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Wechselwirkung zwischen Erleben, Erinnerung und biographischer

E. Abschließende Bemerkung

2. Wechselwirkung zwischen Erleben, Erinnerung und biographischer

Nach der Befreiung folgte für die meisten Überlebenden eine lange Zeit des Ver-drängens, die auf zwei Gründe zurückzuführen ist. Einerseits war angesichts der schmerzlichen Last der Erinnerung das Bedürfnis nach Normalisierung groß. Anderer-seits weigerte sich häufig ihr soziales Umfeld, sich mit ihren Erlebnissen aus-einanderzusetzen. In den sozialistischen Ländern wurde zwar der Antifaschismus groß-geschrieben, aber Opfer des Nationalsozialismus wurden lediglich unter dem Aspekt des politischen Widerstands gewürdigt, während hingegen eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal der ,rassisch‘ Verfolgten unterblieb. Das Schweigen über die eigene Per-son war also auch eine notwendige Bedingung für die Reintegration ins ,normale‘ Le-ben, wollte man die Kommunikation mit dem Umfeld aufrechterhalten. Neben dem ge-ringen Interesse an ihren Schicksalen kam die Schwierigkeit hinzu, einem Außen-stehenden die Erfahrungen der extremen Verfolgung überhaupt vermitteln zu können.

Beides war für viele ein Grund, einen jüdischen Ehepartner zu suchen, der diese Erfah-rungen teilte, man denke an Eva, Marta und L. Jirka hingegen wählte einen anderen Weg des Neubeginns – politisches Engagement in den Reihen der Kommunisten – , der völlig fehlschlug, da er ausgerechnet von denjenigen, die er für Garanten einer egali-tären antifaschistischen Gesellschaft gehalten hatte, erneut aufgrund seiner jüdischen Herkunft verfolgt wurde. Erst die Heirat mit einer nichtjüdischen Tschechin und Prole-tarierin ermöglichte ihm eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft.

Aufgrund der Schwere der traumatischen Erfahrung und ihrer physischen und psychi-schen Folgen begannen viele Überlebende erst mit dem „stabilisierenden Gegengewicht von ungefähr 40 Jahren“,370 über ihre Erlebnisse zu sprechen. Hinzu kam, daß mit dem Wegfall der ideologischen Schranken seit 1989 eine verstärkte Forschungstätigkeit über den Holocaust und jüdische Themen einsetzte und parallel dazu weltweit das Interesse der Öffentlichkeit an der Shoah zunahm.371 Zwei Projekte, die Shoah Foundation und

370 MEYER, BEATE Projekt „Hamburger Lebensläufe – Werkstatt der Erinnerung“. Eine Zwischenbi-lanz, in: BIOS 7 (1994), Heft 1, S. 120-134, hier S. 121.

371 In der westlichen Welt gab es drei Phasen, in denen Holocaust-Überlebende öffentlich zu Wort kamen: zunächst unmittelbar nach 1945, allerdings hielt das Interesse nicht sehr lange an. Ein zwei-tes Mal 1960 im Rahmen des Eichmann-Prozesses, und das dritte Mal 1978, als die amerikanische Serie „Holocaust“ weltweit heftige Reaktionen und infolgedessen eine stärkere Auseinandersetzung mit der Shoah hervorrief. Um den Überlebenden die Möglichkeit zum Sprechen zu geben, entstand daraufhin beispielsweise das Video-Projekt in Yale. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der deutschen Wiedervereinigung kam es zu einer weiteren Expansion der Beschäftigung mit der Shoah, und im Zusammenhang mit Spielbergs Film „Schindlers Liste“ entstand ein weiteres

Vi-die systematische Sammlung des Jüdischen Museums in Prag, begannen nun, sich für die Erinnerungen der tschechischen Juden zu interessieren. Die hohe Bereitschaft sei-tens der Überlebenden, öffentlich Zeugnis abzulegen, entspringt meist dem Gefühl, es den ermordeten Familienmitgliedern und Freunden schuldig zu sein.372 Zwar wird dieses Anliegen in den Interviews nur von Marta explizit formuliert, aber Jirkas verstärktes Interesse an der jüdischen Vergangenheit und seine Publikationstätigkeit, Evas Bemühungen um die Veröffentlichung ihres Theresienstädter Tagebuchs, das die ersten zwanzig Jahre nach Kriegsende auf dem Boden des Wäschekorbs versteckt lag, und die Bereitschaft aller, nicht nur mir, sondern auch Spielberg bzw. dem Jüdischen Museum Interviews zu gewähren, stützt diese Vermutung.

