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III. Gesellschaftliche Selbstorganisation im Übergang

5. Die Bereiche sozialer Selbstorganisation

Die im großen Rahmen der Dreigliederungsidee betrachtete harmoni-sche gesellschaftliche Ordnung gewinnt weitere Präzision bei noch fei-nerer Differenzierung innerhalb der großen Ebenen. Inbesondere die soziale oder auch seelische, nicht nur als Zwischenglied zwischen Wirt-schaft und Geist vermittelnde, sondern in vieler Hinsicht das Hauptfeld gesellschaftlicher Selbstorganisation ausmachende Ebene, erfordert ein differenziertes Verstehen. Dies um so mehr, als die Kategorien des Materiellen und Geistigen in der bisherigen Tradition der Moderne die Kategorien des Sozialen oder Seelischen weitgehend ausblendeten bzw. unterbelichteten. Und vermutlich nicht zufällig fallen deshalb we-sentliche Vorahnungen zukünftiger menschlicher Entwicklung gerade in diese Ebenen. Marx begriff den Reichtum menschlicher Beziehungen als die eigentliche Ebene allen Reichtums und definierte als

entschei-dende Struktur einer menschlichen Gesellschaft jene Assoziation, deren innerer Sinn die freie Entwicklung eines jeden als Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Hölderlin ahnte mit anderen Worten dasselbe, wenn er im Hyperion schrieb: "Die Liebe gebar Jahrtausende voll le-bendiger Menschen; die Freundschaft wird sie wiedergebären. Von Kin-derharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Gei-ster wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein."190 Und die selbe Notwendigkeit bestimmte jüngst Carl Amery in seiner "Botschaft des Jahrtausends", als den neuen, nicht auf äußeren Autoritäten, sondern auf der freien geistigen Verbindung wissender menschlicher Individuen beruhenden Bund.

Deshalb ist es im Licht einer übergreifenden Betrachtung bedeutsam, wenn der zuletzt angeführte Kurt Biedenkopf neben der für große und so unvermeidlich menschlich anonyme gesellschaftliche Komplexe er-forderlichen rechtlich-anonymen Regelung sozialer Prozesse zugleich auf eine ebenso adäquate Selbstorganisationsform der nichtanonymen Sozialprozesse insistiert. In seiner Theorie der "kleinen Lebenskreise"

begründet er klar und prägnant, daß menschliche Lebensfunktionen und Qualitäten wie Geborgenheit, Anerkennung, Solidarität, Eigenver-antwortung, Mitgefühl etc. ihnen entsprechende sozial-unmittelbare Or-ganisationsformen benötigen. "In der freiheitlichen Gemeinschaft, die die Würde des Menschen zur Grundlage hat, haben die kleineren und größeren Gemeinschaften nicht nur die Aufgabe, den sozialen Ort des Menschen zu bestimmen und die Selbstorganisation und Selbstanpas-sung der Gesellschaft zu ermöglichen. Sie haben zugleich die Aufgabe, zwischen dem einzelnen Menschen und dem Staat zu vermitteln. Der einzelne Mensch, jeder von uns als Person, kann den Staat als organi-siertes Ganzes nicht ,begreifen´, so wie wir den Nächsten verstehen können...Toleranz und Rücksichtnahme sind Kategorien zwischen-menschlicher Beziehungen. Sie sind auf das Verhältnis des einzelnen zur staatlichen Gewalt, zur staatlichen Organisation und damit zum Staat selbst nicht anwendbar...Die Bedingungen staatlicher Existenz und menschlichen Handelns sind deshalb nicht vergleichbar. Sie haben

190 Hölderlin, F., Hyperion oder der Eremit in Griechenland, in: Hölderlins Werke, Zweiter Band, Berlin/Weimar 1989, S. 100.

keine gemeinsame Ebene. Sie stehen sich fremd gegenüber. Sie müs-sen vermittelt werden. Die menschlichen Gemeinschaften, die Organi-sationen innerhalb der Gesellschaft, vor allem die kleinen Lebenskreise unterschiedlichster Art leisten diese Aufgabe...In der heutigen Wirklich-keit ist der Staat weit stärker in ein direktes Verhältnis zum einzelnen Menschen getreten, als es mit dem Wesen des Menschen und des frei-heitlichen Rechtsstaates vereinbar ist. Zugleich haben die kleinen Ge-meinschaften ihre Fähigkeit eingebüßt, dem einzelnen, in den Bindun-gen des Rechts, als Ort sozialer Identität zu dienen. Sie können da-durch nicht länger zwischen Mensch und Staat ,vermitteln´. Die Gesell-schaft wird dadurch nicht nur anonymer, sondern auch kälter und un-persönlicher. Toleranz und Rücksichtnahme gehen verloren. Es sind Eigenschaften, die man nur in der konkreten Erfahrung mit dem Näch-sten erwirbt. Beide, Mensch und Staat, nehmen mehr und mehr Scha-den: Der Mensch gefährdet seine Menschlichkeit, der Staat seine Handlungsfähigkeit. Die Neigung des Menschen zu Gewalttätigkeiten nimmt zu, die materielle Berechtigung des Staates zur Gewaltanwen-dung nimmt ab.

