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III. Gesellschaftliche Selbstorganisation im Übergang

1. Wendezeit?

Das Verständnis der Gegenwart als einer "Wendezeit" ist spätestens seit Erscheinen von Fritjof Capras gleichnamigem Buch ein geflügeltes Wort. Nicht nur Visionäre oder Querdenker, auch etablierte Wissen-schaftler oder Politiker erkennen die für ein Überleben der Menschheit notwendige Erneuerung unserer Art zu denken, zu wirtschaften und zu leben an. "Der Ruf nach Umdenken ist unüberhörbar geworden und geht quer durch alle Bereiche der Gesellschaft."173

Doch bedeutet diese allgemeine Anerkennung der Notwendigkeit noch lange keinen genauen Begriff, wie, wohin und wodurch diese "Wende"

hin zu neuen gesellschaftlichen Selbstorganisationsformen oder Ord-nungsmustern sich vollziehen solle. Ein möglichst konkreter Begriff da-von ist aber Voraussetzung, wenn der Mensch nicht wie in bisheriger Geschichte nur teilbewußtes sondern bewußtes Subjekt dieses Vollzu-ges sein muß.

Capra benennt in seinem Buch die anstehenden Synthesen von westli-chem und östliwestli-chem Verständnis. Als Naturwissenschaftler dringt er da-bei jedoch kaum in die eigentlichen menschlichen Kernzonen als Ort dieses Geschehens vor. Um nun einen möglichst konkreten Begriff als Bedingung des Handelns zu finden, werden hier insbesondere diese kaum gedachten Seiten der "Wendezeit" gesucht.

Einen guten Ausgangspunkt dafür bietet Graf Dürckheim: "Wir stehen heute in einer Zeit der großen Wende. Der innerste Kern des Men-schen, sein transzendentes Wesen, war lange in Vergessenheit gera-ten. Aber die lebendige Wurzel, die er ist, kann niemals zerstört werden.

Wo immer dieser Kern vergessen wird - unfehlbar kommt die Zeit, in der er aufbegehrt. Diese Entdeckung kennzeichnet den Zukunftsmenschen des Westens. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit nimmt die westliche Welt Erfahrungen ernst, in denen dieser Kern sich meldet.

Es geschieht heute nicht nur, wie zu allen Zeiten, in jenen kleinen

173 Ulrich, H., G.J.B. Probst, Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln, Bern/Stuttgart/Wien, 1995, S. 11.

sen, die man die Mystiker nannte, sondern auf breiter Front. Das be-deutet, schlicht gesagt, die Wiederentdeckung der Seele, nun aber nicht als eine Angelegenheit des Glaubens, sondern als eine unausweichli-che und erfahrbare Wirklichkeit."174

Die anstehende Wende geht also weit über alle nur aus den heute herr-schenden Begriffen abgeleiteten Sichtweisen hinaus. Um sie nicht nur zu prognostizieren, sondern im erhellenden Sinne zu begreifen, werden im folgenden einige dahin tendierende Theorieansätze für einen ent-sprechend integralen Begriff der Gesellschaft synthetisiert. Aus diesem, theoretisch begründeten Blickwinkel werden manche intuitiven Progno-sen vorausschauender Denker über die Zukunft von Mensch und Ge-sellschaft leichter verständlich.

Die Theorien der Selbstorganisation und der Komplexität entstammen zwar weitgehend den Bereichen der Naturwissenschaft, sie bergen, als auf einen Begriff des Ganzen gerichtete Theorieansätze, jedoch auch interessante Möglichkeiten für das differenzierte Verstehen menschli-cher Gesellschaft. Eine direkte Übertragung der naturwissenschaftli-chen Theorien birgt jedoch Probleme. So erarbeitete z.B. der Soziologe Niklas Luhman eine auf den ersten Blick faszinierend differenzierte Be-trachtung von Gesellschaften als "Sozialen Systemen"175, die wichtige Hinweise auf notwendige strukturelle Regelungen für ökologische Kor-rekturen ergibt. Doch da er, als typischer, positivistisch orientierter So-ziologe, keine ontologische Differenzierung von Seinsschichten und so auch keine eigengesetzliche Wirkung höherer menschlicher, nicht auf die jeweilige Gesellschaft reduzierbarer Einflüsse kennt, gerinnt seine Theorie zu einer zwar hochkomplexen, doch geistig unbefriedigenden Systemtheorie. Diese Erklärung von Gesellschaft allein auf der Ebene eines symbolisch organisierten Tierreiches hat keinen Raum für die subjektive menschliche Freiheit der Entscheidung, der Mitschöpfung und der die vormenschliche Egozentrik übergreifenden Verantwortung.

