DDS) mit speziellen Schrauben und glatten Stäben ist kurz vor der klinischen Reife und löst eine Reihe von tech
nischen Problemen der schwierig zu applizie
renden Gewindestäbe. Alle diese Varianten der lumbalen und lumbosakralen Spondylodese sind klinisch erfolgreich. Bei rein degenerati- ver Vorerkrankung ohne Voroperation können etwa 80% sehr gute bis zufriedenstellende Re
sultate erzielt werden. Beim Postnukleoto
miesyndrom sind die Ergebnisse aus vielerlei Gründen schlechter (max. 65-70%). Die Ver
steifung ist also heute noch eher die zeitge
mäße Notlösung.
Ein Blick in die Zukunft
Zusammenfassend kann der Beitrag nur einen Überblick über das weite Feld der großen Wir
belsäulenchirurgie und ihrer zeitgemäßen Be
handlungsmethoden geben. Die Beispiele reprä
sentieren eine Auswahl des heute Möglichen in Indikation und Operationstechnik. Die Zukunft lebt auch in diesem Gebiet von den vielen klei
nen Fortschritten, vor allem in technischer Hin
sicht, so daß bei zunehmend größer werdendem Patientengut auch weiter mit Verbesserungen gerechnet werden kann. Die Wirbelsäulenchir
urgie wird so gesehen neben der Endoprothetik zunehmend zum Wachstumsgebiet der ortho
pädischen Chirurgie.
Literatur beim Verfasser von L4/5 oder höher die ventrale interkorpo-
relle Spondylodese mit Beckenkammeigenspä
nen nach O’Brien bevorzugt (siehe Abb. 5). Bei
Prof. Dr. P. Griss Orthopädische Klinik Philipps-Universität Klinikum Lahnberge 35033 Marburg
Ausführliche Basisangaben auf der Rückseite, bitte aufblättem