Trotz des langen zeitlichen Abstands sind die traumatischen Erfahrungen heute nach wie vor schmerzhaft präsent.373 Im Gegenteil, gerade im Alter werden die Erinnerungen infolge der körperlichen Veränderungen und dem damit verbundenen Gefühl der Schwäche und Hilflosigkeit noch drängender.374 Viele Erfahrungen sind nicht erzählbar, da sie zu schmerzhaft und oft nicht mit dem heutigen Selbstverständnis in Einklang zu bringen sind. Die KZ-Erlebnisse widersprechen häufig den gängigen (eigenen wie ge-sellschaftlichen) Moralvorstellungen, weshalb es sehr schwer fällt, diese zu thematisie-ren, ohne das eigene Scham- und Ehrgefühl zu verletzen.375

deo-Projekt, die Shoah-Foundation, die sich vornahm, weltweit die Erinnerungen der Überlebenden aufzuzeichnen. Vgl. hierzu Anm. 187.

372 Pollak schreibt in dem Zusammenhang, daß sich die Überlebenden stets in dem Dilemma befanden, sich einerseits den ermordeten Verwandten gegenüber verpflichtet zu fühlen, die Erinnerung an sie und das an ihnen verübte Verbrechen zu wahren, andererseits um des eigenen Überlebens willen diese Erinnerungen verdrängen zu müssen: „Nur wer das KZ überlebt hat, kann ein glaubwürdiger Zeuge sein, aber die Vergangenheit vergessen oder nicht öffentlich über sie reden wollen ist unter Umständen eine Bedingung für ihre Überwindung.“ POLLAK Grenzen des Sagbaren, S. 89.

373 Laut Geoffrey Hartman dient die Erinnerung dazu, den Verlust der Zeit vor der Verfolgung aufgrund des Fehlens von Fotos oder persönlichen Gegenständen der ermordeten Verwandten zu kompensieren und gleichzeitig im Prozeß des Trauerns der Ermordeten zu gedenken. Deshalb sind die Erinnerungen auch nach fünfzig Jahren noch so intensiv wie unmittelbar nach Kriegsende:

„Aber die allgemeine Genauigkeit des Erinnerns ist erstaunlich: man hat vermutet, daß die Überlebenden in Abwesenheit materieller Überbleibsel aus ihrem vorherigen Leben (wie zum Beispiel Fotos oder persönliche Gegenstände, mit denen sie etwas verbanden) jedes Bruchstück an Erinnerung wie einen Schatz hüteten. Der Möglichkeit beraubt, Beerdigungen und förmliche Rituale abzuhalten, mag gerade die Schmerzhaftigkeit ihrer Erinnerungen zu einem für die Trauerarbeit wichtigen Identitätsmal geworden sein, das auch in der Zeit nach der Befreiung weiterwirkte.“

HARTMAN Von Überlebenden lernen, S. 198.

374 Sie stehen zudem in einer Lebensphase, die ihre ermordeten Verwandten nie erreichen konnten, was ihren frühen Tod und den Abbruch der Generationenfolge um so schmerzlicher ins Bewußtsein treten läßt. Vgl. LEZZI, EVA Leben und Älter werden, S. 392., sowie Marta N., Anm. 210.

375 „Wird das Verhalten im KZ auch nur implizit mit der Elle der herrschenden Moral gemessen, müs-sen sich letztlich die ,Überlebenden‘ mit der unhaltbaren Erwartung auseinandersetzen, daß sie sich wie Helden verhalten und damit nicht nur überlebt, sondern auch ihre Würde gewahrt haben sollen.

Die bloße Antizipation eines solchen Anspruchs macht jede Kommunikation über das KZ äußerst schwierig.“ POLLAK, S. 165.

Obwohl es den Überlebenden aus diesen Gründen schwer fällt, direkt über trauma-tische Erlebnisse zu sprechen, sind es gerade diese, die ihre Erinnerung prägen, und sich demzufolge in der Erzählstruktur niederschlagen. Die Erinnerung, so wurde im ersten Kapitel erläutert, konstituiert sich aus biographisch bedeutsamen Erlebnissen, wobei sie je nach Gegenwartsperspektive umgedeutet werden. Traumatische Erfahrungen bleiben nicht nur unvergeßlich, sondern sie sind so prägend, daß die Betroffenen sich ihnen ein Leben lang meist nicht entziehen können:

