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B. Theorie

1. Mündliche Quellen in der deutschen Geschichtswissenschaft

1.2. Die deutsche Historiographie nach 1945

Auch nach 1945 kam es in der westdeutschen Historiographie zu keinen wesentlichen methodischen Neuerungen. Niethammer sieht dafür folgende Gründe: Zum einen zeigte sich im Zusammenhang mit der Entnazifizierung, und auch zum Teil in Memoiren, die

11 Vgl. hierzu BRIESEN / GANS, S. 12f.

12 Ebenda, S. 2.

13 Vgl. hierzu SIEDER, REINHARD Bemerkungen zur Verwendung des „Narrativinterviews“ für eine Geschichte des Alltags, in: Zeitgeschichte 9 (1982), S. 164-178, hier S. 166, sowie BOTZ, GERHARD Neueste Geschichte zwischen Quantifizierung und „Mündlicher Geschichte“. Überlegungen zur Kon-stituierung einer sozialwissenschaftlichen Zeitgeschichte von neuen Quellen und Methoden her, in:

Botz, Gerhard (Hg.): „Qualität und Quantität“: zur Praxis der Methoden der historischen Sozialwis-senschaft, Frankfurt a. M. / New York 1988, S. 13-42, hier S. 24f. (Studien zur historischen Sozial-wissenschaft Bd. 10).

14 BOTZ, S. 18.

15 Vgl. IGGERS, GEORG G. Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 8f., sowie Handbuch Qualitative Sozialforschung, hrsg. von Flick, U. / Kardoff, E.v. / Keupp, H. / Rosenstiel, L.v. / Wolff, S., München 1991, S. 48.

Unzuverlässigkeit der Erinnerungen bezüglich des Nationalsozialismus, da sie von per-sönlichen Rechtfertigungsversuchen und Verdrängungsmechanismen durchzogen waren. „Dadurch wurde die Erinnerung als zeitgeschichtliche Quelle stigmatisiert, obwohl sich an vielen Stellen Berge von Zeugenschrifttum auftürmten.“16 Man war bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus auch nicht notwendig auf dieses Material angewiesen, da man in völlig neuem Umfang auf traditionelle archivalische Quellen aus den Reihen der politischen Entscheidungsträger zurückgreifen konnte.17

Aber nicht nur die umfangreiche Aktenlage und die Unzuverlässigkeit von Zeitzeu-generinnerungen begründeten die Ablehnung erfahrungsgeschichtlicher Methoden.

Vielmehr wird auch die nicht ganz einwandfreie Vergangenheit mancher führender Per-sönlichkeiten und Historiker der jungen BRD eine Rolle gespielt haben:

„Die Repräsentanten der frühen Nachkriegszeit, nicht nur die Historiker und Archivare, konnten wenig Interesse an solchen Themen haben, weil das Dritte Reich als Vorerfahrung und damit als Vorgeschichte der beiden deutschen Nachkriegsstaaten hätte behandelt wer-den müssen – vielleicht auch sie selbst.“18

Insofern zeigten nicht nur Memoirenschreiber und Entnazifizierungskandidaten Ver-drängungserscheinungen, sondern im Gegenteil herrschte in den ,Wirtschaftswunder-jahren‘ in den deutschen Eliten weitestgehender Konsens da-rüber, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus hinsichtlich der Rolle breiter Bevölkerungsschichten wurde „teils aus nationalapologetischen Gründen, teils um innenpolitische Auseinandersetzungen über die Trägerschichten des Dritten Reichs zu vermeiden“,19 abgelehnt. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus wurde vielmehr auf die Person Hitlers und die ihn umgebenden Führungskreise reduziert.20 Erst mit der Studentenbewegung der 68er wurde die Frage nach der

national-16 NIETHAMMER, LUTZ Einführung, in: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis – Die Praxis der „Oral History“, Frankfurt a. M. 1985, S. 7-33, hier S. 12.

17 Niethammer meint damit, daß erst durch den Niedergang eines Regimes Aktenbestände zugänglich werden, die Einblicke in innere Funktionsmechanismen gewähren. Dies war nach dem Zusam-menbruch des Nationalsozialismus der Fall, so daß man keine neuen Forschungsmethoden brauchte:

„zur Entwicklung spezifisch zeitgeschichtlicher Dokumentationsmethoden sind die Zeithistoriker erst gezwungen, seitdem sie sich verstärkt auch der Nachkriegszeit zugewandt haben und sich dabei den unter den Bedingungen der Herrschaftskontinuität üblichen Verweigerungen des Einblicks in die ar-cana imperii gegenüberfanden.“ (NIETHAMMER Einführung, S. 13) Dies war aber sicherlich nicht der einzige Auslöser für die Hinwendung zur Oral History.

18 VON PLATO, ALEXANDER Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der „mündlichen Ge-schichte“ in Deutschland, in: BIOS 4 (1991), Heft 1, S. 97-119, hier S. 100.