Der Ausweg aus dieser Gefährdung menschlicher Ordnung heißt: Wie-derbelebung der kleinen Lebenskreise. Nirgends ist dies wichtiger als im Bereich der sozialen Ordnung - die längst gesellschaftliche Ordnung geworden ist. Für den Menschen heißt dies: Verzicht auf den direkten Zugang zum Staat, um mit dessen Hilfe persönliche Interessen gegen-über anderen durchzusetzen, sowie stärkere Rücksichtnahme auf die eigenen Lebensgemeinschaften. Der Mensch muß lernen, mehr von seinem Mitmenschen zu ertragen als bisher. Gerade in den Bereichen der Gesellschaft, die von uns heute als ,alternative Gesellschaften´ be-zeichnet werden, ist dieser Lernprozeß in vollem Gange. Rücksicht und Toleranz als notwendige Voraussetzungen der Gemeinschaft müssen eingeübt werden. Ansprüche an den Staat müssen ersetzt werden durch den Ausgleich der Interessen in den kleinen Lebenskreisen und damit durch Vertrauen auf den Mitmenschen. Personale Solidarität ist ein Verhältnis des personalen Vertrauens. Hier beginnt die Ethik der Solidarität...die Zeit, da soziale Systeme zu Herrschaftssystemen

wer-den können, muß zu Ende gehen. Zur politischen und wirtschaftlichen Freiheit muß die soziale Freiheit treten."191

Auch die sich neu herausbildende sozialwissenschaftliche Theorietradi-tion des bisher vor allem in den USA verbreiteten Kommunitarismus zielt auf diese Defizite, auf die wiederzubelebenden Strukturen und menschlichen Potenzen dieser Zwischenebene. Die theoretische Ein-sicht geht dabei bis dahin, daß wirkliche menschliche Freiheit, d.h. die weitergehende Entfaltung der individuellen menschlichen Potenzen, zwar rechtlich-abstrakte Voraussetzungen braucht, doch erst im unmit-telbaren sozialen Feld der nur hier möglichen differenzierten Anerken-nung der jeweils besonderen individuellen Qualitäten sich verwirklichen kann.192

Ein konkretes Verständnis dieser Zwischenebene des Sozialen ist we-sentlich, um einen ganzheitlichen Begriff und eine wirkliche Praxis nachhaltiger Regionalität zu finden. Deshalb sei dieses Defizit im fol-genden, unter Bezug auf andere Wissenschaftler, noch deutlicher be-nannt.

Aus einer fast gegensätzlichen Theorie- und Praxistradition wie der oben ausgeführte Kurt Biedenkopf kommt Rudolf Bahro. Ihr gemeinsa-mes Grundverständnis an diesem speziellen Punkt verweist daher auf die Bedeutsamkeit des Themas. Aus dem gemeinsamen Schnittpunkt dieser Ebene initiierten beide ein praktisches Forschungsexperiment.193 Auch Bahro begründet, daß und inwiefern eine Wiederbelebung der von Biedenkopf als "kleine Lebenskreise" benannten sozialen Zwischen-struktureneine notwendige Bedingung nachhaltiger Entwicklung ist. Es braucht einer Vergesellschaftung in "Einheiten von überschaubarer Größe, so daß sie sich wesentlich auf unmittelbare Kommunikation zwi-schen Menzwi-schen gründen kann... Kleinere Einheiten sind auch notwen-dig, damit unsere Distanz zu den Gegenständen unseres Handelns,

191 Ebenda, S. 415ff.

192 Eine gute Zusammenfassung dazu siehe bei Honneth, A. (Hrsg.), Kommunitaris-mus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/Main 1993.

193 Zur Geschichte und Theorie dieser Praxis siehe Bahro, R. u.a., Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit, Berlin 1995.

Wünschens und Denkens wieder geringer wird. Ohne direkten prakti-schen Kontakt mit der konkreten Umwelt, die uns Heimat ist, erhalten wir kaum rechtzeitig die Rückmeldungen, die uns fühlbar dafür verant-wortlich machen, um uns herum das Gleichgewicht nicht zu stö-ren...Gerechtigkeit und Selbstverwirklichung können sich nur umfassend ereignen, wenn sich die Auseinandersetzung darüber wegverlagert von den materiellen Gegebenheiten und Interessen auf die seelisch-geistige Ebene“.194