Noch Kant, der auf seine Weise die Trennung von Natur- und Geistes-wissenschaft vollzog, kam nicht umhin, verwundert die für ihn unbe-greifbare menschliche Fähigkeit zu Freiheit zu konstatieren.

174 Dürckheim, K.G., Von der Erfahrung der Transzendenz, Freiburg 1985, S. 92.

175 Luhmann, N., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984; siehe auch: ders., Ökologische Kommunikation, Opladen 1986.

lich gehöre der Mensch nicht nur einem Reich der Naturereignisse an, ist er nicht völlig gefangen im ihn umgebenden Ablauf von Ursachen und Notwendigkeiten, sondern kann als vernünftiges Wesen selbst Be-ginn einer Kausalkette sein. Er bekennt, daß er "niemals zu dem Wag-stücke gekommen sein würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz...dazugekommen und hätte uns diesen Be-griff nicht aufgedrungen". Doch wie dies möglich sei, "wie reine Vernunft praktisch sein könne...für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen", sei vergeb-lich.176

Eine solche Vorentscheidung, den Menschen und dementsprechend auch seine gesellschaftlichen Strukturen nicht als subjektlos funktionie-rende Systeme, sondern als von SUBJEKTIVEN, d.h. im oben genann-ten Sinne geistig-sinnhafgenann-ten Momengenann-ten mitbeeinflußte Ganzheigenann-ten zu betrachten, läßt sich auf der Grundlage der obigen ontologisch-anthropologischen Ausführungen treffen. Damit ergibt sich für die ge-sellschaftliche Selbstorganisa-tion folgendes, nicht die gesamte Kom-plexität doch die fundamentalen Ebenen und Grundfunktionen berück-sichtigende Bild:

Gesellschaften entstanden aus tierischen Horden durch die Evolution der neuen Referenzqualität geistig-kultureller Selbstorganisation. Um die Besonderheit des Neuen zu verstehen, ist zuerst das Organisati-onsbild einer dieser Ebene vorhergehenden Tierhorde zu vergegenwär-tigen: Es ist ein weitgehend biogenetisch verankertes Gesamtsystem von Trieben oder Instinkten. Diese organisieren selbst nicht nur die Funktionskreise von Nahrung, Fortpflanzung und Schutz sondern dar-über hinaus, durch spezielle Herden- und Dominanzaffekte, die Struktur der Herde. Der Einzelorganismus ist darin, d.h. in das System der durch ihn durchgehenden und ihn in allen Lebensfunktionen affektiv ergrei-fenden Reaktionen, eingeschlossen, er funktioniert als ein Teil der sich insgesamt selbsterhaltenden Herde. Die Selbstreferenz des Ganzen,

176 Siehe Kant, Immanual, Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1971, S. 603ff.; ders., Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig 1878, S. 41; und ders., Grundlegung zur Meta-physik der Sitten, in ebenda, S. 282.

d.h. die Koordination der Teilfunktionen der Herde zu einem relativ ein-heitlich in ihrer Umwelt agierenden Ganzen, vollzieht sich in neurohor-monellen, d.h. die physiologischen Funktionen des Einzelorganismus weitgehend dem Ganzen unterordnenden Prozessen. Der tierische Ein-zelorganismus, der ja als eigenes Ganzes auf die ihn über verschiedene Sinnesorgane erreichenden Signale reagiert, kann diese Prozesse möglicherweise empfinden177 und auf dieser Ebene sogar mit dem Menschen kommunizieren, er verfügt jedoch nicht über die besondere, erst den Menschen als Individuum aus der Affektivität heraushebende SUBJEKTfähigkeit.

Die tierhaft-affektiven Funktionen bleiben im gesellschaftlichen Bereich weitgehend erhalten, auch menschliche Wesen re-agieren in weiten Teilen ihrer Lebensprozesse eher instinktiv-unbewußt denn subjektiv-selbstbewußt auf verschiedenste Affektionen. Doch diese Affekte ge-nügten nicht zur bisherigen und genügen erst recht nicht zur zukünftigen Selbstorganisation menschlicher Gesellschaft. Erscheint diese auch nach außen hin als ein Ensemble von vermittelnden Artefakten wie Werkzeugen, Worten oder Kunstwerken, so ist doch das wesentliche Geheimnis ihrer Existenz die Qualität ihrer Selbstreferenz. Die im Über-gangsprozeß zum Menschen gebildeten Subjektpotenzen, hier neben Wissen und Selbst vor allem die emotionale Qualität von Liebe (siehe oben II.7), ermöglichen die Einbeziehung und sogar Kreation anderer, über die eigenreferenziellen Funktionen hinausgehender Komplexe.

