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Integration von Geist und Affekt: Neuer Bund und Recht

IV. Integrative Pfade zu einer nachhaltigen Entwicklung

2. Integration von Geist und Affekt: Neuer Bund und Recht

Triebe oder Affekte sind die selbstorganisierenden Regelkreise oder Referenzmodi des Tierreiches, welche dementsprechend auch im Men-schen biogenetisch angelegt, vererbt, wirksam sind. Ob organische Af-fekte wie Angst oder Hunger oder soziale AfAf-fekte wie Eifersucht, Neid oder Machttrieb, sie selbstorganisieren sich affektiv-unbewußt, d.h. sie werden im Normalfall kaum bewußt gelenkt, vielmehr passiv erlitten (siehe II.2.). Das darüber hinausgehende Menschliche, d.h. die höhere Selbstorganisations-ebene von Kultur oder Geist, entstand und entsteht in dem Maße, wie diese affektive Starre und Beschränktheit zuerst im Prozeß der biotischen Evolution plastisch und dann im Prozeß der kultu-rellen Evolution, mittels der höheren Potenzen Liebe, Wissen, Selbst und vermittelnder Artefakte, Symbole und Begriffe, zu neuen, komplexe-ren Struktukomplexe-ren sublimiert wurden. Tiefsichtige Denker wie Fichte oder Scheler sahen, daß diese Wechselwirkung und Entwicklung, die all-mähliche Durchdringung der affektiven Ebene durch den Geist, der tie-fere Sinn und Hintergrund der bisherigen Menschheitsgeschichte ist.200

200 Siehe Fichte, J.G., Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Fichtes Werke, Vierter Band, Felix-Meiner-Verlag Leipzig o.J., S. 393ff.; und Scheler, M., Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Späte Schriften, Bonn 1995, S. 7ff.

Dabei geschah und geschieht nicht nur eine allmähliche Weiterung des im Tierreich auf den Gesichtskreis des Affektes beschränkten Wahr-nehmungs- und Selbstorganisationshorizontes, sondern auch eine Ver-wandlung der innerpsychischen Strukturen. Diese durchläuft verschie-dene Stufen. Aus dem ersten Erschrecken des erwachenden Menschen über sein inneres Tierreich folgt meist zuerst der Versuch der Verleug-nung, Verdrängung und Unterdrückung der noch nicht frei integrierba-ren Affekte. Doch gemäß ontologischen Gesetzen (siehe II.2.) kann die höhere Selbstorganisationsstruktur des Geistes die niedere der Affekte zwar komplexer organisieren, aber nicht außer Kraft setzen. Die Versu-che der Unterdrückung und Verdrängung nutzen so zwar die subtileren Energien des Geistes, doch das Ergebnis ist keine Befreiung vom inne-ren Tierreich, sondern dessen bedrängte, neurotische Reaktion. Diesen historischen Schritt beschrieb Norbert Elias in seinem "Prozeß der Zivili-sation".201 Bereits Fichte sah darin einen unvermeidlichen Zwischen-schritt der Menschwerdung, er nannte es die "Bezähmung der Sinnlich-keit". Er kannte noch nicht die erst von Sigmund Freund geprägten Be-griffe zur Charakterisierung der aus der Bezähmung der Triebe folgen-den neurotischen un- und unterbewußten Strukturen, sah jedoch die katastrophalen, von ihm "Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit" ge-nannten Folgen dieser geistbewehrten Egozentrik.202 Hegel begriff es in seiner "Phänomenologie des Geistes" dann als "geistiges Tierreich".

Fichte sah voraus, daß aus diesen negativen Effekten tendenziell menschliche Selbsterkenntnis erwächst, und irgendwann, auf der Grundlage eines wissenderen und mit der Kunst des Handelns begab-ten Geistes, ein Zeitalter der Freiheit, oder, mit unseren Worbegab-ten, der vom Geist integrierten Sinnlichkeit entstehen kann.

Die Vordenker einer integralen Welt, insbesondere Sri Aurobindo und Rudolf Bahro (siehe I.4.2.), betonten ganz im selben Sinne, daß für die-se evolutionäre Möglichkeit die Erkenntnis von der Notwendigkeit und der ganzheitliche Vollzug einer inneren Selbstentwicklung des Men-schen, einer subjektiven, d.h. vom selbstbewußten Geist zu vollziehen-den Integration seiner Triebe, entscheivollziehen-dend ist.