Dieselben Gedanken, daß eine zukunftsfähige Kultur kleine Lebenskrei-se, wirkliche Gemeinden im Sinne echter sozialer Gemeischaften wie-derbeleben muß, finden sich beim Vater der modernen Kommunikation-stheorie, dem jüdischen Philosophen Martin Buber. Er argumentiert exi-stentiell: Die notwendige Erneuerung der Kultur kann "nirgendwo anders mehr herkommen als aus uns selber, aus unserm innersten Entschluß und unserer innersten Verwandlung..., nur noch aus der eigenen Wie-dergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde."195 Diese Gemein-den sieht er jedoch nicht als Rückfall in vormoderne Abhängigkeitsver-hältnisse, sondern als von innen, aus dem seelisch-sozialen Feld zwi-schen "Ich und Du" entspringende neue Qualität. "Ich rede nicht von Nähe, sondern von Beziehung. Das ist eine klare, aber sehr wichtige Unterscheidung. Keinesfalls stellt die bloße Zugehörigkeit zu einer Gruppe bereits eine wesenhafte Beziehung der Mitglieder untereinander dar...Die große Beziehung besteht nur zwischen echten Persönlichkei-ten. Zwar sagt ein Kind ,Du´, noch ehe es ,Ich´-Sagen lernt, aber auf der Höhe des persönlichen Erlebens muß ein Mensch erst wahrhaft ,Ich´ sagen können, um das Geheimnis des ,Du´ ganz wahr und echt zu erfassen." Weder die unpersönlichen, oft vom Affekt der Macht korrum-pierten politisch-parteilichen Formen, noch die sich im Herdenaffekt der Nähe von der gesellschaftlichen Entwicklung isolierenden Gruppen bieten dafür Räume. "Damit der Mensch nicht verlorengeht, brauchen wir Leute, die nicht im Kollektiv aufgegangen sind." Es gehe darum,

194 Bahro, R., Über kommunitäre Subsistenzwirtschaft und ihre Startbedingungen in den neuen Bundesländern, in: ebenda, S. 173ff.

195 Buber, M., Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Heidel-berg 1985, S. 262ff.

"mitten im Prozeß der Differenzierung...das Prinzip der Integrierung zu wahren."196

Ausgehend von einer durchdringenden Betrachtung der bisherigen Menschheitsgeschichte fand schon der Begründer der modernen So-ziologie, Ferdinand Tönnies, deutliche und warnende Worte zu einer nur noch in anonymen Großstrukturen funktionierenden Gesellschaft: "...da die gesamte Kultur in gesellschaftliche und staatliche Zivilisation umge-schlagen ist, so geht in dieser ihrer verwandelten Gestalt die Kultur sel-ber zu Ende; es sei denn, daß ihre zerstreuten Keime lebendig bleiben, daß Wesen und Ideen der Gemeinschaft wiederum genährt werden und neue Kultur innerhalb der untergehenden heimlich entfalten."197

Diese Argumentationen zum seelisch-sozialen Defizit moderner Gesell-schaft sprechen für sich, lösen jedoch noch nicht das Problem der prak-tischen Wiederbelebung bzw. Neukonstituierung dieser Zwischenebe-nen. Zum Teil von inspirativen Gedanken, zum Teil intuitiv aus innerem Gefühl motiviert, gibt es eine reiche Geschichte praktischer Versuche zur Wiederbelebung dieser verlorenen Dimension, die jedoch bisher keine befriedigenden und somit keine für größere Kreise relevanten Lö-sungen hervorbrachten. Ein Hauptgrund dafür sind die nicht aufgelösten theoretischen und praktischen Risse. So gerieten die praktischen Ent-wicklungsversuche immer wieder ins Abseits bloßer Gegenbewegungen und rückwärtsgewandter Isolation. Andererseits verblieb die theoreti-sche Soziologie verblieb weitgehend in der Abstraktheit der Großstruk-turen. Ausnahmen bilden die genannten übergreifenden Ordnungsge-danken Biedenkopfs und Bahros sowie die mit übergreifender Theorie verbundenen Ansätze des angloamerikanischen Kommunitarismus. In der deutschen Wissenschaft versuchten vor allem Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst dem Kommunitarismus verwandte integrative sozio-logische Theorieansätze.198

196 Buber, M., Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Heidel-berg 1985, S. 17ff.; zur Geschichte und Praxis der Kibbuzzim siehe auch bei: Busch-Lüty, Ch., Leben und Arbeiten im Kibbuz, Köln 1989.

197 Tönnies, F., Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1886, S.14ff.

198 Brumlik, M., H. Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1993.

Das Problem der praktischen Experimente wie auch der kommunitaristi-schen Theorien besteht darin, daß sie zwar die Zwikommunitaristi-schenebenen un-mittelbar sozialer Strukturen erneut ins Licht des Bewußtseins heben, jedoch zu einer Überbetonung bzw. isolierten Betrachtung dieser Schicht tendieren. Eine diese Zwischenebene in einen übergreifenden theoretischen Gesamtblick bewußt einbeziehende, die drei grundlegen-den Selbstorganisationsebenen konkret differenzierende und integrie-rende Theorie der Gesellschaft und ihrer nachhaltigen Entwicklung, welche über die eher intuitiven Ansätze von Steiner, Biedenkopf, Bahro und Homann hinausgeht, ist noch nicht entwickelt. Hier besteht eine dringende theoretische Aufgabe.