„Als traumatisch im psychologischen Sinne soll ein Ereignis bezeichnet werden, das die Lebensgeschichte bzw. das subjektive Zeitbewußtsein nachhaltig stört; der Betroffene leidet an Reminiszenzen, an einer Vergangenheit, die nicht vergeht. Das Ereignis ist zumeist so gravierend, daß es zunächst verdrängt wird, es bleibt dann latent, bis es durch einen späteren Anlaß wieder aktualisiert wird.“376

Daher fällt es den Überlebenden schwer, ihr Leben als sinnvolles Ganzes darzustellen und die Shoah-Erfahrung in ihr Selbstbild zu integrieren:

„Die Verfolgung, die physische und psychische Vernichtung ihres Lebensumfelds und von Teilen ihrer selbst zerstörte ihr Kontinuitätsgefühl nachhaltig. Die erlebte Lebensgeschichte bietet sich diesen Menschen als „zerrissene“ und fragmentarische dar, und ein Zusammenhang zwischen einzelnen Lebensphasen – und das bedeutet hier:

zwischen der Zeit vor der Verfolgung, der Verfolgungszeit und der Zeit nach dem Überlebthaben – kann nur schwer hergestellt werden.“377

Die Analyse der vorliegenden Interviews hat zwei biographische Grundtypen ergeben, nämlich Jirka und L. auf der einen, und Eva und Marta auf der anderen Seite, deren bio-graphische Selbstdarstellung sich wesentlich unterscheidet aufgrund der Tatsache, daß erstere nicht ihre gesamte Familie durch die Shoah verloren haben und daher im Gegen-satz zu Eva und Marta Vor- und Nachkriegszeit miteinander verknüpfen können. So schaffen beide ein kontinuierliches Selbstbild, in dem sie als engagierte aktive Persön-lichkeiten erscheinen. Die Verfolgungszeit steht dazu in einem radikalen Gegensatz, weshalb sie versuchen, die traumatische Erfahrung der Entmenschlichung und des völ-ligen Ausgeliefertseins zu umschiffen. Dabei entwickeln sie unterschiedliche Strategien.

376 Trauma-Modell aus dem Kontext der Freudschen Psychoanalyse, aus: NOLTE, HELMUT Das Trauma des Genozids und die Institutionalisierung der Erinnerung, in: BIOS 5 (1992), Heft 1, S. 83-93, hier S. 88.

377 ROSENTHAL Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 120f.

Jirka hält die Phase der Verfolgung äußerst knapp, verzichtet fast ganz auf schmerzhafte oder erniedrigende Details und widmet sich in wesentlich größerem Umfang seinem po-litischen und beruflichen Werdegang vor und nach dem Krieg, was natürlich auch damit zusammenhängt, daß er in diesen Bereichen wegen seiner Herkunft erneut Opfer staatlicher Verfolgung wurde. L. hingegen schildert ihre KZ-Erfahrungen sehr ausführ-lich und stellt sich dabei selbst als handelndes Individuum in den Vordergrund, das selbst in Momenten äußerster Entmenschlichung um Eigeninitiative und Fürsorge für Hilfsbedürftige bemüht war. Gleichzeitig vermeidet sie es, besonders schmerzhafte Er-lebnisse, wie die Ermordung ihres Vaters, direkt auszusprechen. Dieses Selbstbild einer engagierten Person deutet sie in der Schilderung der Vorkriegszeit bereits an, um nach 1945 darauf aufzubauen.378 Außerdem fällt im Vergleich mit Eva und Marta bei beiden auf, daß sie moralische Konflikte im Lager gar nicht thematisieren.379

So versuchen sie, den Bruch, den die Shoah für ihre Biographie bedeutete, zu umge-hen, indem sie sich in ihrer Erzählung mit verschiedenen Mitteln darum bemüumge-hen, diese Phase trotzdem in ihre Biographie zu integrieren.

Für Eva und Marta hingegen ist nach 1945 keine Möglichkeit gegeben, an die Vor-kriegszeit anzuknüpfen, denn diese wurde mit ihren Familien zusammen ausgelöscht.