Diese werden bei Eignung in die vorausgesetzten gesellschaftlichen Strukturen integriert, ergeben so als Werkzeuge eine effizientere ener-getisch-materielle Selbstreproduktion, als Kommunikationsmittel eine Vervielfältigung der interagierbaren bzw. mitteilungsfähigen Komplexe und als geistige Formen (Ideen) die tendenzielle Entfaltung der eigent-lich menscheigent-lichen Qualitäten.

Hier ist ein erinnernder Zwischenvermerk wichtig: Die Evolution von Mensch und Gesellschaft aus dem Tierreich ist ein widersprüchlicher, unentschiedener, nach wie vor zwischen den Ebenen des tierhaften und des menschlichen Niveaus schwankender Prozeß. Alle kulturelle

177 Über die Empfindungsfähigkeit von Tieren und Pflanzen siehe bei Roads, M.J., Mit der Natur reden, Interlaken 1994; oder bei Schul, B., Wunderbare Tier- und Pflanzen-geheimnisse, Interlaken 1995.

Schöpfung und damit dadurch mögliche gesellschaftliche Evolution er-eignete und ereignet sich immer nur in menschlichen, d.h. in der Prä-senz der menschlichen Potenzen vollzogenen Akten. Kein instinktiver, d.h. im Zweck der Organismus- oder der Gruppenerhaltung ablaufender Affekt ist zu einer wirklichen, d.h. der bestehenden Komplexität oder Innigkeit Neues hinzufügenden Schöpfung fähig. Rousseau ahnte, daß bereits das erste Wort nur ein Akt der Liebe, d.h. der sympathischen Beziehung zum benannten Gegenstand, sein konnte. Und der russi-sche Denker und Praktiker Peter Kropotkin führte anhand von ihm auf-gezeigter Beispiele eine höchst interessante Diskussion mit den seiner-zeitigen Wissenschaftlern, die versuchten, das Modell tierischer, d.h.

durch Mutation und Konkurrenz wirkender Evolution auf die Gesell-schaft zu übertragen. Er zeigte, daß alle entscheidenden Kulturleistun-gen, von der Erfindung des Gartenbaus über grundlegend neue, Tech-nik und Wirtschaft erweiternde Erkenntnisse, bis hin zu weltbewegen-den Ideen wie weltbewegen-denen von Sokrates oder Jesus, immer in solchen Zeiten geschahen, in denen freier sozialer Raum für die Entfaltung der menschlichen Potenzen bestand bzw. solcher durch echte menschliche Initiative geschaffen wurde.178

Damit wurde bereits gesagt, daß die bisherige Geschichte keineswegs immer zugleich menschliche Geschichte war, eher im Gegenteil, es ge-lang bisher nur hin und wieder und für vorübergehend kurze Zeiträume die Selbstorganisation freier Gesellschaftsformen der menschlichen Entfaltung und Mitschöpfung. In diesen ereigneten sich alle entschei-denden Kulturleistungen. Deren neue Möglichkeiten komplexerer Rea-lität wurden jedoch bisher immer wieder als Mittel insgesamt tierhaft-affektiver Gesellschaftsformen funktionalisiert. So wurden z.B aus den ursprünglich in Freiheit erfundenen Gartenbaukünsten, die den Anwen-denden ein höheres Maß an Muße zur Entfaltung und zum Selbstgenuß ihrer menschlichen Qualitäten ermöglichten, Mittel der Verselbständi-gung von Macht, der Ausgliederung herrschender Klassen aus dem Re-produktionsprozeß und des Zwangs breiter Schichten in eher un-menschliche Produktionsformen.179

178 Kropotkin, P., Wsaimnaja pomoschtsch kak faktor evoljuzii, Charkow 1919.

179 Siehe dazu bei Mumford, L., Mythos der Maschine, Frankfurt 1981; oder Thomp-son, W.I., Der Fall in die Zeit, Reinbek bei Hamburg 1987.

Inwieweit diese bisherige widerprüchliche, menschliche Fortschritte und Rückfälle einschließende Geschichte ein unvermeidlicher Übergangs-prozeß war und ist, kann erst im Falle der Verwirklichung einer weitge-hend menschlich selbstorganisierenden Gesellschaft beantwortet wer-den. Daß ein solcher Schritt in eine menschliche Geschichte nicht nur ohne moralische Überforderung der Individuen möglich, sondern ange-sichts der gegenwärtigen Probleme sogar notwendig ist, soll im folgen-den weiter ausgeführt werfolgen-den.

2. Die Selbstorganisation, Evolution und Involution von