201 Elias, N., Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/Main 1991.

202 Fichte, J.G., a.a.O., S. 405ff.

Geschieht dies nicht, werden die unerkannten inneren Schatten, die Selbstbeschränkungen der eigenen Befreiungssehnsüchte wie in bishe-rigen Befreiungsbewegungen und Revolutionen auf irgendeinen äuße-ren "Schuldigen" projiziert, geschieht nicht mehr als die ewige Wieder-holung der Dramen von Ideologie, Macht, Unterdrückung etc. in jeweils neuen Gewändern.

Die entscheidene Potenz zur Selbstbefreiung, darin sind sich alle gro-ßen Geister einig, liegt in der höchstintegrativen Energie- und Erkennt-nisform, die sich im Übergang vom Tier- zum Menschenreich zuerst naturgenetisch herausbildete und sich seitdem kulturell allmählich selbstentfaltet. Wie Vladimir Solovev in seinem "Sinn der Liebe" wun-derbar schrieb, bildet nur diese den subtilen Bereich der Mitte, den Übergang, die Integration von Trieb und Geist: "Die Kraft dieses geistig-körperlichen Schaffens im Menschen ist allein die Verwandlung oder die Wendung nach innen eben jener schöpferischen Kraft, die in der Natur, nach außen gewandt, die schlechte Unendlichkeit der physischen Ver-mehrung der Organismen hervorbringt."203

Geist und affektiver Trieb sind die beiden über dem Materiellen wirken-den Seinsebenen. Die hier in kurzen Zügen umrissene Problematik und Aufgabe einer inneren Integration der Seinsebenen Geist und Trieb ist deshalb die entscheidende für alle anderen, ob ökologischen, ökonomi-schen oder sozialen Probleme. Im Vergleich zu diesen, ontologisch un-tergeordneten, Problemen wird ihr jedoch bisher nur eine marginale ge-sellschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Die notwendige innere Integration ist nicht, wie in Ahnung ihrer Bedeutung manche Gesellschaftssysteme durch ideologische Erziehungssysteme bewirken wollten, von außen induzierbar (siehe II.2.9.). Wie der Geist als Integration zwischen Indivi-duum und Universum, so ist und bleibt auch die Integration der Sinn-lichkeit eine vor allem individuell-subjektive, nur in innerer und möglichst auch in äußerer Freiheit realisierbare Aufgabe. Doch die Bedingungen und Anregungen dafür, ob gelegentlich zufällig einige oder strukturell begünstigt viele Individuen diese Qualität erlangen, dürfte durch die Ge-staltung entsprechender gesellschaftlicher Freiräume bedingt sein.

Diese Strukturgestaltung der Außenwelt aber bleibt abhängig von einer Erneuerung der Innenwelt und von der Fähigkeit zur Integration beider.

203 V. Solovev, Der Sinn der Liebe, Hamburg 1985, S. 67.

Die Freiheit eines souveränen Umgangs mit dem eigenen inneren Tier-reich, d.h. der Selbstentwicklungsstand eines freien Menschen, wurde bisher nur von relativ wenigen, deshalb oft als maßgebende Menschen ins Menschheitsgedächtnis eingegangenen Individuen, wie z.B. Laotse, Sokrates, Jesus oder Hildegard von Bingen vorbildlich erreicht.204

Falls irgendwann eine kritische Masse menschlicher Individuen diese innere Freiheit erlangt, ist eine neue Qualität menschlicher und damit gesellschaftlicher und ökologischer Selbstorganisation denkbar. Auch dann wird der Mensch kein ausschließlich gutes, d.h. kein rein geistiges Wesen; seine innere Vielschichtigkeit und deren geistvolle Integration bleibt jedem Individuum immer wieder neu zu vollziehende Aufgabe.

Daher wird die in der bisherigen Geschichte zur komplexen Selbstorga-nisation und zum Selbstschutz der komplexen gesellschaftlichen Ord-nung vor affektiven Beschränkungen hervorgebrachte Staats- und Rechtsstruktur auch in einer freieren, menschlich entfalteten, subjektive-ren Gesellschaft nicht aufgelöst werden. Diese gesellschaftlichen For-men bleiben notwendige Vermittlungs- und Entwicklungsfelder für das in jedem Individuum neu zu entfaltende Spiel zwischen Affekten und Hu-manitas.

Der Bios, die affektiven Tendenzen oder Schwächen, gehören zum Menschen. Nicht moralische Überforderungen, sondern strukturelle Chancen zur Entwicklung der inneren Freiheit sind der einzig mögliche Lösungsweg für all die daraus erwachsenden gesellschaftlichen Pro-bleme. Auch zur Lösung der drängenden Umweltprobleme ist auf diese Formen nicht zu verzichten. Bernhard Verbeek zeigt in seiner „Anthro-pologie der Umweltzerstörung“, wie sehr diese Zerstörung aus uninte-grierten affektiven Impulsen erwächst und empfiehlt dafür vielfältige, deren ungehemmten Übergriff verhindernde gesellschaftliche Regel-mechnismen.205

Alle diese steuerlichen und rechtlichen Strukturen sind erforderlich.