19 NIETHAMMER Einführung, S. 12.

sozialistischen Verstrickung der Väter-Generation öffentlich eingefordert.21

Der sich daraufhin in den siebziger Jahren etablierenden historischen Sozialwissen-schaft gelang es, die Dominanz der ereignis- und personenzentrierten Politikgeschichte zu durchbrechen und die einseitige Fixierung auf die nationalsozialistische Führungs-clique zugunsten der Untersuchung bisher nicht thematisierter struktureller und insti-tutioneller Kontinuitäten zu überwinden.22 Im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses standen sozial- und strukturgeschichtliche Fragestellungen wie die Sozialstruktur von Massenparteien oder die Wirkungsgeschichte bürokratischer Organisationen. In metho-discher Hinsicht distanzierten sich ihre Vertreter vom qualitativ verstehenden Zugang und suchten Anlehnung bei den Methoden der quantitativ-analytischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.23

Dennoch hatte die historische Sozialwissenschaft etwas mit der traditionellen Politik-geschichte gemeinsam: die Orientierung an Herrschafts- und Steuerungsmechanismen der Gesellschaft. An die Stelle von Ereignissen und Personen traten Institutionen und soziale Kollektive wie Klassen und Schichten.

In beiden historischen Forschungsrichtungen fehlte die Perspektive der Betroffenen, die Alltagserfahrung des ,Volkes‘, das subjektive Erleben von Geschichte, was zum einen natürlich mit ihrem Erkenntnisinteresse, zum anderen aber auch mit dem ausge-werteten, nur auf schriftlichen Quellen beruhenden Material zusammenhing, das die Perspektive der einfachen Bevölkerung nicht hergab. Neuere sozialgeschichtliche For-schungsansätze, denen an einer ,Geschichte von unten‘, d.h. der bisher von der offi-ziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen Gesellschaftsgruppen, gelegen war, orientierten sich daher an ausländischen Vorbildern, die bereits seit längerem die

Pro-20 Vgl. KÖLSCH, JULIA Nation heißt: sich erinnern...?, in: Nassehi, A. (Hg.): Nation, Ethnie, Minderheit, Köln 1997, S. 287-307, hier S. 291.

21 „Der allgemeine Konsens war einer der Verdrängung und des Vergessens. Die Generation derer, die den Nationalsozialismus als Erwachsene erlebt hatten, beherrschte noch immer das öffentliche Leben.

[...] Mitte der 1960er Jahre erschütterte eine erste Welle von Diskussionen diese Abwehrmauern. Die Generation derer, die während oder gegen Ende des Krieges geboren worden waren, rückte nun ins Licht der Öffentlichkeit; die Studentenrevolten der späten 60er Jahre und ihre Folgeerscheinungen stellten viele Aspekte der zeitgenössischen Kultur ebenso in Frage wie den allgemeinen Konsens der Lügen über die nationalsozialistische Epoche.“ FRIEDLÄNDER, SAUL Auseinandersetzung mit der Shoah: Einige Überlegungen zum Thema Erinnerung und Geschichte, in: Geschichtsdiskurs Bd. 5, Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt a. M. 1999, S. 15-29, hier S. 16f.

22 Vgl. WELSKOPP, THOMAS Westbindung auf dem „Sonderweg“. Die deutsche Sozialgeschichte vom Appendix der Wirtschaftsgeschichte zur Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichtsdiskurs Bd.

5, S. 191-237.

23 Als wesentliche Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft sind Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka zu nennen. Vgl. hierzu IGGERS, S. 55ff.

duktion von mündlichen Quellen für diese Zwecke nutzten. In den USA diente diese Methode unter anderem zur Erforschung der Geschichte nichtschriftlicher Kulturen, z.B. der Indianer und schwarzen Sklaven. In England und Frankreich wurde die Inter-viewpraxis vor allem mit alltags- und erfahrungsgeschichtlichen Fragestellungen ver-bunden und vorwiegend auf die Geschichte der sog. ,kleinen Leute‘ angewandt.24

Vorreiter der Oral History in Deutschland wurde eine Gruppe von Historikern um Niethammer, der mit seinem bereits erwähnten Artikel diese Methode hierzulande bekanntmachte. Sie starteten ein breit angelegtes Projekt zur Untersuchung der Faschis-mus-Erfahrung unter Arbeitern im Ruhrgebiet, dessen Ergebnisse in drei Bänden ver-öffentlicht wurden.25 Daneben waren es vor allem die Geschichtswerkstätten, die began-nen, mit Hilfe von Interviews lokalhistorische Aspekte der NS-Zeit aufzuarbeiten.26

Parallel zur Verbreitung der Oral History in den Geschichtswissenschaften entstand seit Ende der siebziger Jahre in der Soziologie als Reaktion auf die Dominanz des posi-tivistischen Forschungsbetriebs die sogenannte Biographieforschung, die auf der Basis von lebensgeschichtlichen Interviews versucht, soziale Milieus und soziales Handeln zu rekonstruieren.27