Entsprechend erscheint dieser Zeitraum lediglich als ungetrübtes Ganzes, das im völ-ligen Kontrast steht zu dem, was danach kam. Die Schilderung der Verfolgung läuft ent-sprechend auf den Endpunkt Herbsttransporte zu, der die familiäre Einheit für immer zerstörte, und nach Kriegsende ist die Gründung einer neuen Familie für sie die einzige Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen und den Verlust der Angehörigen zu über-winden. Durch diesen Bruch mit der Vergangenheit ist es für sie unmöglich, ihre Lebensgeschichte in einen kontinuierlichen Sinnzusammenhang zu bringen, sondern sie zerfällt in ein ,Vorher‘ und ,Nachher‘. Man kann daher von einer zerbrochenen Identität sprechen, da sie im Gegensatz zu Jirka und L. nicht einmal Vor- und Nachkriegszeit miteinander in Einklang bringen können.

Trotz dieser zwei unterschiedlichen Grundtypen kann man mit Rosenthal für alle vier Interviewpartner konstatieren, daß sie „ihr Leben nur im Referenzrahmen der Shoah

se-378 Wie bei den anderen Frauen steht zwar auch bei L. die Familie im Mittelpunkt der Darstellung, aber sie betont stark ihren Beitrag zu Existenzsicherung, denn neben der Verfolgungserfahrung ist sicher-lich der frühe Tod ihres Mannes mitverantwortsicher-lich für ihre Überzeugung, daß man sich im Leben stets nur auf sich selbst verlassen kann.

379 Man denke an Martas Konflikt mit dem Diebstahl der Eßschale und Evas Notlüge, die für ihren Be-kannten so fatale Folgen hat.

hen“380 können.381 Dies zeigt sich auch sehr deutlich in der Beschaffenheit ihrer sozialen Identität.

3. Soziale Identität

Vor der Verfolgung stellte für keinen der Interviewpartner ihr Judentum in sozialer Hin-sicht eine wesentliche identitätsstiftende Komponente dar. Unabhängig vom ethnischen Umfeld waren alle vier sehr assimiliert, hatten jüdische wie nichtjüdische Freunde, und die jüdische Religion spielte eine vollkommen marginale Rolle. Doch durch die Rassen-ideologie der Nationalsozialisten wurden sie auf einmal zu einer Zwangsgemeinschaft, die auf die ethnische bzw. rassische Kategorie des ,Jüdischseins‘ reduziert und kollektiv zum Tode verurteilt wurde. Somit stellte das Judentum für sie vorrangig eine gewalt-same äußere Fremdzuschreibung mit fatalen Folgen dar. Entsprechend fand auch in den Lagern keine Identifikation mit dem Judentum statt, sondern man identifizierte sich mit dem tschechischen Häftlingskollektiv. Nach der Befreiung wurde noch mehr als vor der Okkupation Wert auf ein völliges Aufgehen in der tschechischen Gesellschaft gelegt, um sich durch nichts von den nichtjüdischen Mitbürgern zu unterscheiden. Sympto-matisch hierfür war die Änderung der deutschen Nachnamen in tschechische, die Jirka und Marta vornahmen, der von Eva artikulierte Umstand, daß sie ihre Kinder ganz ,nor-mal‘, d.h. nicht als Juden erzogen hat, um ihnen das Gefühl des Andersseins zu erspa-ren, und die jahrelange Verdrängung der Vergangenheit um ihrer selbst und auch um der Kinder willen, wie sie Marta und Jirka zum Ausdruck bringen. Trotzdem bilden sie erzwungenermaßen eine Schicksalsgemeinschaft, die sie ihr ganzes weiteres Leben mit anderen jüdischen Überlebenden auf besondere Weise verbindet, was Jirka, wie zitiert wurde, sogar selbst explizit ausspricht und bei den drei Frauen vor allem dadurch deut-lich wird, daß sie alle drei nach dem Krieg jüdische Männer geheiratet haben, obwohl das ,Jüdischsein‘ vor der Verfolgungszeit kein Kriterium für die Partnerwahl darstellte.

Zudem taucht bei allen in der Schilderung der Nachkriegszeit in verschiedenen Kontex-ten ein ,wir‘ der Überlebenden auf.

380 ROSENTHAL Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 126.

381 Zwar thematisieren Jirka und L. auch andere biographische Erlebnisse aus Vor- und Nachkriegszeit, doch auch diese stehen im Kontext ihres Selbstbildes, das maßgeblich von der Shoah gepägt ist. So spielt der Kommunismus für Jirka bereits vor dem Krieg eine wichtige Rolle, aber seine KZ-Erfah-rung ist es, die ihn darin bestärkt und in späteren Krisensituationen die alte Verfolgungsangst wieder hochkommen läßt. Und der von L. so ausdrücklich betonte katholische Religionsunterricht auf dem Lande ist vorrangig in Hinblick auf ihren späteren Emigrationsversuch von Bedeutung.