Doch wird der Schwerpunkt ausschließlich darauf gelegt, so wird damit vergessen oder verdrängt, daß die Erfindung und auch die strukturelle Verwirklichung dieser Formen bereits die Wirkung SUBJEKTIVER

204 Siehe dazu Jaspers, K., Die maßgebenden Menschen, München 1964.

205 Verbeek, B., Die Anthropologie der Umweltzerstörung, Darmstadt 1994.

menschlicher Qualitäten voraussetzt; d.h. es bedarf der Voraussetzung einer kritischen Masse freier und selbstverantwortlicher Individuen.

Eine neue, mehr als je bisher vom menschlichen Geist, von Liebe und Wissen integrierte gesellschaftliche Ordnung scheint deshalb nicht nur möglich sondern historisch notwendig. Die Vordenker eines integralen Zeitalters, Jean Gebser, Sri Aurobindo und Rudolf Bahro, gaben dafür wichtige, wenn auch von der möglichen Realität selbst sicher vielfach gebrochene, konkretisierte Hinweise (siehe I.4.2.).

Für die Selbstorganisation einer solchen freieren Ordnung wird die Aus-bildung entsprechender intersubjektiver oder kommunikativer Kenntnis-se, Fähigkeiten und Strukturen sehr bedeutsam sein. Theorien und Pra-xisansätze affektfreier, d.h. vor allem machtfreier Kommunikation und Assoziation erhalten deshalb wachsende Bedeutung. Entgegen der ge-genwärtigen, aus einem Bild subjektloser Humanität gedachten Kom-munikationstheorie, bedarf es dazu jedoch der Kompetenz der innerin-dividuellen Integration, d.h. der freien SUBJEKTIVITÄT (siehe I.3.2.).

Auf der menschlichen Basis einer kritischen Menge freier Individualität könnte jener neue Bund entstehen, dessen Zustandekommen Carl Amery als das entscheidende Faktum menschlicher Zukunft erachtet.206 Wie Joachim von Fiore schaute, könnte und müßte er auf neuer be-wußter Ebene die Funktion der geistgeleiteten Integration der Affekt-struktur übernehmen, für welche die bisherigen großen geistig-religiösen Epochen - die des autoritär-projizierten Vatergottes und die des menschlichen, aber stellvertretend-fernen Beispiels des Gottessoh-nes - zwar jeweils Lösungs- und Bewegungsformen boten, die jedoch für die menschlichen Individuen noch mehr oder weniger unfrei blieben und damit zugleich subjektbehindernd wirkten.

Die bisherigen geschichtlichen Versuche eines solchen Bundes - so-wohl die christliche Kirche als auch die sozialistischen Parteien ent-sprangen dieser Intention - vollbrachten bisher kein klares Bewußtsein ihrer selbst und scheiterten deshalb immer wieder in den Fangarmen unbewußter, trotz hehrer Ideale von beschränkten Trieben bestimmter Nebenzwecke und Ideologien. Eine Transzendenz dieser bisherigen Vorgeschichte könnte möglich werden, wenn sich ein neuer Bund mit

206 Amery, C., Die Botschaft des Jahrtausends, München 1994.

vollem Bewußtsein seiner selbst bildet. Dies erfordert vor allem ein im-mer wieder zu vergegenwärtigendes Wissen seiner Brückenbestim-mung: Die tiefste oder höchste, unendliche Sehnsucht und Inspiration unendlich generierende Quelle des Bundes ist der universelle Geist selbst. Sein unendliches Wirkungsfeld aber ist die notwendig be-schränkte Wirklichkeit der anderen Seinsebenen. Hier hat ein in sich weiterer Bund nicht die notwendig beschränkten Zwecke staatlicher oder familiärer Aufgaben zu erledigen, als vielmehr dafür zu sorgen, daß sie nicht immer wieder an den affektiven Beschränkungen zugrun-de gehen, d.h. daß soziale Räume für die geistige Entwicklung zugrun-der an-deren, weniger weiten Mitmenschen offen bleib.

In der heutigen Zeit, da infolge einer das Geistige verdrängenden Epo-che die ausufernden beschränkten Zwecke sogar die allgemeinen Le-bensgrundlagen bedrohen, hat sich dieser Bund auch auf diesem Feld, d.h. bei der Neukonstituierung einer nachhaltigen Wirtschaftsform, zu bewähren.